Freitag, 3. März 2006

stocklandung.

Von yester kam viel früher als gestern schon ein Stöckchen. Voilà.

4 Jobs in/aus meinem Leben:

~ Eisen binden auf dem Bau
~ Umfragen an der Haustür
~ Univ. Ass.
~ Nächtliches Abfallsammeln auf Open Air Festival

4 Filme, die ich immer wieder sehen kann:

~ Happiness
~ In The Mood For Love
~ The Sweet Hereafter
~ The Man Who Wasn't There

4 Orte, an denen ich immer in derselben Stadt in Niedersachsen gelebt habe:

Hä?

4 TV-Serien, die ich sehr gern sehe, wenn ich sie sehe, wenn ich Zeit habe und Lust und so rein gar nichts anderes zu tun:

~ South Park
~ Simpsons
~ Es gab da mal im ORF eine abgedrehte Sendung, gemacht aus Mitschnitten irgendwelcher Sendungen und einem wahnsinnig bissigen, zynischen und zugleich coolen Kommentar aus dem Off. Wenn jemand weiss, wie das hiess bzw. heisst: Das meine ich.

4 Orte, an denen ich Urlaub gemacht habe:

~ Bleiken bei Oberdiessbach
~ Kangerlussuaq in Grönland
~ Kühtai im Tirol
~ Joensuu im finnischen Wald

4 meiner Lieblingsgerichte:

~ Rösti mit Speck, Zwiebeln und Käse überbacken
~ Linguine mit Pilzrahmsauce
~ Käsenockerln
~ Gebrannte Mandeln

4 Webseiten, die ich täglich besuche:

~ bluewin.ch
~ nzz.ch
~ bger.ch
~ sf.tv

4 Orte, wo ich jetzt lieber wäre:

siehe oben (Urlaub)

Donnerstag, 2. März 2006

wissen müssen II.

Windböen peitschten Schneevorhänge durchs gelbe Licht der Strassenlampen. Touristen scheuen schlechtes Wetter nie, hauchte Nina in ihren Schal, der ihren Mund und die Nase verhüllte. Wo sind sie nun alle? Sonst lächeln sie doch immer, wenn sie den Bussen entsteigen, obwohl ihnen niemand gesagt hat, dass man von November bis Mai ganz sicher nicht hierher kommen soll. Umso besser, dachte Nina, so ist wenigstens die Glühweinbude geschlossen, und ich bin mit der Bärin alleine. Sie zog die Schultern hoch und drückte sie gegen ihren eingepackten Hals. So überquerte sie die Brücke, wo der Wind stärker blies als in den Gassen, und kam beim Bärengraben an. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf die Sandsteinmauer und blickte in das runde, dunkle Loch hinunter. Die Bärin hatte sich schon hingelegt, doch sie hob, als Nina sich über die Mauer beugte, rasch ihren Kopf und schnupperte blinzelnd durch die kalte Luft. Nina schluckte trocken und dachte an den Portwein vom Vorabend.

Ich habe die Eierschwämme weggeworfen. Und nicht nur die, sondern auch all meine Parfums. – Das hast du nicht! Die Bärin war erschrocken aufgesprungen. – Doch, ich brauche die nicht mehr. – Aber die waren doch teuer, und fein? – Ja, sagte Nina kraftlos, aber das ist alles so vergeblich, ich habe sie zusammen mit dem Nagellack auf seinen Hemden, die er noch bei mir hat, ausgeleert. Dann habe ich alles angezündet und am Schluss die Asche weggeworfen. – Kind, du bist wohl übergeschnappt! Eine solche Aufregung, nur wegen einem Mann. – Bitte, Bärin, du kannst doch nicht so herzlos zu mir sein. Du weisst, dass das nicht irgendein Mann ist. Ich habe dir erzählt, wie alles kam und ging. Sag nicht, du könnest nicht sehen, wie nahe mir das geht. – Oh ja, das sehe ich, doch meine ich ja gerade, du verhaltest dich unverhältnismässig. Wie ich weiss, welche Schmerzen du hast, so wusstest du immer, dass das so kommen würde. Du hast Recht, ich kenne tatsächlich die ganze Geschichte.

Nina schwieg lange; ihre Augen waren nach oben gedreht und fixierten die Schneeflocken, die durch die Lichtkegel tanzten. Sie verlor für einen Moment das Gefühl für den Boden und glaubte, die Flocken seien Sterne, an denen sie vorüberflog. Ihre Hände mussten die Mauerkante fest umklammern, damit sie in der Vereinnahmung durch den beobachteten Tanz nicht Gleichgewicht und Halt verlor. Der Wind liess den Blechverschlag der Glühweinbude rhythmisch klappern, der Verkehrslärm ertrank im Schnee. Bist du vielleicht ein bisschen stinkig, weil es schon lange so kalt und nass ist? Nina blickte wieder nach unten und suchte nach den Umrissen der Bärin.

Ich bin nicht stinkig. Du bist vergesslich. Ich will frei sein, ich will leben, ich will geniessen, das sagtest du doch damals. Ich will alles, was mir gefällt, darauf hast du damals geschworen. Und du hast dir alles genommen. Du wolltest nicht auf mich hören, damals mit zwanzig, zweiundzwanzig. Nun kommt eben Teil zwei des Teufelspakts, auf den ich dich so oft ungehört hinwies, in die Vollstreckung. – Sei doch nicht so dunkel, Bärin. Nina schluckte wieder, diesmal einen dicken Speichelklumpen, der entfernt noch nach Portwein schmeckte. – Ich will ja auch gar nicht siegestrunken herumklugscheissern. Ich muss einfach betonen, dass wir das alles wirklich schon so oft durchgekaut haben. Die Männchen, die spielen ihr eigenes Spiel. Und glaube mir, dass mir nichts lieber wäre, als an deinem Platz zu stehen und dann allein nachhause zu gehen; raus aus dem Käfig, weg von hier und diesen Aufschneidern und Pennern. Und deine Menschenmännchen, die sind nicht anders. Du wolltest dich auf ihr Spiel einlassen? Bitte sehr! Jetzt bist du älter und müder und möchtest vielleicht am Ende gar selber kleine Bärchen hegen. Das musst du alleine durchstehen, jedenfalls musst du damit rechnen. Mach dich nicht krank, sie sind ja vielleicht gute Wesen, aber du kannst von ihnen nicht mehr verlangen, als sie zu leisten vermögen. Du hast ihnen allen die ganze Zeit über die Sicherheit gegeben, dass nichts wirklich verbindlich ist, dass nichts wirklich ein Problem sein könnte, dass du immer alles selber für dich regeln könntest. Ich habe dir gesagt, dass das nicht stimmt. Nicht für dich, und nicht einmal für die Männlein. – Das mag sein, und trotzdem bin ich wütend. Nur weil man weiss, dass ein Unglück kommt, muss man nicht schweigen, wenn es eintrifft. Sei nicht so selbstgerecht! – Das Unglück ist nicht gross, Alleinsein muss doch herrlich sein. Ich stelle mir das jedenfalls so vor. Es bringt nichts, nur bei jemand zu sein, um nicht alleine zu sein; das ist doch beleidigend. Für dich und für die Männlein.

Mach's gut, Bärin, ich muss jetzt gehen, mir ist kalt. Wenn du schon für das Alleinsein bist, so werde ich trotzdem bald wiederkommen. Ich denke an dich. Nina formte ihre Lippen schnell zu einem Kuss und drehte sich vom Graben weg, setzte Fuss für Fuss in die knirschende Schneedecke und machte sich auf den Weg zu ihrem Bett. Sie lächelte noch ein paar Mal, weil sie an die Besorgnis der Bärin denken musste und sich darin geborgen fühlte.

knallauffall.

Es war ein Student erschossen worden. Von hinten; mitten in der Bibliothek der Geschichtsfakultät, mitten am Tag, mitten ins Herz. An einem Tag, an dem eigentlich nichts Besonderes hätte geschehen sollen. Die Feiertage waren schon lange vorüber gewesen, und der Karneval noch weit weg. Die meisten waren in dieser Zeit am Skifahren, und niemand hätte an diesem grauen Tag jemand angerufen, nur um einfach ‚Hallo’ zu sagen. Der Kopf des Studenten war auf das aufgeschlagene Griechischwörterbuch gefallen, und aus dem Mund war roter Schleim geflossen. Der Knall des Schusses hatte die in der Mittagsstille lesenden Kommilitonen gelähmt; hier wurde normalerweise jedes Rascheln und Knacken mit genervten Blicken gestraft. Für etwas so Lautes aber, wie die Explosion von Schiesspulver es verursacht, hatte niemand Eingeübtes zur Verfügung, und im ersten Moment blickte niemand von seinen Büchern auf. Jeder war erstarrt, als hätte man ihn in seiner Versunkenheit hinterrücks geschlagen. Der Mörder war, nachdem der Student röchelnd in sich zusammengebrochen war, keine Sekunde länger bei seinem Opfer verharrt. Er hatte sich umgedreht und den Raum steif und rasch durchschritten, so dass er durch die Türe verschwunden war, ehe die ersten sich aus der Starre lösten und ihre Gesichter angstvoll zum toten Studenten richteten.

