Donnerstag, 8. Dezember 2005

pfefferminztee.

Von allen Seiten her muss Herr Tobler Blicke in Kauf nehmen; sein quadratischer Tisch steht mitten im Raum. Normalerweise sitzt er am grossen Fenster. Nun war nur dieser Tisch noch ganz frei. Denn – jemanden an den grossen Tischen mit den vielen freien Plätzen anzusprechen, das hat Herr Tobler sich nicht gewagt. Er weiss, dass die Leute, die dort sitzen, sich nicht wirklich kennen, doch zugleich scheint ihm eindeutig, dass sie sich eben doch alle irgendwie bekannt sein müssen. Er hingegen hat keinerlei Anknüpfungspunkte zu bieten.

Er ist gerade mit dem Zug angekommen und hatte eigentlich keine Lust mehr darauf, Leute zu sehen, mochte aber auch nicht heimgehen. Ein altgedienter Erstklasswagen seines Zuges hatte Klebezettel an den Fenstern getragen: „Deklassiert“. Und Herr Tobler war in stiller Vorfreude auf den geschenkten Zusatzgenuss zur Eingangstüre marschiert, doch die Plätze waren alle besetzt gewesen von anderen Zweitklasspassagieren, die ihre Eroberung sichtlich genossen. Herr Tobler ist in einen fast leeren Zweitklasswagen ausgewichen und hat sich während der ganzen Fahrt in gekrümmter Haltung im Sitz versteift.

Er liest schon in der zweiten Zeitung, und ab und zu blickt er kurz zur Kellnerin, ohne den Kopf anzuheben. Sie sieht meist woanders hin, auf die Hebel und Gläser, auf ihr Portemonnaie oder in die Augen der Zahlenden. Doch ein paar Mal schon hat sie kurz zu ihm zurückgeschaut. Nicht freundlich, nicht unfreundlich, nicht einmal gleichgültig und vielleicht ein wenig fragend. Normalerweise hätte Herr Tobler es sich bequem gemacht, hätte sich zurückgelehnt und laut geraschelt beim Blättern der Zeitungsseiten. Er hätte sich heimisch gefühlt und stundenlang auf den Gehsteig hinausgestarrt. Normalerweise hätte er eintretenden Gästen freundlich in die Augen geschaut und ihnen vielleicht gar zugenickt. Nicht so heute, er fühlt sich klein und möchte gehen, doch er hat ja noch nicht einmal seinen Tee bestellen können.

Wenn er einfach aufstände und ginge, ohne konsumiert zu haben, sähe das allzu merkwürdig aus, findet er. So kann er erst recht nicht schon wieder weg; Herr Tobler ist sich sicher, dass längst alle im Raum dem fortdauernden Versäumnis der Kellnerin diskret und gespannt zusehen. Sich bemerkbar zu machen, das kommt ihm heute nicht einmal in den Sinn. Die Kellnerin ist von einer Schönheit, die ihn zuerst erschreckt und dann eingeschüchtert zurücklässt.

Und nun kommt sie auf ihn zu, lächelt verlegen und fragt: „Haben Sie noch gar nichts bestellen können?“ - „Nein, doch ich hätte ganz gerne eine Tasse marokkanischen Pfefferminztee, also ich meine, einen mit marokkanischer Minze, Pfefferminze, drin. Bitte.“ – „Ach, das tut mir leid, ich dachte die ganze Zeit, Sie hätten schon längst erhalten! Entschuldigen Sie vielmals, das ist mir sehr peinlich.“ Sie lächelt lieb und versöhnlich. Normalerweise hätte Herr Tobler das genossen. Doch weil er sie nur ausdruckslos ansieht, sagt sie: „Kommt sofort…“ und geht zur Theke zurück.

Was redest du da, sagt Herr Tobler in Gedanken zu ihr, mir ist es peinlich, mir alleine. Du lächelst dich ohnehin verlegen durch den Tag. Aber ich, ich habe mich gefangennehmen lassen, habe deine kleine Unachtsamkeit bar jeglicher Vernunft als Beweis meiner Nichtigkeit, meiner Ohnmacht und als tiefe Verletzung erlebt. Ich bin nicht böse auf dich, was kannst du schon dafür. Aber lass mich bitte in Ruhe, ich mag dir nicht verzeihen. Das schiene mir ganz und gar lächerlich, ist es doch nicht die mangelhafte Dienstleistung, die mich so schmerzt. Das wäre noch das Geringste. Normalerweise würde ich mit dir scherzen, würde vielleicht über uns lachen, doch nicht heute.

auf der strasse.

Das Geld liegt nicht auf der Strasse, sagt man, doch das Vertrauen der Menschen, das lag gestern da, auf dem staubigen Asphalt. Es war von den grossen Plakatwänden, die all unsere Strassen säumen und auf die es sich vor kurzem noch geflüchtet hatte, heruntergefallen. Wir mussten bloss zugreifen, alles Vertrauen lag vor unseren Füssen. Wir bückten uns, nahmen es auf und drückten es an unsere warme Brust. Es war heilfroh, sich an die Innenseite unserer Mäntel hängen zu können. Wir gingen in ein gemütliches Lokal, bestellten Bier und wollten reden. Es war schön, das Vertrauen bei sich zu spüren. Plötzlich hatten wir die Weltregierung inne, wir konnten über alles gebieten; es ging ganz einfach und rasch, ohne den kleinsten Widerstand – man war offenbar allseits erleichtert über unsere Machtergreifung. Wir gerieten bald in eifrige Hochstimmung, doch weil wir noch zwei, drei Biere tranken, und weil uns dann nicht so recht einfallen wollte, was wir nun tatsächlich tun sollten, haben wir es dann verschlafen. Im Schlaf nahm man uns das Zepter, das sich da noch kaum hatte wärmen können, wieder aus der Hand. Man merkte es am Morgen, überall in den Strassen standen nun Soldaten.

heute?

Wo war ich heute? Hat mich jemand umarmt, oder war das gar nicht heute? Habe ich heute überhaupt einmal an heute gedacht – oder nur an morgen? Bin ich heute meinem Ziel, bin ich irgendeinem Ziel näher gekommen? Habe ich ein Ziel, dem man näher kommen kann? War heute weniger alltäglich als der Alltag? Bin ich jemand anderer, wenn mich die Vertrautheit befremdet? Lerne ich manchmal aus meinen Fehlern? Welche Bilder haben Macht über mich? Wäre ich fähig, ein anderes Leben zu führen?

ohne bildung.