Später gab es ein paar Beschreibungen von einem, der es gewesen sein könnte, doch niemand war sich sicher, ob er den Mörder oder doch bloss irgendjemand hatte umhergehen sehen. Es schien, als hätte an diesem Ort der Ruhe und akademischen Konzentration mit einem solchen Lärm, einem solchen Ereignis, derart nicht gerechnet werden können, dass auch im Nachhinein, mit dem Wissen darum, was man erlebt hatte, niemand sich vorstellen konnte, eines Mörders Weg gekreuzt zu haben, eines Mordes Zeuge geworden zu sein.

Der Student, der nach den Erkenntnissen der medizinischen Fakultät erst nach drei Minuten dem Lungendurchschuss wirklich erlegen war, hatte ein unauffälliges Leben geführt, das konnte man bald darauf in den Zeitungen lesen. Er war nicht mit vielen bekannt gewesen; alle, die ihn gekannt hatten, hatten manchmal beim Schlangestehen vor der Kaffeemaschine mit ihm ein bisschen geschwatzt und dabei gemeint, dass er andere Leute haben musste, die ihn besser kannten. Nichts deutete darauf hin, dass der Student irgendjemandem einen Grund oder auch nur die Gelegenheit gegeben haben könnte, ihm Böses zu wünschen.

Die Strafverfolgungsbehörden konnten den Fall nicht klären, doch die meisten hatten sich mit der Zeit einer der vielen Meinungen angeschlossen, die überall kursierten und schlüssig erklärten, wie es zu dem Unerhörten gekommen war. Man hörte von burschenschaftlichen Mutproben, von politisch-wirtschaftlichen Implikationen, fatalen Liebesgeschichten, unheilvollen medialen Vorbildern, Geistesverwirrung und Terrorismus. Und selbst für jene, die sich nicht auf eine Meinung festlegen mochten, war selbstverständlich, dass eine der herumgebotenen Versionen zutreffen musste. Niemand konnte sich dem allgegenwärtigen Raten und Werweissen entziehen. Es wurden Reden gehalten und Appelle ausgesprochen, Massnahmen erlassen und Gremien erschaffen. Flugblätter wurden verteilt und Forderungen aufgestellt, Mahnwachen organisiert und Schlägereien ausgetragen. Eine Messingtafel wurde in die Betonwand der Bibliothek geschraubt, sie fasst das Ereignis zusammen und bittet um Demut. Verschiedene Vereinigungen und Zusammenschlüsse entstanden mit der Zeit, die ihren Zweck in der einen oder anderen Weise auf die Ermordung des Studenten bezogen. Und weil die Ergebnislosigkeit der polizeilichen Ermittlungen allgemeine Ratlosigkeit hervorrief, setzte sich nach und nach die Auffassung durch, dass gar nicht so wichtig sei, weshalb der junge Mann letztlich sterben musste, sondern, dass aus allen möglichen Gründen fruchtbare Lehren zu ziehen seien.

einzigundallein.

Max sah sich unter- und überfordert zugleich: Mit einer Frau allein soll ich mich begnügen? – Ich allein soll es zustande bringen, eine Frau, eine einzige auch nur, glücklich zu machen?

eng.

Ich spüre es, sagte Max letzthin zu Gerd, ich spüre es, und es stimmt mich vorfreudig und zuversichtlich. Die Frauen werden sich endlich befreien. – Wovon denn sollten die sich heutzutage noch befreien, wandte da Gerd gelangweilt ein. Sie haben sich aus ihrer Vormundschaft befreit, sie sind den Küchen und Waschküchen entflohen, und sie befreien sich immer öfter sämtlicher Körperbehaarung. Die Männer, die Frauen zu etwas zu zwingen vermögen, sterben nach und nach aus. Wovon, werter Max, sprichst du denn in aller Welt? – Von diesen dummen Kleidern spreche ich. Die Frauen werden all das enge Zeugs auf einen Haufen werfen und verbrennen. Sie werden listig geschwungene Tücher tragen, die ihren wundervollen Körpern die Form geben, die sie verdienen; sie werden schweben in wehenden Stoffen, die ihre Bewegungen atmen lassen. Und dann werden sie sich endlich wirklich frei bewegen können. Und es wird endlich ein bisschen wahr sein, wenn sie denken, dass sie sich bloss für sich selber schön kleiden. – Nun, sicher wird die Mode sich wieder ändern. Ich wäre schon lange dafür, ein Bundesamt für Mode einzurichten. Die könnten die Zyklen festlegen, in denen dies Rad sich um seine Achse dreht, und man wüsste ganz genau, dass die Jacke, die man einmottet, in sieben Jahren wieder behördlich beglaubigt wieder angesagt sein wird. – Einverstanden, Gerd, aber das enge Zeugs gehört trotzdem verboten. – Lassen wir es lieber, ich finde gerade, dass Du schändlich heuchlerisch sprichst, mein lieber Max. Ich kenne neben dir keinen, dessen Blick auch nur annähernd so verstohlen wie geniesserisch Dekolletes und Gesässbacken studiert. Ich muss fast befürchten, du erliegest da einem Taliban-Reflex. Was du nicht erträgst, was dich zu heiss macht, gehört weggesperrt und verboten. Du musst locker bleiben, heutzutage muss man damit eben umgehen können. – Du bist ungerecht. Schöne Frauen sind in jeder Kleidung schön, das weisst du genau. – Mach es nicht noch schlimmer, Max, ich müsste dich nur ein kleines bisschen weniger kennen, und schon müsste ich annehmen, dass du jetzt chauvinistisch wirst: … Oh, bitte, verschont mich vor diesen ach so schrecklichen Bauchfalten zwischen Pulloverrand und Hosenbund... Sei vernünftig, Max, das ist sehr überheblich, was du da sagst. – Kein Kommentar, wenn du so drauf bist, kann ich mich nur immer mehr verstricken, du legst es darauf an, so dass es mir nichts nützt, dass ich Recht habe und du notgeile Gespenster siehst. Nur soviel: Mich quält kein Anblick, und sei er noch von ganz anderer Sorte. Aber ich habe dieses Spiel satt, bei dem keine der beiden Parteien sich wohlfühlen kann.

Dienstag, 24. Januar 2006

neues.

Ich habe heute etwas Neues erlebt. Was, das ist höchst unwichtig, es ist nicht grossartig noch geringfügig. Aber ich habe dabei sofort gespürt, dass es neu war, noch nie erlebt war. Ich habe das sogleich erkannt; mit der Sicherheit, mit der man den Geruch von Zitronenputzmittel erkennt.

betrachtungen im anzug.

Ich gehöre ja auch zu denen, die das eine sagen und dann doch das andere tun. Zum Beispiel hätte ich früher, wäre ich je explizit darauf angesprochen worden, mit flammender Begeisterung (verdeckt durch begeistert vorgetragene Abscheu) kundgetan, dass ich nie Anzüge tragen würde. Denn die Anzüge, und besonders die weissen Hemdkragen, die werden von den Bösen und den Ignoranten getragen. Anzüge sind natürlich tatsächlich ein zur Pflicht, ein zur Alltäglichkeit verkommener, übertriebener Luxus. Eine Hülle aus viel zu feinem Stoff, die vor körperlicher Arbeit zurückscheuen lässt und dabei zur Schau stellt, dass man es sich leisten kann, heikel zu sein. Getragen zu den verschiedensten Zwecken, doch immer mit der Absicht, ein bestimmtes (und doch nicht allzu bestimmbares) Bild abzugeben.

Nun, heute trage ich aus verschiedenen Gründen immer häufiger Anzüge, und zunächst muss ich zugeben, dass ich das mittlerweile auch gerne tue und es seine Besonderheit für mich im Übrigen weitgehend verloren hat. Ich komme nicht einmal umhin zu sagen, dass es sich bei den Anzugskombis mit Ausnahme der Krawatten um überaus bequeme und angenehm zu tragende Kleidungsstücke handelt. Natürlich bin ich noch nicht ganz weggerückt von meinen früheren Aversionen, und wenn ich Jeans trage, kommt die Abneigung auch wieder stärker hervor. Dann blicke ich immer noch ein wenig verächtlich auf die Herren im feinen Tuch, die sich wohl für etwas Besseres halten (besonders wenn sie, die doch die Harten spielen, rosafarbene Krawatten tragen).

Anzüge sind heikel, verzeihen keine Spritzer und keine légère Sitzhaltung; sie erinnern sich an alles und wollen mit aller Sorgfalt behandelt werden. Diese Arroganz, viel zu teuren Stoff auf der Strasse herumzutragen, kann mich heute noch nerven. Das aber, wie gesagt, nur dann, wenn ich billiggekleidet unterwegs bin (was ich immer noch oft bin). Wenn ich selber in der Schale stecke, dann halte ich mir immer entgegen, dass ich das schliesslich nicht zum Spass täte.

Ganz gewöhnt habe ich mich an die Kluft noch nicht. Man ist in diesem Zusammenhang vor vielerlei Probleme gestellt. Man bedarf längerer Zeit als sonst, um sich anzuziehen. Man will sich Mühe geben, zu dienstleistungserbringenden Menschen besonders freundlich zu sein, weil man befürchtet, dass zuvor viele Anzugträger besonders arrogant waren. Man kann sich die Nase auch dann nicht mit dem Ärmel abwischen, wenn gerade niemand zusieht (man würde das auf den feinen Stoffen leicht entdecken). Man muss gerade sitzen, weil der Anzug nur so bequem ist, nur so keine übermässigen Rümpfe zurückbehält, und weil einem alles andere einfach unpassend vorkäme. Man muss die Farbtöne sehr sorgfältig aufeinander abstimmen, weil die meisten heute wissen oder ahnen, dass die dominante Farbe der Krawattenstreifen sich in einer der Hemdfarben wiederfinden oder mit einer harmonieren sollte. Man kann sich zum Mittagessen nicht einfach auf einen Stein setzen, zum See hinausblicken und am Schluss die Finger an den Oberschenkeln abwischen. Anzüge verzeihen nicht, und wenn man sich nicht unzählige davon leisten kann, tut man gut daran, diese Regel (und viele weitere) zu respektieren. Anzüge verlangen überhaupt viel; zumal dann, wenn man sie nie ganz emotionslos betrachten konnte.

Zu alledem kommt nun noch das, was ich zu Beginn schon ansprach: Währenddem ich überzeugt bin, dass ein Mensch einheitlich (das heisst: gleich unter allen Umständen) sein und handeln sollte, und ich auch glaube, dass mir die Befolgung dieses Anspruches recht gut gelinge, merke ich doch (und kann es mir nicht verheimlichen), dass meine Kleider mich verändern. Ich werde nie das Gefühl los (und der sanfte Druck der Krawattenschlinge um meinen Hals hindert mich daran, dieses Gefühl auch bloss eine Sekunde zu vergessen), dass der Anzug mich fordert, dass ich besonderen Verhaltensregeln genügen müsse, wenn ich ihn trage.

Als halbe Ausrede mag hier dienen, dass mir die Welt tatsächlich auch anders begegnet, wenn ich (wie unsere östlichen Nachbarn gern sagen) g’sackelt daherschreite. Sie sind freundlicher, distanzierter, und manchmal auch formeller. Viele mögen sich beim Anblick der feinen Kleidung ob meines wohl noch immer jung scheinenden Gesichtes vielleicht wundern, doch befürchte ich dann, dass sie mir gerade deswegen besondere Künste oder Verdienste zuschreiben, wenn ein Junge schon so daherkommt. Oder, und das fürchte ich weitaus häufiger, dass sie mich für einen Aufschneider halten. Beides jedenfalls spornt mich nur an, mich besonnen und korrekt zu bewegen. Als müsste ich einen ganzen Staat repräsentieren, will ich die Erwartungsvollen nicht enttäuschen - und die düsteren Vermutungen der Argwöhnischen (die in mir vielleicht einen neureichen, der Biederkeit verfallenen Drogenhandelsgeschäftsleiter sehen) will ich gleichzeitig Lügen strafen.

Ohne dass ich das je gewollt hätte, noch guthiesse noch zu verteidigen vermöchte, verhalte ich mich in Anzügen (also recht oft) so, wie ich mir standesgemässes Verhalten aus meinem Blickwinkel heraus eben vorstelle. Und ja: Ich habe heute ein beinahe unverschämt hohes Trinkgeld gegeben, als könnte ich mir das leisten. Und wurde mir bewusst, einmal mehr auf billigste Weise ein liebes Lächeln gekauft zu haben. Dabei war ich wirklich guter Laune und freute mich über die angenehme Bedienung.

nah.

„Ich wollte einfach ihre Nähe spüren. Ich hatte überhaupt kein Bedürfnis nach mehr als nur diesem Gefühl der warmen, wohlriechenden Nähe; bloss für ein paar Stunden, nicht länger. Ich wollte sie umarmen, keinesfalls jedoch küssen; ich wollte sie spüren, nicht aber berühren. Ich war mir sicher, nie unter auch nur vergleichbar starkem Verlangen gestanden zu haben.“ – „Ich glaube dir kein einziges Wort, Max, du magst ein guter Rhetoriker sein, und auch deine poetische Ader ist nicht weit davon entfernt, mehr als nur poetische Kapillare genannt werden zu dürfen. Aber ich glaube dir nicht, du warst einfach scharf, oder du hast dich vorübergehend verliebt, das ist alles. Wenn man scharf ist, und wenn man zugleich kultiviert ist, dann verhüllt man es in schöne Worte und fühlt sich dabei mitunter erhaben. Und wenn man verliebt ist, schwört man sich sogar selber, nie, aber auch gar nie, mit dem Objekt des Liebesdranges körperlich werden zu wollen. Mehr noch als von seiner eigenen Existenz ist man dann überzeugt, dass es der rauen Körperlichkeit überhaupt nicht bedürfe, nicht dieses Mal, denn dieses sei besonders und stehe über allem Irdischen.“

Max blickte durch die ehemalige Schaufensterscheibe auf die Strasse, wo der Feierabendverkehr abschwoll. Der Asphalt war nass und widerspiegelte die farbigen Lichter der Autos und der Ampeln. Max hob den Kopf, suchte im Spiegelbild der Scheibe nach der Bedienung hinter der Bar und nickte ihr zu, dass sie kommen solle. Er bestellte mürrisch zwei weitere Gläser ungefiltertes Bier und blickte wieder durch die Scheibe, ohne dass er Gerd bei alledem angesehen hätte.

„Ich wollte nur in dieser Nacht, in der ich nicht zum Schlafen kam, jemanden bei mir haben, an den ich mich abgeben könnte und der mich auch aufnähme“, begann Max wieder, immer noch zur Scheibe gewandt. „Ich wollte auf keinen Fall plötzlich allein sein, und nach der langen Nacht, in der wir nur gekocht haben und uns so rasch kennenlernten, lag für mich nichts näher, als in ihre Arme zu liegen. Glaubst du, ich würde dir von all dem erzählen, wenn mich das nicht so beschäftigte?“ – „Ich glaube dir wohl, dass es dich beschäftigt, zumal es ja nun bald vier Monate her sein wird.“ – „Eben, und es würde mich nicht beschäftigen, wäre es blosse Geilheit gewesen, denn diese klingt bekanntlich binnen Stunden wieder ab. Und hätte ich mich verliebt, hätte ich sie in den letzten vier Monaten wahrscheinlich angerufen, dann unzählige Male getroffen und schliesslich geheiratet; und auf jeden Fall hätte ich sie zumindest dreimal angerufen.“ – „Nun, ich will dich auch nicht festnageln, deine Alibis sind gut konstruiert. Von meiner Meinung bringst du mich aber trotzdem nicht ab. Ich bleibe dabei, du hast ein kindliches Verhältnis zu den Frauen, und du wirst deine Gefühle nie recht verstehen können.“

Max leerte sein Glas mit ruhigen, grossen Schlücken und stellte es theatralisch auf den Filz, so dass die Tischplatte ein trockenes Klopfen von sich gab. „Wenn wir nicht… ich würde dich… Ach, was soll es, ich mag dich ja trotzdem. … Du, du hast kein Gefühl, du bist das. Du verstehst dich nur auf ganze Noten, und das auch ausschliesslich in Dur. Und wenn du auch recht haben magst mit all deinen Mutter-Sohn-Theorien, es ändert nichts. Ich wollte nur für einen Moment lang spüren, dass es wirklich stimmt, dass wir alle Menschen sind und als solche nicht so weit voneinander entfernt, wie man manchmal meinen könnte. Ich wollte bloss in der Zeit zwischen Nacht und Morgen, in der nichts gilt und alles vergessen wird, diese Nähe erleben. Darum weiss ich auch nicht, warum ich es Anna hätte erzählen sollen.“ Auch jetzt sah Max nicht zu Gerd, sondern hielt seinen Blick starr auf seinen rechten Zeigefinger gerichtet, mit dem er aus dem Glas den Bierschaum strich und zu seinem Mund führte. „Ja, es stimmt, sie war damals beruflich sehr ausgelastet. Lassen wir es, Gerd, komm, wir gehen noch eins weiter.“

Montag, 23. Januar 2006

hut.tag.