„Ohne Bildung werde ich Terrorist!“ war auf einem Demonstrationstransparent zu lesen. Offensichtlich ist die Bildung schon jetzt nicht mehr gewährleistet; zumal nicht jene über den Terrorismus.

Mittwoch, 30. November 2005

stockwurf.

Frauchen hat's geworfen, moccalover hat's gefangen: Das Stöckchen, das ihm aufträgt, den fünften Satz des dreiundzwanzigsten Beitrags hervorzukramen. Nun, natürlich dachte ich damals, beim Verfassen dieses dreiundzwanzigsten Beitrags, noch nicht an die heutige Situation, und so hat dieser Beitrag keine fünf Sätze, und nicht einmal einen, den ich zitieren möchte. Daher erlaube ich mir, auf den zweiundzwanzigsten zu greifen und zu zitieren: "Ich musste es schon um sechs Uhr gehört haben, als mich der Radiowecker zum ersten Mal störte, doch das war nicht wirklicher als jedwede Erinnerung an einen Traum aus seichtem Schlaf. "

kommen sie.

Schön, dass Sie zu uns gekommen sind! Nur zu, treten Sie ein und lassen Sie sich betören; ja, wahrlich, wir haben schlichtweg alles! Und ganz bewusst sagen wir nicht: was Ihr Herz begehrt, denn Sie wissen gar nicht, wie bescheiden Ihr Herz in all seinen Wünschen eigentlich noch ist – verglichen mit dem, was es alles haben könnte. Nun, Sie können das alles wirklich haben, wir haben nichts weniger als das Alles selber hier zu uns geholt. Natürlich nur für Sie, weil es uns eine Freude ist, Ihnen Glück und Erfolg zu bereiten. Sie dürfen sich ruhig etwas gönnen, und zwar tagtäglich, denn Sie haben ja nur sich, nicht wahr. Ihr Herz wird Sie lieben dafür, und Sie können auch noch mehr kriegen, denn wir haben einfach alles. Bei uns ist alles im Glanz, bei uns duftet’s immer frisch und neu. Unsere Regale sind überfüllt, Lücken werden binnen Minuten aufgefüllt, und überall haben wir Ihnen Promotionsboxen in die Regalgassen gestellt, damit Sie sich nie langweilen müssen. Da und dort werden Sie auch auf freundliche Hostessen unserer Lieferantenpartner treffen, die Ihnen an einem Informationsstand gerne ihre neuen Produkte präsentieren. Wir sind stets bemüht, aus Ihrem Einkauf ein Erlebnis zu machen; wir sehen Sie gerne länger bei uns verweilen, deshalb haben wir auch das Bistro eingerichtet, in dem Sie gemütlich in unserer Hauszeitschrift oder in unseren Katalogen blättern können. Um Ihre Kinder und um die Grossmutter kümmern wir uns selbstredend auch; wir haben spezielle Programme zur Animation aller Altersgruppen. Möchten Sie vielleicht lieber einen Film über unser Sozialengagement, unsere Kulturstiftung und natürlich über unsere neusten Produkte sehen? Bravo, denn Sie stehen ohnehin gerade vor dem hausinternen Vorführsaal. Und sonst können Sie diesen Film auch kaufen; diese Woche noch kriegen Sie ihn übrigens mit drei Prozent Rabatt, wenn Sie vier Ihrer Bekannten von den Vorteilen unserer Clubkarte überzeugen können (was ja nun wirklich ein Kinderspiel ist). Zu Ihrer Sicherheit haben wir übrigens da oben überall elektronische Späher angebracht, unser Ordnungsteam guckt durch diese Kameras, damit Sie sich bei uns nicht sorgen müssen vor den bösen und wüsten Gestalten dieser Welt. Wir lesen den Namen von Ihrer Kreditkarte und lassen ihn auf dem Kassenbildschirm aufscheinen; so kommt es, dass Sie stets persönlich verabschiedet werden. Geben Sie zu, Sie schätzen das, wenn unsere hübsche Kassenstudentin Sie dazu auffordert, bald wieder einmal vorbeizuschauen. Vielleicht fiel Ihnen noch gar nie auf, dass wir die Sprachregelung unserer Mitunternehmerinnen und Mitunternehmer hinsichtlich des Kundinnen- und Kundenkontaktes alle Tage variieren, monatlich komplett überarbeiten und den neusten Anstands- und Modetrends angleichen. Wir wollen bei Ihnen sein, ja, ganz persönlich bei Ihnen, und wir wollen Ihnen das geben, was Sie sich erträumen. Bei uns sollen Sie Ihre Traumlandschaften wiederfinden, bei uns sollen Sie Kind, Mann und Frau zugleich und in Reinform sein. Bei uns sollen Sie sich nichts ausreden oder abschlagen müssen. Wir schreiben uns alle edlen und hehren Prinzipien dieser Welt auf die grossen Fahnen, draussen auf dem Parkplatz. Wir haben immer das Passende parat; und Sie dürfen sich ganz sicher sein, dass wir die Prinzipien alle ohne grössere Mühe auch unter einen Hut bringen, ohne darauf verzichten zu müssen, jedes Jahr die Kassen noch voller zu füllen. Wir beraten Sie kompetent und umsichtig, wir sind für Sie da; wir sprechen Ihre Sprache und erklären Ihnen alles gut verständlich. Und falls trotz all unserer Vorkehren jemals etwas nicht weit über Ihren Ansprüchen liegen sollte, so seien Sie zunächst versichert, dass Ihnen hieraus keinesfalls ein Schaden erwachsen wird, und seien Sie daran erinnert, dass wir uns ständig von neuem anspornen, die Bemühungen um die Qualität unserer Produkte und Dienstleistungen noch weiter ins Unermessliche hineinzusteigern. Ohnehin erklären wir Ihnen auf Faltblättern gerne unsere Welt, unsere Entscheidungen und unsere Philosophie. Wir geben Ihnen fürs Leben gern Tipps für Ihr Leben, und wie Sie es noch schöner ausschmücken können. Sie als unsere Kundin oder unserer Kunde sind uns schliesslich am wichtigsten. Wir existieren für Sie, wir handeln für Sie.

ausflug.

Krass die Provinz, schrieb einer auf das Häuschen an der Bushaltestelle. Der Schneefall wird immer mehr zum Nieselregen, und der nassschwarze Teer der Strasse schluckt viel von dem wenigen Licht, das die Sonne durch den Nebel drückt. Neben mir eine junge Frau, die ganz verlegen wurde, als ich Sie nach dem nächsten Bus fragte; und die, offensichtlich erfreut darüber, jemand Unbekannten zu sehen, immer wieder ans andere Ende der Wartebank zu mir herüberschielt. Für drei Minuten hat man die überzuckerten Berge hinter der Ebene im violetten Abendlicht sehen können; vorher war die Sonne hinter dem Hochnebel, und danach ist sie hinter den Bergen verschwunden. Ich war hier auf dem Konkursamt, das in einem dreistöckigen Betonwohnblock aus den Siebzigern untergebracht ist und in einer niedrigen Vierzimmerwohnung Platz hat. Ich habe im dunklen Spannteppichbüro Akten durchgesehen und doch nur an die leere Weite der Ebene gedacht, an den Schnee auf den Feldern, an die sorgsam verteilten Obstbäume und Heuscheunen, um die Nebelschwaden sich rankten. Der Konkursamtsleiter, das roch man schon im Korridor, rauchte unentwegt Zigarren; er trug zu alter Jeans einen Pullover mit brusttief geöffnetem Reissverschlusskragen, aus dem seine blanke, gebräunte Haut hervorschien. Er riet mir von allem ab, was zu tun möglich wäre. Er war abgeklärt, vielleicht abgelöscht. Der Bus fährt heran, währenddem die Wälder in der Ferne vom Grünblau ins Schwarz wechseln. Der Busfahrer ist sehr freundlich und mahnt aussteigende Schulkinder an möglicherweise Liegengebliebenes. Die Ränder der Ebene verschwinden in der Nacht, und mein Blick kann sich ob dem aufziehenden Dunkel nur mehr an den Bergkanten festhalten.

disput.

Du verdammtes, egoistisches Wohlstandsgör, du pumpst dich allabendlich mit Rauschmitteln aus der Welt hinaus. Du willst mir etwas erklären? Schweig bitte, schweig schnell; ich hab Leute wie dich echt dick, du bist für mich so durch wie nur etwas. Mach nur, spiel dich auf, du Philosoph der grossen Zusammenhänge. Solang’ die Bank noch Kohle schiebt, so lange wirst du weiter machen. Relativiere nur, deklariere deine Ohnmacht, deine Unkenntnis. – Nun beruhige dich, du schweisstriefender Gutmensch, sonst bist du dieses Label bald mal los. Mach dich doch zum Rädchen in der Maschine, das du so verachtest. Ja, nichts anderes tust du, als uns allen die Gewissheit zu geben, dass da schon jemand dazu schaut, zu den hässlichen Dingen; jemand der verrückt genug ist, der ohnehin nichts Gescheites tun könnte. Schön für uns alle, denn so können wir das abhaken und dir zu Weihnacht eine Spende zukommen lassen. Und mehr und mehr sind wir überzeugt, dass alles gut ist so; denn was wir nicht so gut machen, das machst du wieder gut. Immer wieder sind wir so überzeugt, dass alles gut ist, dass wir dich nur noch belächeln können, weil du das nicht sehen willst. – Diese deine Überheblichkeit ist es, die mir mehr Galle in den Mund spült, als fünfzehn Ochsen in ihrem ärmlichen Dasein je hergeben könnten. Ganz anders sprächest du, sässest du tagsüber nicht auf einem Lederstuhl. – Ich könnte mir dessen nicht bewusster sein, sei dir da versichert. – Und doch tust du nichts, ausser zu denken; und dabei kommst du immer zum gleichen Schluss, dass nämlich nichts getan werden könne. Und dann tust du nichts. Ich finde, ich tue etwas Sinnvolles, nicht so wie die meisten anderen, und das gibt mir Befriedigung. Eine Genugtuung, die du und die anderen nicht erreichen werdet. – Nun reicht’s mir, ich müsste dir den Kopf abreissen, aber du bist zu tief in deinem Filz, um noch irgendetwas sehen zu können. Wie viele dummnormale Schafe braucht es denn, was meinst du, damit einer wie du sich besonders fühlen kann? Glaubst du etwa, mir bereitet das alles eitle Freude? Ich leide, genau wie du. Aber ich leide noch viel mehr, weil ich mir nichts vormache wie du. Ich gehe nicht auf darin, Sandkörner einzeln auf erodierende Berge zu tragen, ich kriege diese selbstgerechte Feierabendzufriedenheit nicht, nur weil ich zu den Besserdenkenden gehöre. – Arroganter Tor! – Verblendetes Eifererarschloch! – Ersaufe in deiner Ohnmacht! – Ersticke an deiner Allmacht!

Donnerstag, 24. November 2005

willkommen.

und plötzlich schneit es. Die Flocken werden vom Wind gepeitscht, und in ihrem Fall vereinen sie sich zu Leintüchern, deren Falten von den Strassenlampen beschienen werden. Vorbei die Beschwichtigung, dass man sich doch erst gerade noch an der Abendsonne gewärmt hatte. Willkommen, du Winter, du ewiger Gast; sei wenigstens weiss und hell.

zeitensprung.