Heute war wieder einmal ein Hut-Tag, ein ganz eindeutiger zudem. Es gibt Hut-Tage und andere Tage. Welcher der beiden Sorten ein bestimmter Tag angehört, hängt weder vom Wind noch vom sonstigen Wetter ab. Darüber bestimmt vielmehr das Gefühl, das mich zwischen Aufstehen und Anziehen erfüllt, wenn ich halbnackt und fröstelnd von der Toilette aufstehe und mir langsam gewahr werde, was am Vortag war, und was an diesem Tag zu erleben und erledigen sein wird. Wenn das Gefühl mir sagt, dass ich mein Gesicht weder um des Gestern noch um des Heute willen zeigen mag, dann überfällt es mich sogleich mit dem Wunsch, mich soweit möglich einzupacken. So werden Tage am frühen Morgen schon zu Hut-Tagen.

Lustig ist nur, dass ich an den Hut-Tagen meines Hutes wegen häufiger (und auch ein wenig intensiver) angesehen werde, wenn die Menschen in der Fussgängerzone an mir vorübergehen oder wenn ich im Zug einen freien Platz suche. Was ich mit dem Hut abwehren will, wird durch denselben erst recht angelockt. Doch das schreckt mich an Hut-Tagen gleichwohl nicht, da ich weiss, dass der Hut allein Auslöser für all die staunend musternden Blicke ist. Mag er mir zu gross sein, oder einfach schlecht sitzen. Die Blicke gelten nicht mir; sie wollen nichts von mir, ausser meinen Hut begucken. Jedenfalls bin ich überzeugt davon, solange ich den Hut trage.

altefreunde.

Alte Freunde waren früher nicht unbedingt schon Freunde. Manche von ihnen (und vielleicht sind es gar die meisten) werden ganz direkt zu solchen; unvermittelt steht man ihnen als alter Freund gegenüber, ohne dass sie je eines Freund gewesen wären. Sie waren vielleicht entfernt bekannt, sie waren vielleicht weit über uns (oder umgekehrt), oder man sah sie oft, ohne sie zu kennen. Man mochte sie vielleicht nicht, man interessierte sich vielleicht kaum füreinander, oder man hatte einfach nie die Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen. Später dann, wenn die Wege längst gänzlich entflochten schienen und man sich plötzlich gleichwohl kreuzt, ist einem die Vergangenheit mit einem Mal ferner, als der andere es damals je war. Nach all der Zeit, die so viele Beziehungen verschleppt, versenkt und verschluckt hat, wird das Gemeinsame, das damals so allgemein und beliebig erschien, zur geteilten, wertvollen Erinnerung. Der Andere, dessen Existenz man zu jener Zeit höchstens am Rande oder aus der Ferne wahrgenommen hat, wird auf einmal zum geliebten Symbol für ein vergangenes Stück Leben. Man ist vertraut, schon nur weil das, was weit zurück liegt, immer auch den Intimbereich berührt.

Donnerstag, 12. Januar 2006

stimme am morgen.

Das erste, was heute Morgen zu meinem Bewusstsein durchdrang, war eine weibliche Stimme. Ich wurde mit dieser Stimme wach, weil sie plötzlich in meiner noch halb geträumten Wahrnehmung auftauchte, und weil sie mich bei der langsamen Erlangung meiner Sinne begleitete. Ich bemerkte nach und nach, dass die Töne eine Stimme waren und die Stimme sinnhafte Worte ausstiess. Und ich bemerkte schliesslich, dass ich über all die Zeit gewusst hatte, dass ich die Stimme kannte. Es war, als läge die Frau neben mir im Bett. Sie sprach ruhig und ernsthaft.

Es ist sehr lange her, dass ich das letzte Mal von dieser Stimme geweckt wurde, weil ihre Besitzerin neben mir geschlafen hatte und vor mir aufgewacht war. Das war nie ein häufiges Erlebnis, denn damals waren wir noch zu jung, um mehr als bloss zu ein paar besonderen Gelegenheiten beieinander zu übernachten.

Seither ist die Stimme hörbar tiefer und wärmer geworden; sie erinnerte mich an einen alten, samtenen Bordeauxwein. Seither habe ich die Stimme nur noch sehr selten gehört, und nie mehr im Bett, am frühen Morgen. Ich war alleine letzte Nacht, aber sie, sie präsentiert neustens Regionalreportagen im Radio, daher konnte sie aus meinem Wecker heraustönen. Ich habe ihre Stimme mit heimlicher Freude genossen und mich stolz als ganz besonderer Zuhörer gefühlt.

Dienstag, 10. Januar 2006

einordnen.

John ist Rechtsanwalt; darum muss er immer zunächst noch ein unumgängliches Telefonat erledigen, wenn man ihn in seinem Büro besucht, um ihn zu einer Verabredung abzuholen. Man fragt sich bei ihm manchmal, ob er eine bestimmte Handlung aus Freundschaft oder doch zur Karriereförderung vornimmt. Ich glaube nicht, dass er, wenn er sich selber betrachtet, die beiden Zwecke zu trennen vermöchte, dass diese Trennung in ihm überhaupt existiert. Und daher glaube ich, dass es auch müssig wäre, eine solche Unterscheidung von aussen her auf ihn anzuwenden. Ich habe mich also sehr gefreut, als er mich an meinem Geburtstag anrief.

nie zu nahe.

Nie darf man jemand von allzu nahe betrachten, oder in allzu hellem Licht.

Die übermässige Nähe verwirrt und verzerrt, das gleissende Licht quält die Narben und tötet die Phantasie.

Es bringt nichts, das Stück Fleisch zu erkennen, das wir sind.

Montag, 9. Januar 2006

duftluft.

Herr Tobler würde sich eine solche Sprachschöpfung wohl verbitten; doch man könnte durchaus sagen, dass er manchmal einer Art Geruchsvoyeurtum nachgeht. Es geht ihm dabei nicht darum, im Gedränge einer samstagnachmittäglichen Fussgängerzone das Parfüm einer Dame zu riechen, die ihm in der Not direkt vor die Füsse gestanden ist. Unter diesen Umständen kann er sich nicht auf solche Dinge konzentrieren; die Vielfalt der Gesichter, Gerüche und Geräusche in Menschenmengen bettet ihn zumeist in Duseligkeit. Herr Tobler achtet aber oft darauf, in der Eisenbahn einen Korridorsitz zu nehmen. Sobald der Zug fährt, die Reisenden ihr Gepäck verstaut und sich gesetzt haben, beginnt die Luft im Wagen sich zu beruhigen, und bald steht sie fast still, als ob das leise Surren der Lüftungsanlage sie schläfrig werden liesse.

Die Anlage saugt so fein, dass sie die Gerüche erst nach einer kurzen Weile schwächt, bevor sie sie zum Verschwinden bringt. Daher muss Herr Tobler jeweils warten, bis im Wagen die letzten warmen Speisen mit Lammfleisch aufgezehrt und einigermassen verdaut worden sind. Danach wird die Luft still und homogen, ausser, wenn Menschen durch die Wagenmitte schreiten. Immer dann, wenn diese schon drei Schritte an Herrn Tobler vorübergegangen sind, wird sein Gesicht vom Luftwirbel erfasst, der dem menschlichen Gang hintennach eilt. Auf diesen Moment hat er sich vorbereitet, indem er ausatmete. Sobald der feine Luftzug ihn erreicht, atmet er ganz vorsichtig und sanft ein, studiert den Geruch in der Nasenspitze wie einen alten Bordeaux auf dem Gaumen.

Natürlich mag er Frauengerüche besonders gerne, denn Kinder riechen häufig nach weichem Zwieback, und von Männern breitet sich zumeist dasselbe Rasierwasser aus, oder es sind bei ihnen nur die Faulsäuren schlecht getrockneter Jacken wahrnehmbar. Ihn interessiert eigentlich nur der Körpergeruch, nicht ein aufgetragener Duftstoff, doch bei Gesichtscremes gegen trockene Haut kann er sich nur sehr selten ganz verweigern. Das ist vielleicht so, weil er sich Frauen seit jeher nur in engstem Zusammenhang mit Cremes aller Art vorstellen kann. Er befürchtet manchmal sogar, dass das, was er zweifelsfrei als genuinen und zudem betörenden Frauengeruch festgestellt hat, vielleicht doch bloss das Ergebnis einer Kombination von Düften ihm noch unbekannter Pflegemittel und Kosmetika sei.

Manchmal sitzt Herr Tobler den ganzen Nachmittag über im freskenüberhangenen Lesesaal der Stadtbibliothek und liest, unter all den lernenden Studenten, einen geschichtlichen Roman über Intrigen in verblichenen Kaiserdynastien, oder eine Geschichte mit Protagonisten, die über ihr Leben sinnieren. Er las einmal bei einem Autor von der abstrakten, freien Zukunft, die der Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenensein gegen die konkrete, bestimmte, unveränderbare Zukunft eintauschen muss. Und weil er über seine eigene abstrakte Zukunft nicht hatte verhandeln wollen, weil sie ihm dann einfach abhanden kam, fühlt er sich bei Studenten wohl, bei diesen Inbegriffen des hinausgezögerten Könnte-Seins.