In der Stube, im Fernsehen warb eine ehedem preisgekrönte Stadtschönheit in enger Bekleidung und starker Befärbung für ein Ratespiel, das sich mit Fernsehwerbung auseinandersetzte und beworbene Produkte als Gewinne auslobte. Max räumte zum dritten Mal den Abwaschautomaten wieder aus, um durch klügeres Einordnen sämtliches Geschirr unterbringen zu können. Gerd klaubte Farbstifte und Papierschnipsel vom Boden. „Das war ein schöner Sonntag, Gerd! Ich finde mich plötzlich in einem neuen Zeitalter wieder.“ Gerd blickte auf, erhob sich und holte Schaufel und Besen. „Ja, es war sehr schön, aber was plapperst du von neuen Zeiten?“ Kauernd wischte er Krümel und Schnipsel auf die rote Plastikschaufel mit dem ergonomischen Griff. „Ist doch klar, wir waren vor recht kurzer Zeit noch Kinder, haben uns hier gerade erst als Erwachsene im eigenen Reich konstituiert, und plötzlich rennen diese kleinen Kinder uns um die Ohren, ziehen Klopapier quer durch die Wohnung und lassen ihre Tassen halbvoll stehen.“ Max fluchte theatralisch, weil er gerade eine Tasse beim Einräumen auf den Kopf gestellt hatte, ohne zu ahnen, dass die Milch auf den Maschinendeckel und von da aus auf seine Hosenbeine spritzen würde. „Verstehst du, wir haben die paar Jahre doch krampfhaft versucht, erwachsen zu sein, uns nach unseren Vorstellungen einzurichten und auch so zu leben, in unserem Reich. Aber wir wussten immer, dass das hauptsächlich Mache war. Und dann kommen die Kinder und machen einen gleichsam begriffsnotwendig zu Erwachsenen. Das ist der Zeitensprung.“ Max schob die Schubladen sorgfältig in die Maschine zurück und schloss den Deckel triumphierend. Er setzte sich an den kleinen Holztisch und legte seine Füsse auf einen zweiten Stuhl. Gerd leerte seine Schaufel in den Abfalleimer, versorgte das Putzzeug und setzte sich ebenfalls. „Ja, nun, ja, die sind süss, die Kleinen, nicht?“ „Keine Frage, Gerd! Süsse Mutter, süsse Kinder, alles wunderbar! Und sie mögen dich sehr, vertrauen dir, beziehen dich mit ein; das sieht man. Sie sind eigentlich eher scheu, aber sie wollen andauernd auf deinem Schoss oder auf deinen Schultern sitzen. Mir gefällt, dass Eva jetzt auch ab und zu hier erscheint, dass ich sie auch kennenlernen durfte, und dass sie die Kinder mitnimmt.“ „Das ist es ja, Max. … Nimmst du einen Kaffee, vielleicht?“ „Gerne; aber, was meinst du genau?“ Gerd stand auf, drehte sich um und wandte sich der Kaffeemaschine zu; er mahlte das Pulver, füllte das Sieb und brühte den Kaffee mit bedächtig und bedeutsam ausgeführten Handgriffen. Max verstand, dass er zu verstehen hatte, wie Gerds gesamte Aufmerksamkeit gerade von der Kunst der Kaffeezubereitung in Anspruch genommen war. Endlich drehte Gerd sich um, stellte die beiden Tässchen auf den Tisch und bot Max die Zuckerdose an. „Es ist schwierig, weisst du, mit den Kindern. Ich werde selber zum Kind, ich werde sie bald lieben, ich werde sie bald vermissen, wenn ich sie nicht sehe. Und für sie bin ich schon jetzt ein gewichtiges Ereignis in ihrem kurzen Leben. Das ist es.“ „Natürlich, mein Lieber…“ Max streckte seinen Rücken und lehnte sich weit vor, stützte sich auf seine Unterarme, die er auf dem Tisch vor sich verschränkt hatte. „Ich weiss doch. Die Kinder sind nicht freiwillig dabei, in diesem Experiment. Aber das ist genau das Gute an dieser Geschichte, Gerd, genau das Gute!“ „Warum?“ Gerd duckte sich in seinem Stuhl; ihm war unwohl, wenn Max ihm die Welt erklärte, und doch konnte er nie weghören. „Ganz einfach. Für einmal musst du dich entscheiden. Und zwar früh. Gleich. Nicht wie im Fernsehen. Sondern jetzt. … Naja, spätestens in ein paar Wochen, jedenfalls. Für einmal kannst du nicht Tee trinken und die Dinge ihrem Lauf überlassen. Das kannst du ohnehin nicht, dieses scheinbare Geschehenlassen ist bloss unsere miese kleine Ausrede; doch das ist eine andere Diskussion. Du könntest wohl sie verlassen, wenn ihr euch fad werdet. Aber du spürst es ja, du könntest die Kinder niemals versetzen. Und bald schon werden sie auf dich zählen.“ Gerd rührte im Zuckerrückstand seiner weissen Espressotasse herum, und Max drehte sich zum Fenster, um zu rauchen. „Es ist gut, du hast recht. Ich brauche diesen Tritt in den Arsch.“

Ob

Ob die Sonne auch am nächsten Morgen wieder zu leuchten beginne. Ob die Haut auch dieses Mal den Schnitt vernarben werde. Ob mein Herz auch im Schlafe weiterschlage. Ob die Gedanken mir auch morgen noch gehorchen. Ob sie mich zur Begrüssung noch küssen wird. Ob das Geschriebene einmal noch dastehen wird.

Das frage ich mich, manchmal.

Montag, 21. November 2005

werde ich?

Werd' ich dir von den winzigen Blümchen erzählen, die in den ersten Löchern der Schneefelder spriessen, wenn du dann zwischen den Schläuchen liegst? Werde ich dir von den Sturzbächen erzählen, von ihrer Frische und ihrer endlosen Kraft, wenn du dann nicht mehr gehen kannst? Werde ich Dir von der warmen Stube erzählen, deren Holz den Ofenrauch all der Jahre ausatmet, wenn du deine Augen nicht mehr öffnen kannst? Oder werde ich nur schmal und feige daneben stehen; nichts sagen, um dich nicht traurig zu machen? Wird es schon im nächsten Frühling so weit sein?

fehler.

Mag ich ihn, liebe ich ihn? Fordert er mich heraus, den fachlichen Tyrannenmord zu suchen? Er ist der Boss, und der Fehler liegt bei mir. Er kläfft, und ich sage danke; danke, dass du mir den Kopf nicht abgerissen hast, denn das war wirklich dumm von mir. Ich werde nachsitzen. Ich liebe wohl alle, die es mir schwer machen. Aber hier gibt's keine Reibung, gar nichts, er steht Meilen über mir und hat sein altes, schwaches Fernrohr verärgert zur Seite geworfen. Das ganze Gefälle wird sichtbar, das noch letzte Woche für einen kurzen Moment lang von nicht einmal so gequältem Lachen verhüllt worden war. Das Gefälle hindert mich, mehr als zu danken, es verunmöglicht es, Menschlichkeit trotz meines Fehlers zu fordern. Wir alle sind seine Organe; manche dürfen mitdenken, andere spielen die Hände, und manche putzen seinen Dreck. Er interessiert sich für nichts ausser der Sache, sein krummer Rücken ist übersät mit goldenen Nasen, und er hat in seinem Leben noch nie eine Minute gewartet.

Oh, Vater, warum hast du mich nicht gegen solche Männer rüsten können?

Sonntag, 20. November 2005

lichter.meer.

Es ist Kirmes vor dem Fenster, die letzten Ahornblätter liegen zahlreich auf den Lebkuchenbuden, und die farbigen Drehlichter von umhersausenden Gondeln zeichnen flüchtige Bilder auf meine Zimmerwände. Ich folge den Lichtspuren und bin stets einen Hauch zu spät; sie lassen sich selbst mit den Augen nicht greifen.

Ich spürte gerne Sandkörner auf der Kopfhaut, wenn ich mit aufgefächerten Fingern mein Haar durchkämme; ich leckte gerne windgekühlten Schweiss von den Lippen, röche gerne Schlick und Algen, sähe gerne meine Hände salzgegerbt. Ich möchte so viel kalte Luft um mich herum, wie ich in meinem ganzen Leben nie atmen könnte. Ich kneife die Augen zusammen und wünsche mir, dass die Lichter auf meiner Wand sich beruhigen und zu einem gelben, einförmig wandernden Leuchtturmstrahl vereinigen.

Enten sehen.

Darf ich mich zu Ihnen setzen? – Aber ich bitte Sie, junger Mann, Sie sehen doch, es ist auf dieser Bank hinreichend Platz für uns vorhanden. Kommen Sie, die Sonne wird bald hinter den Bäumen verschwinden, geniessen wir noch diesen kargen Rest! Schieben Sie den Stock ruhig zur Seite, oder geben Sie ihn mir einfach. – Danke. Es ist wirklich besonders schön, die letzten Sonnenstrahlen eines Winternachmittags auf dem Gesicht zu spüren. Und diese Ruhe! Im Sommer machen die Enten hinten am See immer ein Riesengeschnatter! – Ja, das Geschnatter, ich höre es jetzt noch fast, so kurz ist das für mein Gehör erst her…Und doch knirscht das Gras am Morgen jetzt schon, und der Erdboden, ja sogar die Hügelchen aus Regenwurmkacke, sie sind hart und vereist. – Ich sehe den Enten hier immer gerne zu; besonders, wenn sie wassern. Der letzte Moment, diese Spannung, bevor sie aufsetzen und zischend ihre weisse Schaumspur über die schwarze Wasseroberfläche zeichnen … ich werde wohl nie auf das Geheimnis kommen; dieser Anblick beraubt mich für eine Sekunde meines Bewusstseins. Ich verharre in meinem Starren. … Wissen Sie, ich bin Schauspieler, und ich bin sehr unglücklich darüber, denn dieser Beruf hat mich meiner Persönlichkeit beraubt. Mit jeder Rolle, die ich einübte, mit jedem Theaterstück, das ich mir ansah, mit jedem Film, den ich studierte, gruben sich all die Charaktere tiefer in mich ein. Ich kann mich selber zwar noch ausmachen, doch diese anderen Menschen sind mir überlegen, ich bin grau und öd neben ihnen. Und so falle ich aus purer Ratlosigkeit immer tiefer in die eine oder andere der in mir verinnerlichten Rollen. So finde ich in jeder Situation einen Ausweg. Nur wenn die Ente ihre Füsse ausstreckt und gleich zu Wasser gehen wird, wenn mich nur noch diese Anspannung beherrscht, dann kann ich nicht mehr an Schauspiel denken.

Ich weiss, was Sie meinen, mit dem Wassern der Enten. Ein faszinierender Augenblick von wunderbarer Schönheit! – Darf ich Sie fragen … Waren Sie … waren Sie immer schon blind? – Ja, und nein. Ich wurde blind geboren, und vor zwei Jahren wurde mir ein Gerät implantiert, mit dem man mich zum Sehen brachte. Ein Chip, neueste Hochtechnologie, ein Versuch. Ich habe die Enten fliegen sehen, und ich habe die Kinder auf dem grossen Brunnen spielen sehen. Zuerst hatte ich Freude an der Bereicherung meiner inneren Bilder, ich war verhext von all den Farben und Details. Doch zumeist fühlte ich mich überfordert, überfüttert. Ich musste lange lernen, welche Dinge wie aussehen, und eigentlich fand ich mich nie zurecht. Ich schloss immer mehr wieder meine Augen und lebte wie bisher. Irgendwann habe ich mir den Chip dann ausschalten lassen. Ich bin ein alter Mann, und mir hat nicht besonders gefallen, was ich sah. Es hat mich verwirrt, es hat mich beunruhigt und nervös gemacht. Und es half mir auch kaum je weiter. Nur die Enten hier im Park, und die Kinder, an die erinnere ich mich gerne. … Und Ihr verhaltenes, staunendes Lächeln wäre mit Bestimmtheit auch ganz niedlich anzusehen.

Samstag, 19. November 2005

real eingebildet.

"Nahtoderfahrungen - ausserkörperliche Erfahrungen: Einbildung oder Realität? Gleich, auf diesem Sender!"

Einbildung oder Realität? Ich bitte Sie, meine Damen und Herren SendungsankündigerInnen! Wo soll denn da ein Unterschied begraben liegen, wie soll denn das eine ernstzunehmende Fragestellung sein?

Sprechen wir endlich über die Realität! Es ist doch so einfach. Es gibt eine Realität, es gibt etwas, sonst läsen Sie diese Zeilen hier nicht. Sonst sässen Sie nicht da vor Ihrem Schirm und spürten diese leichte Steifheit im Kreuz. Natürlich gibt es dafür weder Beweis noch Beleg; Sie sagen das ganz richtig: Ich führe Sie mit lebensnahen Beispielen gezielt in die selektiv wahrgenommene Irre, wie jedes amerikanisch angehauchte Sachbuch, das etwas auf sich hält. Aber, und das müssen Sie doch eingestehen, falls ich Unrecht hätte und ich selber, der Herr moccalover, Sie, diese Zeilen und die Welt hinter ihrem Nacken - wenn das alles nicht bestände, was genauso möglich ist, dann wäre doch auch diese Diskussion inexistent, und ihr Gegenstand erst recht höchst überflüssig, nichtig, gar nie dagewesen seiend. Wir würden jetzt nicht plaudern, wir könnten über nichts plaudern.

Darum, so schlage ich vor, gehen wir doch einfach freiwillig und ohne weitere Sicherheit davon aus, dass es da etwas gibt. In Ordnung? Und nun kommen wir zum zweiten Punkt. Was es da gibt, und wie es funktioniert, das wissen wir grundsätzlich überhaupt nicht. Es ist da, doch wir wissen nicht, was genau und wie genau. Und, da bin ich mir sicher, wir werden es nie auch nur im geringsten wissen. Wir sind Organismen im Etwas, die dieses Etwas in sich abbilden, ohne darüber wirklich etwas zu wissen, etwas wissen zu können. Die Organismen erfinden das Etwas neu; und dies allein auf der Grundlage von Sinneseindrücken, bei denen sie nach all der Menschheitsgeschichte endlich zur Überzeugung gekommen sind, dass sie weder lügen noch die Wahrheit sagen, sondern einfach unbekannte Störungen in bekannte Reize verwandeln.

Worin läge da noch der Sinn, über die Übereinstimmung von innerer (erkundbarer) und äusserer (per se unbekannter) Realität zu philosophieren, und wäre es nur in einem reisserisch aufgemachten Teaser eines in Wahrheit sachlichen, drögen und daher gemeinhin auch informativen Wissenschaftsfernsehformat? Finden wir uns doch lieber damit ab, und wenden wir uns der Realität zu, die wir uns in unseren Köpfen formen. Überprüfen wir sie nicht darauf, ob sie mit dem Äusseren, das zwar da ist, das wir indes niemals kennen werden, übereinstimme; fragen wir uns doch einfach, ob wir mit dieser unserer eigenen Realität etwas anfangen, ob wir darin Widersprüche und anschlussfähige Erkenntnisse finden, ob wir daraus vielleicht Lehren ziehen können.