Zwischen den Zweierlesepulten gibt es auch in der Bibliothek einen Mittelgang, in dem Durchschreitende die Luft aufwühlen und für kurze Zeit mit ihrem Geruch anreichern. Manche riechen nach gekochtem Öl und altem Zigarettenrauch; andere wiederum nach ihrem Kopfkissen oder ihrem Feinwaschmittel. Hat Herr Tobler Glück, so setzt sich eine fein duftende Studentin neben ihn (er kommt vorsichtshalber schon in der Mittagspause, wenn noch die meisten Pulte ganz unbesetzt sind; so muss nicht er um einen Platz bitten), wobei er hier (es geht ja um den ganzen Nachmittag) auch mit guten Parfüms Vorlieb nimmt. Er streicht ab und zu eine besonders gute Passage seines Buches mit grünem Leuchtstift an, um sie später wieder zu finden; obwohl er weiss, dass er sie nie mehr suchen wird, dass er das nur hier tut und nur, um sich dem wissenschaftlichen Tun um ihn herum anzugleichen.

Damit sich seine Nase nie zu sehr an den Duft seiner Nachbarin gewöhnen kann, wischt er sie regelmässig gründlich mit einem Tuch ab und schnuppert dann von neuem; unhörbar langsam durch die Nase, mit dem Gesicht tief in den Textzeilen. Er liest nie sehr viel, denn in der Ruhe, die ihm hier verordnet ist, bringt ihm der andauernde Duft der Nachbarin mit all seinen Facetten Gedanken und Erinnerungen, die ihn forttragen.

drang.

Wo, wo nur mag dieser Drang herkommen, der mich so häufig erfasst – dieser besitzergreifende Gedanke daran, genau das zu tun, was mir Anstand und Sitte gleichmässig absolut verbieten? Was bloss amüsant sein könnte, wird mir zur Qual; aus lauter Angst, es könnte der unsichtbare Gedanke in meinen Augen aufscheinen, oder er könnte sich gar in einer Tat materialisieren.

Die älteste Erinnerung, die ich daran habe, geht auf meinen gefühlskalten Trompetenlehrer zurück, den ich auch wegen seines Rauchermundgeruchs hasste und dessen grösstes Lob sich auf ein aus dem Hals gedrücktes ‚brauchbar’ beschränkte (natürlich spielte ich nie besser, das sehe ich heute ein, doch so viel Wahrheit schuldete er mir nicht; er wurde privat bezahlt). Er hatte nie Hoffnungen, die sich mit mir verbanden, er verwaltete mich bloss.

Und ich, der ansonst brave Zwölfjährige mit Motivationsschwierigkeiten, was die Regelmässigkeit des Übens und das Üben überhaupt betraf, stellte mir oft vor, was wohl wäre, wenn ich diesem Musikpädagogen in seiner immergleich militärisch-trockenen Laune plötzlich aus dem Nichts heraus – gerade, als wir unsere Hände zum Abschied schütteln und ich meinen Blick vor dem Gehen senken müsste – meine Meinung erklärte: Du verdammtes Arschloch, du. Halt endlich deinen hässlichen Mund, ich finde dich äusserst erbärmlich, du stinkender Affe. Was passieren könnte, wenn ich unvermittelt das langjährig eingeübte Spiel aus resignierter Kritik und resigniertem Schweigen in den Zäunen bürgerlicher Höflichkeit unterbräche und das täte, womit er nicht rechnen musste.

Und über all die damals ewigen Jahre, in denen ich noch den schweren Instrumentenkoffer zur Musikstunde trug, bis ich endlich sechzehn war, konnte ich mir nie auch nur ein einziges Mal vorstellen, wie die derart eskalierte Situation sich weiterentwickeln könnte. Ich hatte schlichtweg keine Ahnung, ob er verdattert dasitzen, mir eine scheuern, das Ganze ignorieren oder in aller zusammenklaubbarer Vernunft ‚so nicht!’ murmeln würde. Das einzige, worüber ich sicher war – und genau deswegen faszinierte mich auch das Gedankenspiel; mir lag im Übrigen nichts daran, dass er meine Meinung so direkt erführe –, war die Erkenntnis, dass es für solche Situationen kein Protokoll, keine Regeln mehr gäbe. Man befände sich im Raum des freien Falls, oder der freien Improvisation (wie er sie mir in der Jazzmusik nie beibringen konnte).

Ich weiss wohl, dass es immer Schüler gab und geben wird, die keinerlei Skrupel verspüren, ihren Lehrern so zu begegnen – früher wurden sie in alle Farben geprügelt, und seit der Abschaffung solcher Massregeln muss sich eine neue pädagogische Reaktion erst noch allgemein durchsetzen. Für mich aber wäre solches undenkbar gewesen, ausser Frage, im eigentlichen Sinne unerhört: Ich galt nie als flegelhaft, sondern beugte mich in Schule und Gesellschaft ängstlich allen Förmlichkeiten, um wenigstens aus diesem Nichtauffallen, aus der sittlichen Unantastbarkeit, Freiheit zu schöpfen. Daher bezog mein Gedankenspiel mit ein, dass mein Trompetenlehrer nicht damit rechnen, darauf gefasst sein konnte, dass ich etwas derart Unanständiges, Verletzendes, äussern könnte, und dass er daher in seinem gesamten Kulturverständnis erschüttert werden würde. Und den schwerelosen Raum, in dem wir alsdann gestanden hätten, hätte ich zu gerne einmal erkundet; doch ich konnte mich stets beherrschen.

Wenn ich heute mit Herren, die deutlich älter sind als ich, und die Würde tragen oder getragen haben, am Apéro-Stehtisch plaudere, mit ihnen diniere oder bloss Kaffee trinke, kommt dieser schelmenhafte und ketzerische Gedanke häufig wieder. Ist die Vorstellung harmlos, so stelle ich mir mitunter zwanghaft vor, wie ich den, der mir gegenübersitzt, ohne Vorankündigung, innig und mit grosser Kraft auf den Mund und in den Mund küssen könnte. (Das geschieht meist dann, wenn ich den Mann für das, was er ist und sagt, schätze und ich ihn mag, weil er in mir die Gegenstücke zur väterlichen Liebe weckt.) Schon dies bereitet mir grosse Mühe dabei, zugleich mit meinen Gedanken auch in der Linie unseres Gesprächs zu bleiben. Ist der Gedanke böser (was bei ebenso lieben Menschen geschehen kann), so suggeriert er mir, ich solle eine Ausführung meines Gegenübers, die sich durch besonders bestechende Eloquenz kennzeichnet, mit der einen oder anderen Vulgärbezeichnung für Körperausscheidungen oder sekundäre Geschlechtsmerkmale quittieren. Oder er rät mir gar, mitten im Gourmetlokal auf einmal aufzustehen, meine eigenen Organe zu entblössen und die Gemütlichkeit des Gesprächs dergestalt zu vernichten.

Ich habe das alles noch nie getan, und ich halte es trotz aller Angst für unwahrscheinlich, die Kontrolle inskünftig zu verlieren. Aber dieser Gegendrang - dieser Wille zur Zerstörung mühselig errichteter sozialer Papierhäuser durch loderndes Feuer, der dann am liebsten kommt, wenn ich die Steifheit meines Rückens vergessen und mich wohlzufühlen begonnen habe, gerade wenn auf höchstem Niveau die rare Kunst der angeregten Konversation gelingt - der beschäftigt mich. Dieser Spiegel, dieser Schatten des Anstands, diese Rache meiner Psyche, werde ich wohl aus meinem Bewusstsein nicht mehr vertreiben können.

winterschnelldurchlauf.

Nun zier dich nicht, damit gewinnst du nichts, nicht einmal dich selbst. Komm her, zeig deinen Kopf. Man müsste Bilanz ziehen, man müsste sich eingehend befragen, man müsste endlich wieder den Platz finden, von dem aus man beobachten kann und was zu sagen hat, man müsste immer besser werden; sagst du. Dein Kopf ist ja ganz wirr, deine Stirn glüht beinahe; beruhige dich doch endlich, jetzt, wo du Zeit dafür hast. Du musst nicht den ganzen Berg auf einmal verschieben wollen, sonst stehst du ewig an der Wand. Na, komm, steh auf und gehe ein paar Schritte. Ein bisschen selber musst du schon stehen, im Liegen bist du zwar unschuldig, aber auch unbemerkbar, irgendwie unbedeutend.

Vorhin, eine Weile nach dem frühen Sonnenuntergang, ist vom Fluss her Nebel aufgezogen; er ist durch die Strassen gezogen und an den Häuserwänden emporgestiegen, bis er über den Dächern gefror und in staubfeinen Körnern zu Boden fiel und nicht schmolz. Innerhalb einer Viertelstunde war alles, der gefrorene Strassenboden mit den Salzspuren, die kahlen Bäume, die farbigen Autos und die überfüllten Metallabfallkübel, mit weissem Puderzucker überdeckt. Der Teerbelag wurde glitschig, und alle mussten ihren Schritt verlangsamen. Es gibt immer weniger Wasser in den Flüssen, Himmel und Boden sind erstarrt, und der Winter soll noch lange dauern. Manche sagen, sie mögen den Schnee nicht in der Stadt, nur auf den Pisten; und jetzt mag selbst ich ihn nicht mehr, denn er ist von fast überallher vertrieben worden und liegt nur noch als steifgefrorene und von Staub und Splitt schwarz überdeckte Moräne an der Bordsteinkante. Sektkorken und pinkfarbene Handzettel liegen da und dort darauf. Der gefallene Nebel wird das Grau für ein paar Stunden vertreiben, ehe er wieder verschwunden ist.

Die Zeit war nicht geil; ich selber aber ab und zu gleichwohl. Vielleicht kein Wunder, dass mir, wenn mir alles vergeblich wird, wenn mich von überallher die Nutzlosigkeit angähnt, nur Geilheit und Bequemlichkeit übrig bleiben. Und danach kommt nur mehr ein ratloser Blick auf die Bauchdecke, wenn ich merke, dass der Hunger durch Essen nicht mehr zu besiegen ist. Der Bauch hebt und senkt sich mit den Atemzügen, und die Brust erzittert unter den Herzschlägen; doch das ist alles, was mich bewegte.

Ich glaube, irgendeinmal wurde es dann auch Weihnachten. Selten habe ich sie so wenig kommen sehen; selten habe ich so erfolgreich verdrängt. Vielleicht aber auch lagen einfach schon viel zu lange die Nüsse und Mandarinen in der Fruchtschale, blinkten schon viel zu lange die Rentierfiguren aus den Fenstern, als dass ich, endlich im Dezember angekommen, darin noch etwas Besonderes hätte entdecken können. Es gab am Heiligabend natürlich dieselben Schnittwurstsorten wie immer, nur der Preis der Lyoner war wieder gestiegen. Eine kalte, bescheidene Platte, in der unsere Verhältnisse vor dreissig Jahren eingefroren worden sind. Heute könnte man sich natürlich jedes beliebige Fleisch in grossen Mengen leisten.

Die meisten Leute, die mit uns in der Kirche sassen und bekannte Lieder sangen, wuchsen in genau solchen Zeiten auf, als noch nicht alles möglich, bestellbar, erhältlich, erreichbar war. Sie hatten damals Wünsche an Weihnachten; wir kennen vorab Ansprüche und Wahrscheinlichkeiten. Sie freuten sich über Fleisch, sie liebten des Bratens Fettschichten, sie sorgten sich nicht. Zusammen lauschten wir zwischen den Gesängen den Erzählungen von den guten Dingen im Kleinen und im Grossen, die die schlechten besiegen würden; wir hörten, dass wir ausserordentlich grosses Glück gehabt hätten, und das seit nunmehr über zweitausend Jahren. Und ich dachte mir, vielleicht müsse das einfach so sein, dass man sich zwar das ganze Jahr nichts einbildete und die Gifte der Welt spie und schluckte, dass man sich aber wenigstens daran trösten konnte, an Weihnachten wenigstens ernsthaft versichert zu bekommen, dass man eigentlich Glück hatte.

Und ein paar Stubentage darauf feierte man das neue Jahr; ein Datum, dem längst insgeheim mehr ideelle und faktische Bedeutung zukommt als Weihnachten und Ostern zusammen. Ich habe muffig und gelangweilt gefeiert, weil ich müde war vor lauter Angst, durch Muffigkeit an langweiligem Silvester ein schlechtes Jahresomen zu setzen. Zumindest bringt das Neujahr eine Öffnung, währenddem die Zeit davor dem Abschluss gilt. Wie vieles schiebt man auf das kommende Jahr, wenn das gehende nicht mehr lange lebt, wie müssig erscheint jeglicher Anfang, wenn Sonne und Kalender sich dem Tief- oder Endpunkt nähern.

Früher, bevor diese kurzlebige Zeit anfing, hatten die Dinge noch Gewicht, noch einen Wert. Das hörte ich im Radio, als ich über die Neujahrstage nicht mehr machen mochte, als in der Küche zu sitzen und dem Programm zuzuhören. Vielleicht ist es auch einfach schwerer zu erkennen, was heute von Gewicht ist. Wer soll es heute wissen, wo man viel mehr erfahren kann, als je einer wissen könnte? Man weiss, dass man im Moment leben soll, doch hat es sich als sehr schwierig erwiesen herauszufinden, welche kurz- und langfristigen Strategien einem im Moment selber die grösste Befriedigung verschaffen. Überhaupt muss die Klage von der Kurzlebigkeit so alt sein wie die Veränderung überhaupt. Und doch spürt man es allenthalben – das wenigste von dem, was schnell kommt und wieder geht, kann Gewicht akkumulieren, Bedeutung erhalten. Und was von Maschinen oder Computern tausendfach hergestellt werden kann, atmet nur kalt; wir schätzen es nie wirklich und werfen es nötigenfalls ohne jegliche Traurigkeit weg. Gewicht hat vielleicht noch eine Begegnung mit Superstars, oder ein noch extremer ausgefallener Urlaub; aber auch das bald nicht mehr. Wir fliegen also durch den leeren Raum, und wir suchen nach Gewichten, die unser Herumflirren verlangsamen könnten. Als Trost bleibt nur die Hoffnung, dass die Gegenwart immer unsicher war, und die Gewichte immer erst später, für die Geschichtsschreibung, gegossen wurden.

Ich schritt und fuhr in letzter Zeit durch viele Bahnhöfe, durch die kalter Wind zog und in denen alle Leute mit Koffern und Einkaufstaschen beladen waren, Kopfhörer trugen und mit Telefonen hantierten. Ich nahm einmal mehr das kleine, weisse Frotteetuch aus dem Schlafwagen mit und fragte mich, ob man es nicht doch vielleicht auf dem Bett liegenlassen müsste. Ich fragte mich auch ständig, wie ich so viel hatte schreiben können. Ich fragte mich das genau so, wie ich immer überzeugt bin, etwas nicht mehr zu können, wenn ich es in dem Augenblick gerade nicht tue. Dabei wollte ich bloss die Frage vermeiden, warum plötzlich alles so vergeblich und lachhaft scheinen musste. Diese Vergeblichkeit hat immerhin den Vorteil eines süssen Fatalismus, auf dem ich reiten und viele Dinge tun kann; doch hat sie keinen Biss, sie hebt nichts hervor.

Ich habe so oft die Dinge betrachtet, und ich habe unter ihrem Schweigen gelitten. – Du hast nicht mehr zu ihnen gesprochen, das bestraften sie noch immer mit Stille. Lassen wir es, du wirst dich schon aufrichten, ich bin vielleicht auch manchmal ein bisschen streng zu dir. Es ist ein strenger Winter.

nur.

Nur ein klitzekleines Ding, nur ein Etwas, das gerade eben kein Nichts mehr ist und noch nicht einmal eine Farbe hat, nur einen nackten Punkt, das hätte ich oft zeichnen wollen. Doch selbst das wäre mir noch als eitler Tand erschienen.

Mittwoch, 21. Dezember 2005

zugfenstergedanken.

Man wird sagen können, und dafür stilles Zunicken ernten, dass die Leute sich rasch daran gewöhnten; damals, als das absolute Verbot des Rauchens auf sämtliche Eisenbahnwagen ausgedehnt wurde. Genauso, wie man im Lift schon lange nicht mehr daran dachte, eine Zigarette anzustecken, und man es auch bei einem Bewerbungsgespräch wie selbstverständlich unterliess, genauso dachte man im Zug schon bald nicht mehr ans Rauchen, das nur noch unter freiem Himmel zu sehen war. Immer mehr spürte man, so wird man sagen können, dass Züge kein Ort sind, an dem man rauchen kann, denn man roch nichts mehr, und man sah niemanden rauchen. Und an solchen Orten war man ohnehin im Allgemeinen sehr vorsichtig geworden; man war damals sehr empfindlich für die Blicke anderer. Man wird sagen können, dass man vielleicht seine Gewohnheiten ein wenig verlagerte und bald ganz einfach nicht mehr daran dachte. Schriftsteller und Kolumnisten hätten während einiger Zeit noch nostalgisch den Verlust beklagt, dass man nun nicht mehr den feinen Rauchfäden zusehen könne, die vor dem grossen Fenster emporstiegen, wie sie bei all der vorbeischiessenden Landschaft ihre eigenartige Ruhe bewahrten. Andere wiederum hätten noch eine Zeit lang entnervt davon geschrieben, wie sich nunmehr die klassische Kundschaft der Raucherabteile mit all ihren Besonderheiten über den ganzen Zug gleichmässig verteilte. Doch bald darauf, wird man sagen können, sei es ruhig geworden.