Wir können doch, meine Damen und Herren SendungsankündigerInnen (und das müsste ungefähr Punkt drei sein), küssen, liebkosen, sorgen, vorkehren, einplanen und nachsehen; wir können doch sinnvoll handeln, ohne letzte Sicherheiten zu besitzen? Die Wahrnehmung vom Nahtod und die klägliche Erinnerung daran, sie sind doch Produkte unserer Innenwelt, die genausowenig zur Erkenntnis des Äusseren, des Spürbaren und doch Unbekannten, beitragen können wie unsere alltäglichsten Empfindungen. Warum sollte die Beschreibung dieses Erlebnisses wahrer sein als jene irgendeines Zeitungsständers? Oder unwahrer? Glauben Sie denn, dass dem oft beschriebenen Rückblick auf das eigene Leben, dem Schweben über dem eigenen Körper, dem gleissenden Licht in den Augen - dass dem allem tiefere Bedeutung für unser Leben zukomme als die Wahrnehmung, dass ein kranker Mensch auf der Strasse sitzt und friert?

Sie wollen mir Erkenntnis bringen über Leben und Tod; vielleicht auch bloss über die neusten Erforschungen der Gehirndurchleuchter. Ich weiss doch, ich weiss doch. Im Tod wird alles anders, und ich wäre der letzte, der behauptete, zu wissen, was kommt. Und ich weiss genauso, dass alles, was mich als Ich berührt, eng mit meinem Gehirn verknüpft ist und dass eine Nahtodhallzination neurologische Spuren erzeugt. Haben Sie wirklich gedacht, dass ich nicht wüsste, was ich alles träumen kann? Und was im Traum möglich ist, ist möglich im Sterben. Ich erwarte keine Hilfe von Ihnen, Sie stellen sich da Fragen, an denen Sie sich pulverisieren werden. Sie erwarten Klärung von aussen und sehen nicht, dass Sie ja doch nur von innen her schauen können.

Verstehen Sie denn noch immer nicht? Die Realität ist Einbildung, es ist alles in Ihrem Kopf; und das da draussen, das werden Sie und ich, das werden wir alle nie verstehen. Wir müssen uns ein willkürliches Weltkonzept wählen, als bewusste Wesen, und gäbe es ein besseres, so hätten wir es genommen.

Haben Sie denn das Gefühl, dass in Ihren doch unter allen Umständen letztlich kurzen Leben genügend Zeit und Übersicht vorhanden wäre, um die Wahrheit zu finden – einmal vorausgesetzt, das wäre überhaupt möglich? Packen Sie ein damit, und packen Sie an! Es gibt genügend zu tun, und genügend zu fragen, auch wenn man dabei nur nach innerer Übereinstimmung sucht. Und lassen Sie mich in Ruhe mit Geschichten, die mir die plötzlich im Unerklärlichen entdeckte, bahnbrechende und umfassende Wahrheit verheissen.

Freitag, 18. November 2005

mund.

Heute ist mein Mund ganz klein geworden. Ich habe beinahe den ganzen Tag mit Männern an einem Tisch gesessen. Ich habe dabei fast nichts gesagt. Immerzu habe ich konzentriert ausgesehen. Ich habe wenig gegessen. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich wurde gedemütigt. Und jetzt sehe ich ihn, den Mund, im Spiegel, nachdem ich die Zähne geputzt habe. Die Lippen sind zusammengerückt und lassen nicht voneinander. Die Mundecken sind taub.

Donnerstag, 17. November 2005

murmeltierland

moccalover ist fremd gegangen. Allerdings an derart auserlesenem Ort, dass er gerne dazu steht.

ich selber.

Warum auch nur denkst du, dass das eine vergeudete Zeit gewesen wäre; dass die kurze Zeit, in der du zuhause herumsassest, besser war als jene, die du erlebt hättest, wenn du gemütlich die Strasse hochgegangen wärest, auf den Mauern neue Schriften gesucht hättest, gelassen anstatt gehetzt durch die Unterführungen gegangen wärest? Es hätte vielleicht sogar noch ein Kaffee dringelegen. Aber jetzt ist es gut, jetzt hast du die Beine ja schon gestreckt, die Füsse auf die Tasche gelegt, die auf dem Sitz gegenüber liegt. Die Tasche wird alt. Passt sie noch zu dir? Willst du noch diesen Kontrast? Ja, aber sicher doch!, das wirst du jetzt sagen, nicht wahr, ich kenne dich doch. Du willst alles zugleich haben, und alles zugleich sein. Nur keine Entscheidung treffen, die wirklich Folgen hätte. Und überhaupt, hast du dich vorhin im Spiegel unter den Kleiderhaken gesehen? Du bist ganz bleich und hast Augenringe. Das kümmert dich nicht, aber darum geht es mir ja auch nicht. Schlaf doch wieder einmal. Ja, natürlich solltest du schreiben, wer sollte das nicht. Du magst es ja, die Welt selber zu kontrollieren; herauszuputzen, was dir in Form, Farbe und Ton gerade passt, und vergessen, worüber du nicht denken magst; die Menschen wie fernbediente Roboter bewegen und mit deinen Ideen auffüllen. Sie einfach erleben lassen, was deiner Meinung nach sein könnte. Aber hast du dir schon einmal überlegt, wie abgeschrieben alles ist. ‚Abgeschrieben’, nicht im Sinne von kopiert, sondern wie abgegriffen; nicht physisch abgegriffen, sondern geistig. Was siehst du denn, die Bäume sind kahl und verweigern sich jeder Schönfärberei, die Menschen brauchen alle gleichzeitig jetzt ihre Ruhe; und du sitzt allein in diesem Sechserabteil, das auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke sanft vibriert und ein wenig ruckelt, wenn es ausnahmsweise über Weichen fährt. Sonst nichts. Du solltest dir die Nichtigkeit dieser halben Stunde, in der du hier sitzt und so schnell fährst, dass du eigentlich nirgendwo bist, zunutze machen – du solltest einfach mal nichts tun. Du solltest die Lücke, in der du nichts zu tun hast, ausser deinen müden Geist zu beschäftigen, gar nicht erst aufzufüllen versuchen. Nein, nicht einmal musikhören, nur dasein. Ach, wegen mir kannst du das nicht? Ich bin schon weg, ich lass’ dich sogleich in Ruhe. Wir haben uns so lange nicht gesprochen, dass ich das nun schon ein wenig auskosten möchte. Das Abteil hier riecht verreist; zufällig haben sich hier tausend Gerüche eingefunden, sind hängen oder kleben geblieben und dann gemeinsam alt geworden. Damit lässt sich doch etwas anfangen, nicht? Ich soll dir nicht so kommen? Na, wie denn sonst, ich bin ja nicht an deiner Stelle, ich kann die Dinge nicht berühren. Mach deine Nase auf, und schalte dein Programm aus. Ich weiss, ich sollte schon weg sein. Aber schau doch einmal zur Fensterscheibe. Siehst du dich? Du siehst doch bloss zwei Augen, die dich fixieren, und einen Kopf darum herum. Oh, das fühlt sich alles so fremd an? Du siehst nur die Augen oder den Kopf, aber nie alles zusammen? Du siehst nicht, wer sich hinter diesen Bildern versteckt? Nun, deswegen bin ich hier und helfe dir ein wenig. Aber du wolltest mich weghaben, ich verstehe dich, du bräuchtest ja wirklich bloss Ruhe. Und bitte, versuche doch, deine Aggressivität ein bisschen zu dämpfen, schliesslich sitzen wir doch im selben Boot. Ich gehe jetzt. Mach doch, was du willst, ich hab’s dir wenigstens gesagt. Das ist übrigens ein Ruheabteil, mein Lieber. Zu deinem Glück bist du alleine. Und, naja, wenigstens sprichst du jetzt wieder mit dir selber.

gut so

Die Steckerstifte von Elektrogeräten sind so isoliert, dass man sich auch bei nachlässigem Umgang mit ihnen nicht dem Strom aussetzt, wenn man sie aus der Steckdose zieht.
Das ist gut so, das ist für uns.

Lifttüren unterbrechen ihren Schliessungsvorgang, wenn man die Hand zwischen Tür und Rahmen hält.
Das ist gut so, das ist für uns.

Konfitüre in geschlossenen Portionenschalen kann nicht schimmeln, solange das Haltbarkeitsdatum noch nicht erreicht ist.
Das ist gut so, das ist für uns.

In Flugzeugkabinen gibt es Schwimmwesten, Atemmasken und Rutschbahnen, Whiskey und Papierbeutel.
Das ist gut so, das ist für uns.

Wer Kaffee bestellt, kriegt auch Sahne und Zucker, nur rauchen darf er dazu nicht immer.
Das ist gut so, das ist für uns.

Schlechte Ware kann man umtauschen, und die Stadt zahlt jedem einen Minimalsarg.
Das ist gut so, das ist für uns.

Mit modernen Akkus kann man länger mobiltelefonieren, als zwei Fussballspiele mitsamt Verlängerung und Penaltyschiessen dauern können.
Das ist gut so, das ist für uns.

Tote Menschen kann man fast nie sehen, dafür weltformatige Damenunterwäsche.
Das ist gut so, das ist für uns.

Dollar oder Euro lassen sich in jedem Land in Verkehr bringen, und für verlorene Kreditkarten gibt’s nach höchstens achtundvierzig Stunden Ersatz.
Das ist gut so, das ist für uns.

Der Computer kennt fast alle Rechtschreibregeln, und die Universitäten buhlen um Drittmittel aus der Geschäftswelt.
Das ist gut so, das ist für uns.

Die Sonne geht jeden Morgen auf, auch wenn sie sich im Nebel verschlüpft, und mit Tabletten kann man die Zeugung verhindern, Kinder beruhigen, Schmerzen wegwischen und die Verdauung befördern.
Das ist gut so, das ist für uns.

Jeden Tag erklären Experten, Kirchen, Zirkel und Vereine uns die Welt, und das Internet teilt jedem und allem unendlich grossen Raum zu.
Das ist gut so, das ist für uns.

Mit elektronischen Zahlungsaufträgen können Brunnen gebaut, Impfungen verteilt und Bäume gepflanzt werden; damit können Investitionsprodukte gekauft werden, die auf den Kupferpreis und die politische Entwicklung in Chile spekulieren.
Das ist gut so, das ist für uns.

Medizinische Geräte können jeden vorstellbaren Quer- oder Längsschnitt des Körpers in jeder Farbe abbilden, Satelliten können jeden Baum auf der Erde in jeder Farbe auf Bilder bannen.
Das ist gut so, das ist für uns.

Das Knacken des Gurkenglasdeckels versichert uns, dass niemand uns vergiften wird, und wer einen Kinositz mietet, der darf auf seinem Anspruch bestehen. Unsere Langeweile hindert uns daran, im anderen ein Monster zu sehen.

Weil die zweite Zahnbürste im Becher unter dem Spiegelschrank steht, wissen wir, dass wir nicht alleine sind.
Das ist gut so, das ist für uns.

Mittwoch, 16. November 2005

fahnen

Nun kommen mir die Fahnen hoch. Die Fahnen, die ich am letzten Samstag wehen sah. Wer hatte schon wieder gesagt, er wünsche sich einen schweizerischen Fussballsieg, weil dann kein Gehupe anschwelle, wie es von Anhängern der türkischen Mannschaft zu erwarten sei? Nun wird da unten aufs Horn gedrückt, was das Zeug hält, und diese Jubelgeste kann nur von Anhängern der sieghaften Schweizer Spieler herrühren. Wie alt die geäusserte Ansicht über den Charakter des Südländers an und für sich doch ist, man hat hier schon viele hergebrachte Brauchtümer übernommen. Sie fahren im Kreise, schreien zu den Fenstern und Dächern heraus und lassen die rotweissen Fahnen wedeln.

Ein Fahnenreigen war’s damals beim Hinspiel; die Gewerkschafter mit den rotweissschwarzen Fahnen, die ihnen am Morgen aus einer Kiste verteilt worden waren, zwängten sich in die Bahnhofshalle. Ihre Transparente forderten Lohnerhöhungen, und die Fahnenträger waren auf dem Weg nachhause nach einer Demonstration. In die Halle drangen von der anderen Seite, von den Geleisen her, gerade die Fussballfans mit roten Tüchern in allen Formen ein. Sie hatten keine Spruchbänder, nur Halstücher und Fahnen mit weissem Kreuz oder weissem Halbmond und Stern auf rotem Grund, die sie im Fanartikelvertrieb erworben hatten. Friedlich wie die sich am Werktagsmorgen zuwiderlaufenden Pendlerscharen vereinten sich die gewellten Felder der Fahnen und teilten sich bald darauf wieder. Die singenden, skandierenden Stimmen vermischten sich; die konkurrierenden Nationalgesänge wurden bloss ganz kurz von ‚Bella Ciao’ übertönt. Ich erschauerte angenehm ob dem Eindruck, den ein Stück Tuch, wenn es nur genügend multipliziert und hochgehalten wird, erzeugen kann; und als ich die Kreuze und Halbmonde sah, dachte ich daran, wie oft und gern sich dieses Erschauern mit dem Grauen vermählt.