In Österreich stifteten letzthin Raucherabteile in schweizerischen Eurocitywagen Verwirrung, da die Aschenbecher noch nicht verklebt waren, die Piktogrammzigarette an der Wand über der Tür indes schon rot durchgestrichen war. Einer nahm sich sein Recht in seinem Land, rauchte viel und liess die Kopfhörer scheppern; er erzürnte sogleich andere, die im Vertrauen aufs Verbot schräg vor ihm Platz genommen hatten. Dass in einem Provinzbahnhof zwei Polizisten einstiegen, ein paar Pässe kontrollierten und den stetig Rauchenden durchsuchten, im Computer nachschlugen und schliesslich mitnahmen, hatte jedoch sicherlich andere Gründe.

Ich habe heute im Zug während vierzig Minuten ein berühmtes Energiegetränk gerochen, das sich mein Wagennachbar einflösste. Und in Spitälern sind die meisten Mitarbeitenden weiss angezogen; nur beim Putz- und Küchenpersonal gibt es grössere und kleinere farbliche Abweichungen. Selbst der Lift wird im Spital desinfiziert, es riecht da wie an den Händen eines Zahnarztes bei der Arbeit. Im Krankenhaus sind alle auf einer Plastikplakette angeschrieben, welche das moderne Logo des Spitals trägt. Man erfährt ihren Namen und ihre Funktion. Sie lächeln häufig, wenn man durch die Gänge geht; sie erledigen eine Vielzahl anspruchsvoller Berufe und sind sehr freundlich, wenn sie im Zimmer vorbeischauen. Sie haben alle ihre Geräte und Techniken, und sie sagen immer, was sie mit einem machen werden; immer fragen sie, ob sie das dürften. Sie stehen Schlange, treten einer nach dem anderen ins Zimmer und verrichten ihren Dienst am Körper, und manchmal auch an der Seele. Sie erdenken sich sogar, mehr Butter an die Nudeln zu geben für einen Körper, der verhungern will.

bettfreundschaft.

Ich muss wieder Freundschaft schliessen mit meinem Bett. Ich muss ihm die Zeit widmen, die es von mir will. Ich muss es sachte umarmen, und ich muss im Frieden zu ihm gehen, wenn ich schlafen will. Ich muss annehmen, was es mir an Gedanken und Träumen geben will. Ich muss es heiter begrüssen, dann werde ich es heiter verlassen.

Denn der beste Moment ist der vor dem Einschlafen, in dem die Gedanken noch verständlich, aber nicht mehr beherrschbar sind - in dem neue und verquere Gedanken herumschwirren in der Müdigkeit und sich manchmal im Geäste des Vorhandenen verfangen. Dass diese Gedanken so oft gleich wieder zerfallen, sich so rasch verflüchtigen und verlieren, ist diesem Moment zwischen den Welten geschuldet, das darf nicht verstören.

Dienstag, 20. Dezember 2005

weihnachtsansprache.

Sie mögen es vermutet haben, verehrte Leserinnen und Leser. Ich bin kein Freund von Weihnachten, noch mag ich die Vorwirkungen dieser Veranstaltung besonders. Warum Sie das gemerkt haben sollten, fragen Sie? Sie unterschätzen ganz einfach, wie sehr ich das Gefühl habe, offen zu Ihnen zu sprechen, wenn ich hier schreibe. Nicht, dass ich das schon irgendwie angedeutet hätte, doch dachte ich einfach, dass Sie aus meinem zeitweiligen Gezeter auf Weihnachtshass [meine Schreibsoftware unterstreicht dieses Wort nicht einmal mit rotgewellten Linien!] geschlossen haben könnten.

Ich kann Ihnen nicht alles auf einmal schildern, was mich dazu führt, eines der höchsten Feste im Christenkalender nicht zu mögen; das wäre langweilig. Und am Schluss würde ich womöglich entdecken, dass ich gar keine hinreichenden Gründe für meine Abweisung zusammenkriege, dass ich mich dafür gar nicht zu rechtfertigen vermag (obwohl ich niemanden davon überzeugen möchte) – und das ginge mir nun wirklich gegen den Strich.

Wenn ich Ihnen nun eine Ansprache bzw. Anschreibe halte, dann bloss deswegen, weil ich es mir nicht verkneifen kann, mich scham- und gewissenlos der schon fortgeschritten korrodierten Symbolik dieses Anlasses ‚Weihnachten’ (auch noch) zu bedienen. Ich stelle mich klammheimlich in den kümmerlichen Rest des Glanzes dieser für uns alle kindlich-emotional aufgeladenen Wortkombination und danke Ihnen ganz einfach für Ihre Zuneigung zu diesem Blog. Sie geben mir viel.

Das wäre eigentlich alles. Das wäre auch für diesen Text ein schöner Schluss gewesen, finde ich. Nun habe ich ihn aber verpasst. Aber eines wollte ich Ihnen ohnehin noch sagen. Man spart sich ja das, vor dessen Aussprache man sich fürchtet, gerne für den Schluss. Und man hofft vielleicht auch, dass ein schöner Schluss kommt, und dass man es dann immer noch nicht gesagt hat, dass man noch einmal davongekommen ist. Oder dass man das Gegenüber wenigstens so lange duselig geredet hat, bis es alles entgegennimmt. Aber das wäre ein anderes Thema.

Sie wissen mittlerweile, dass ich nicht immer mit gleicher Intensität schreiben kann, und ich danke ihnen ganz besonders auch dafür, dass Sie mir das nachsehen.

ohrensessel.

Ich bin in einer Stadt gewesen, die mich am frühen Morgen mit Leuchtreklamen begrüsste, als ich aus dem Bahnhof trat. Die Farblichtbuchstaben waren weit weg. Sie hingen an den Mauern, standen auf den Dächern hinter dem riesigen Platz, den die wuchernden Verkehrswege in Beschlag genommen haben. Die Buchstaben waren riesig und gut lesbar. Sie sagten: ‚Ich bin hier, und ich beleuchte die Wolken am Himmel, denn ich will, dass du mich siehst!’ Haushohe Plakate, die für Ausstellungen altehrwürdiger Bilder warben, wurden vom Boden aus von Scheinwerfern beleuchtet. Und in deren Lichtkegeln tanzten kleine Schneeflocken der Kunst zu Ehren Ballett.

Ich bin in einer Stadt gewesen, die sich immer selbst genügte; sie trug ihren Stolz manchmal zurecht, und manchmal zuunrecht, doch sie liess sich nie beirren. Das machte sie gemütlich, grau, unaufgeregt und selbstsicher. Zugleich sah und spürte ich allerorten in sich selbst versunkene Betriebsamkeit; einen seltsamen, höchst uneitlen Ehrgeiz, Neues zu erforschen und aus Steinbergen Häuser zu bauen. Auch heute soll die Stadt, will man ihr glauben, in den neuesten Feldern des Allerneusten hoffnungsbeladene Saaten platziert haben. Und wie immer schon sucht die Stadt das Schöne und Kunstvolle. Nirgendwo sonst in Europa kriegt man so viel Förderung, bekannte mir einst eine angehende Kunstmanagerin. Überall ist hier Kunst, ein jeder ist ein Künstler.

Und in all dieser Kunst schritt ich nach dem Kinobesuch, der zum erwarteten Magengrubenhieb geworden war, in dunkler Strasse verrussten und verklebten Kellerfenstern entlang; ab und zu konnte ich noch in Quartierkneipen blicken, deren Biermarkenschilder erloschen waren. Der Himmel, der das ewige Stadtlicht reflektierte, war heller als mein Gehsteig. Ich blickte unvermittelt zu meinen Füssen, welche gerade über einen nassen Hochglanzprospekt mit weisser Damenwäsche schritten. Von da an fühlte ich mich alleine.

Weiter vorne blieb ich vor einer mit Bauschranken abgesperrten Häuserlücke stehen. Eine Strassenlampe und der Mond beleuchteten das städtische Nichts, auf dem ein Haus gestanden hatte, und ein neues wieder stehen würde. Braune Erde, ein paar verdorrte Pflanzen und ein Haufen mit Bauschutt. In der Mitte des Hohlraumes stand ein alter Ohrensessel mit schwarzen Schimmelstreifen auf dem Stoffüberzug. Er war genau auf den Betrachter, der von der Strasse her hereinschaut, ausgerichtet. Man konnte erahnen, dass seine Positionierung Absichten verraten sollte. Und ich glaubte, dass er seine Ruhe selbst dann nicht verloren hätte, wenn sämtliche Häuser um uns herum eingestürzt wären.