Sonntag, 13. November 2005

wissen müssen

Diese Strasse wurde geopfert und vergessen. Sie liegt gleich hinter der scheinalten Altstadt; sie schluckt tags und nachts den Verkehr, den man aus der Kopfsteinpflasterzone vertrieben hat. Jeder kommt hier einmal durch, der sich auf dem Parcours der Einbahnstrassen dieser Stadt fortbewegt, doch keiner, der diese Strasse je verlassen hat, kann sich im darauffolgenden Augenblick noch an sie erinnern. Es ist allen, als wäre zwischen den letzten beiden Ampeln nichts passiert, als hätten sie kurz gedöst und nichts mitbekommen, und nicht einmal das bemerkt jemand.

Diese Strasse hat breite Trottoirs, aber gar keine Läden, nur schwerfällige, hochgeschossige, hundertjährige Verwaltungsburgen, die heute menschenleere Server- und Datenräume beherbergen. Die Mauern sind dunkelgrau und alle auf einer Linie, und die untersten Fenster sind weiter oben als jeder Kopf, ihre weit herausragenden Simse verstellen sämtliche Sicht ins innere. Auf sichtbarer Höhe sind bloss die kleinen Kellerfenster mit Schmiedeisengittern, die hinter einem dicken Rahmen vom Inneren der Wand her das Schwarze hervorgucken lassen.

Ein Blechkasten mit zwei verspiegelten Augen wacht über die Fahrzeuge, die durch diesen Korridor rasen und breite Linien, gesprenkelt von weissem Schaum, durch das Regenwasser ziehen. Ab und zu schickt er orange Blitze zu Boden, die zu den Häuserwänden zurückfallen, erlischt sogleich wieder und bewegt sich nie. Nina geht schnell, aber nicht auf gerader Linie, sie trägt zwei schwere Papiertaschen, deren Schwung sie mal auf die eine, mal auf die andere Seite ausschweifen lässt. Die Butter ist wohl weich geworden, und die Eierschwämme pampig. Sie war nach dem Einkaufen noch im Kino, und dann in der Kinobar beim Portwein, weil der Humor des Films es nicht vermocht hatte, auf sie überzugreifen. Sie war fünf Gläser lang geblieben und hatte mit dem dünnen Mädchen an der Theke, das sich wie jeden Dienstagabend langweilte, ein nettes Gespräch über Studiengebühren und Assistenzärzte geführt. Jetzt war sie alleine und musste hier durchgehen, wo kein Schaufenster mehr ihr Abwechslung bot, keine Bar mehr sie mit Versuchung ablenken konnte. Nur Mauern, Boden, Stein, Teer; und Autolichter.

Sie hätte es wissen müssen. Damals, Nina, da hast du noch Katharina und den anderen erzählt, wie süss er sich herausgeredet und behauptet hätte, Anna sei seine Cousine. Natürlich hast du die Lüge rasch erkannt, aber da trennte er sich schon von Anna, und nicht viel später fing alles so schön an. Du dachtest oft an die Lüge, doch du fandest sie süss und vollkommen ohne Schuld. Du fandest sie nur süss, weil sie für dich geschah. Dachtest du – für dich. Es war für ihn, alles nur für ihn, für seinen Egoismus. Du hättest es wissen müssen. Ich werde die Eierschwämme wegwerfen, und ich werde eine neue Wohnung gefunden haben, ehe er zurück ist. Ob er ihr gesagt hat, dass ich seine Tante sei?

Nina fasste die feucht gewordenen Papiertaschengriffe mit den Händen nach und drückte die Finger fester zusammen. Sie zog ihren Kopf nach oben und atmete tief ein. Nur noch fünfzig, hundert Meter, dann die Gasse hinab und zur Türe hinein. An der Ampel vorne sass ein Mann im Fenstersims eines Kellerfensters; er musste sich ducken und den Kopf ein wenig hervorstrecken, weil der Leerraum nur bis zu seinem Nacken reichte. Zwei Krücken lehnten an der Wand, und eine Bierdose stand neben dem sitzenden Mann. Er blickte ängstlich zu ihr hoch, wie sie an ihm vorüberschritt. Sein Fussverband war von der nassen Strasse geschwärzt worden. Gestern noch hatte sie am Bahnhof oben zwei Franken für ihn aus der Hosentasche geklaubt. Sie wich seinem Blick nach kurzem Verhaktsein darin wieder aus. Und du wolltest traurig sein, Nina. Da, das ist traurig, mein Mädchen. Schäme dich.

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wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
dem gedanken folgen.
sobald ich versuche, alles in mehr oder minder stummes...
moccalover - 19. Nov, 22:36
unternehmensethik.
es ist doch nicht das unternehmen, das ethisch sein...
moccalover - 19. Nov, 22:34
und was das heisse, wenn...
und was das heisse, wenn jemand jemand sei.
moccalover - 19. Nov, 22:33
danke. wenn nur die umsetzung...
danke. wenn nur die umsetzung so einfach wie die erkenntnis...
moccalover - 19. Nov, 22:31
wer das eigentlich sei
wer das eigentlich sei
Reh Volution - 10. Nov, 07:32
da steckt viel wahrheit...
da steckt viel wahrheit drin.
me. (Gast) - 7. Nov, 21:10
danke!
danke!
moccalover - 6. Nov, 00:20
das verbrechen.
Das grösste, das ursprünglichste und verheerendste...
moccalover - 6. Nov, 00:05
nah und fern.
Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
moccalover - 6. Nov, 00:05
selbstbewusst.
selbstbewusstsein heisst nicht, sich überlegen zu fühlen nicht,...
moccalover - 6. Nov, 00:04
die vorstellung und das...
gibt es etwas Schöneres, als etwas unvermittelt zu...
moccalover - 6. Nov, 00:02
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um zu
Reh Volution - 12. Okt, 08:12
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Das Leben. Ein Schlüssel, der mir Haus und Wohnung...
moccalover - 12. Okt, 00:43
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Du hast jemand, der für dich Sandwichs streicht. Da...
moccalover - 2. Sep, 22:53

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