Diese Stadt schmerzt mich bei Kurzbesuchen; ich habe hier gelebt, doch nun blickt sie mich bloss kühl an wie einen dümmlich herumstaunenden Touristen. Wenn du immer nur so hastig vorbeikommst, sagt sie mir, dann kannst du mich mal, hörst du? So gerne wohnte ich wieder hier, oder da - und könnte wieder in Ruhe den Details folgen, die sich von Besuch zu Besuch in Massen ändern. Der grauglänzende, farbabweisende Anstrich auf dem Brückenbeton, wo ich noch politische Graffiti gelesen hatte. Die neuen Hinweiskleber in der Strassenbahn in fremdartigen Sprachen. Die neuen Kellner in meinem Café, die die früheren nicht einmal mehr kennen. Die Baustelle auf dem grossen Platz, die sich weitergefressen hat und nun plötzlich altbekannte Wege auf Umleitungen drängt. Und so gerne würde ich das Licht der Wintersonne, das in den engen Gassen an allen unerwarteten Orten auftaucht, immer wieder sehen.

prinzipien.

Konrad ist ein Mensch, der Angst hat. Angst vor der Welt. Er wird bald heiraten; heute war er zur Erledigung der Formalitäten auf dem Standesamt. Angst vor der Welt kommt in allen Schichten vor, wahrscheinlich gleichmässig verteilt. Auch vor seiner aus gleicher Schicht stammenden Zukünftigen hat er Angst; jedenfalls dann, wenn sie besorgt zu ihm in die Küche ruft, wo er gerade etwas zu sehr mit dem Geschirr klappert: „Ach, Konni, lass das doch, ich mach’s dann schon!“ Aber diese Angst ist ihm um vieles lieber als andere Ängste, die draussen, ausserhalb dieses lichterkettenbehangenen Villenquartiers, lauern und über ihn lachen.

Man merkt Konrad seine Angst nicht an; alles liesse darauf schliessen, dass er sich wohl fühlt und er in der beruflichen Position, die er seit Jahren nicht aus den Augen lässt, sich irgendwann einmal in Zufriedenheit würde baden können. Doch das ist nicht gesichert. Denn letztlich geht es ihm nicht um diese bestimmte Einordnung in seiner Berufskaste und der allgemeinen Gesellschaft, sondern nur darum, die Ansprüche, die er um sich herum und in sich drinnen spürt, aufzufangen und zum Schweigen zu bringen. Konrads Vater ist an einer Stelle angelangt, welche seine ausserordentliche Fähigkeiten und seine Hochintelligenz ex officio beglaubigt; Konrad selber hingegen ist nur ganz gewöhnlich intelligent. Er fragt nicht gerne nach, das kommt ihm nicht in den Sinn. Er weiss, dass er das, was er weiss, meist nur gehört oder gelesen hat, doch er mag nie nachfragen.

Wenn Konrad erzählt, lehnt er sich zurück in die Breite des Sofas und streckt beide Arme zur Seite hin von sich. Er klatscht mit den Handflächen auf die Lehne, legt seinen Kopf nach hinten und blinzelt über die unteren Lider hinweg. Er spricht über die Schlechtheit von Politikern und Staatsbediensteten; er legt dar, warum er mit dem und jenem in seinem Umfeld brechen musste. Er hat strenge Prinzipien, und das nicht ohne Gründe, wie er sagt. Viele Menschen haben bereits gegen diese Grundsätze verstossen, und darum musste er sich von ihnen abwenden. Manche haben sich vielleicht selber widersprochen und plötzlich mit der geschlafen, die sie vorher blöd fanden. Manche haben vielleicht ihm etwas versprochen und ihn dann trotzdem enttäuscht. Manche haben vielleicht einfach den Fehler gemacht, ganz anders zu sein als er, oder ihn nicht besonders zu mögen. Alle sind sie in seinen Berichten ein wenig wie dumme Meerschweinchen; sie können alle etwas nicht, das er hingegen kann.

Konrad fürchtet sich auch vor Menschen, die von weit herkommen oder deren Ahnen von weit herkamen. Auch wenn sie ihm in seinem Büro nur spätabends, als Putzkräfte entgegentreten. Er fürchtet sich auch vor denen, die nichts haben und herumlungern. Er weiss das zwar nicht, denn immer schon stand er breitbeinig, hier an diesem Platz. Aber er traut niemandem und fürchtet um seinen Platz, weil er weiss, dass er diesen vererbt bekommen hat, und weil er in sich spürt, dass er nichts dafür konnte. Konrad liebt sein kleines Wohnzimmer mit den roten Ledermöbeln, mit der baldigen Ehegattin und mit dem Diplom im Glasrahmen, in dem seine Prinzipien und Regeln ihn vor der Verletzung seiner Gefühle bewahren.

Montag, 12. Dezember 2005

dekret.

Erlauben Sie, mein König, dass ich Ihnen das Dekret nochmals verlese, bevor Sie es signieren. – Nein, nein, ich kenne es wohl, Herr Justizminister, ich kenne es sehr gut. Es verbietet allen Männern auf meinem Hoheitsgebiete, zu Tag und zur Nacht, jegliches Trinken geistiger Getränke, unter der Androhung schwerer Strafen, die bis zur Verbannung reichen können. – Oh ja, mein König, Sie haben das genau erfasst. Darf ich Ihnen noch einen Whisky reichen, bevor Sie unterzeichnen? – Ja, bitte, sehr gerne, lassen Sie nur nachschenken! Sagen Sie, Herr Minister, genau genommen (und ich habe mir das wirklich lange überlegt!), müsste man nicht fast behaupten, dass mit diesem Dekret auch mir das Trinken verboten werden könnte? Schliesslich befinde ich mich ja auch zumeist auf meinem Territorium, wenn ich nicht gerade auf Seereise bin. – Mein König, Sie zeigen Hang zu groteskestem Scherz; natürlich kann dieses Gesetz nicht auf Sie angewandt werden. Sie sind doch damit überhaupt nicht gemeint! … Sie sind ja auch kein Trinker, Sie trinken kultiviert. – Nun, ich sehe, was Sie meinen, Herr Minister, Sie sind ein weiser Mann. Sie treffen haarfeine Unterscheidungen, die aber dann doch bloss ihr Juristen versteht. … Ich aber sage Ihnen: Wir leben hier in einem Rechtsstaat, und ich dulde nicht, dass der König irgendwelche Privilegien geniesst. Und darum fordere ich Sie auf: Ändern Sie diesen Rechtssatz, ich möchte nicht anders behandelt werden als mein Volk. – Natürlich, mein König, wir werden eine neue Vorlage ausarbeiten, welche bloss das verwahrloste Trinken unter Strafe stellt. – Ich wusste es, ich wusste es, dass Sie es besser können, Herr Justizminister! Gehen Sie, und empfangen Sie Ihre gerechte Belohnung.

danneinmal.

Meine schwarzen Fingernagelenden? Mein Missmut, meine Arroganz? Meine Ziellosigkeit, meine Mittelmässigkeit? Meine Zufälligkeit, meine Hinfälligkeit? Mein Mundgeruch, meine Bequemlichkeit, meine Unzufriedenheit? Meine Zweifel, meine Ängste, meine Endlichkeit? – Egal, scheissegal, all das wird verschwunden sein, oder nicht mehr wichtig sein. Wenn ich nur mal in den Medien, wenn ich nur mal berühmt gewesen sein werde.

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wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
dem gedanken folgen.
sobald ich versuche, alles in mehr oder minder stummes...
moccalover - 19. Nov, 22:36
unternehmensethik.
es ist doch nicht das unternehmen, das ethisch sein...
moccalover - 19. Nov, 22:34
und was das heisse, wenn...
und was das heisse, wenn jemand jemand sei.
moccalover - 19. Nov, 22:33
danke. wenn nur die umsetzung...
danke. wenn nur die umsetzung so einfach wie die erkenntnis...
moccalover - 19. Nov, 22:31
wer das eigentlich sei
wer das eigentlich sei
Reh Volution - 10. Nov, 07:32
da steckt viel wahrheit...
da steckt viel wahrheit drin.
me. (Gast) - 7. Nov, 21:10
danke!
danke!
moccalover - 6. Nov, 00:20
das verbrechen.
Das grösste, das ursprünglichste und verheerendste...
moccalover - 6. Nov, 00:05
nah und fern.
Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
moccalover - 6. Nov, 00:05
selbstbewusst.
selbstbewusstsein heisst nicht, sich überlegen zu fühlen nicht,...
moccalover - 6. Nov, 00:04
die vorstellung und das...
gibt es etwas Schöneres, als etwas unvermittelt zu...
moccalover - 6. Nov, 00:02
um zu
um zu
Reh Volution - 12. Okt, 08:12
um mich herum.
Das Leben. Ein Schlüssel, der mir Haus und Wohnung...
moccalover - 12. Okt, 00:43
Sandwichs.
Du hast jemand, der für dich Sandwichs streicht. Da...
moccalover - 2. Sep, 22:53

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