pfefferminztee.

Von allen Seiten her muss Herr Tobler Blicke in Kauf nehmen; sein quadratischer Tisch steht mitten im Raum. Normalerweise sitzt er am grossen Fenster. Nun war nur dieser Tisch noch ganz frei. Denn – jemanden an den grossen Tischen mit den vielen freien Plätzen anzusprechen, das hat Herr Tobler sich nicht gewagt. Er weiss, dass die Leute, die dort sitzen, sich nicht wirklich kennen, doch zugleich scheint ihm eindeutig, dass sie sich eben doch alle irgendwie bekannt sein müssen. Er hingegen hat keinerlei Anknüpfungspunkte zu bieten.

Er ist gerade mit dem Zug angekommen und hatte eigentlich keine Lust mehr darauf, Leute zu sehen, mochte aber auch nicht heimgehen. Ein altgedienter Erstklasswagen seines Zuges hatte Klebezettel an den Fenstern getragen: „Deklassiert“. Und Herr Tobler war in stiller Vorfreude auf den geschenkten Zusatzgenuss zur Eingangstüre marschiert, doch die Plätze waren alle besetzt gewesen von anderen Zweitklasspassagieren, die ihre Eroberung sichtlich genossen. Herr Tobler ist in einen fast leeren Zweitklasswagen ausgewichen und hat sich während der ganzen Fahrt in gekrümmter Haltung im Sitz versteift.

Er liest schon in der zweiten Zeitung, und ab und zu blickt er kurz zur Kellnerin, ohne den Kopf anzuheben. Sie sieht meist woanders hin, auf die Hebel und Gläser, auf ihr Portemonnaie oder in die Augen der Zahlenden. Doch ein paar Mal schon hat sie kurz zu ihm zurückgeschaut. Nicht freundlich, nicht unfreundlich, nicht einmal gleichgültig und vielleicht ein wenig fragend. Normalerweise hätte Herr Tobler es sich bequem gemacht, hätte sich zurückgelehnt und laut geraschelt beim Blättern der Zeitungsseiten. Er hätte sich heimisch gefühlt und stundenlang auf den Gehsteig hinausgestarrt. Normalerweise hätte er eintretenden Gästen freundlich in die Augen geschaut und ihnen vielleicht gar zugenickt. Nicht so heute, er fühlt sich klein und möchte gehen, doch er hat ja noch nicht einmal seinen Tee bestellen können.

Wenn er einfach aufstände und ginge, ohne konsumiert zu haben, sähe das allzu merkwürdig aus, findet er. So kann er erst recht nicht schon wieder weg; Herr Tobler ist sich sicher, dass längst alle im Raum dem fortdauernden Versäumnis der Kellnerin diskret und gespannt zusehen. Sich bemerkbar zu machen, das kommt ihm heute nicht einmal in den Sinn. Die Kellnerin ist von einer Schönheit, die ihn zuerst erschreckt und dann eingeschüchtert zurücklässt.

Und nun kommt sie auf ihn zu, lächelt verlegen und fragt: „Haben Sie noch gar nichts bestellen können?“ - „Nein, doch ich hätte ganz gerne eine Tasse marokkanischen Pfefferminztee, also ich meine, einen mit marokkanischer Minze, Pfefferminze, drin. Bitte.“ – „Ach, das tut mir leid, ich dachte die ganze Zeit, Sie hätten schon längst erhalten! Entschuldigen Sie vielmals, das ist mir sehr peinlich.“ Sie lächelt lieb und versöhnlich. Normalerweise hätte Herr Tobler das genossen. Doch weil er sie nur ausdruckslos ansieht, sagt sie: „Kommt sofort…“ und geht zur Theke zurück.

Was redest du da, sagt Herr Tobler in Gedanken zu ihr, mir ist es peinlich, mir alleine. Du lächelst dich ohnehin verlegen durch den Tag. Aber ich, ich habe mich gefangennehmen lassen, habe deine kleine Unachtsamkeit bar jeglicher Vernunft als Beweis meiner Nichtigkeit, meiner Ohnmacht und als tiefe Verletzung erlebt. Ich bin nicht böse auf dich, was kannst du schon dafür. Aber lass mich bitte in Ruhe, ich mag dir nicht verzeihen. Das schiene mir ganz und gar lächerlich, ist es doch nicht die mangelhafte Dienstleistung, die mich so schmerzt. Das wäre noch das Geringste. Normalerweise würde ich mit dir scherzen, würde vielleicht über uns lachen, doch nicht heute.
TheSource - 9. Dez, 13:37

An Herrn Tobler

und seinem eigentümlichen Charakter habe ich immer wieder meine Freude.

moccalover - 9. Dez, 16:49

Und das wird seinerseits ihn freuen, wenn ich es ihm ausrichte! Passen wir bloss auf; er beruft sich schon heute auf den Herrn wvs, der ihm einen Hauch von Allgemeingültigkeit zuschrieb :-)
TheSource - 10. Dez, 10:08

Das Allgemeingültige

ist bei Herrn Tobler ja das Wundersame. Herr wvs irrt nicht, wenn an dem Charakter noch ein wenig gefeilt werden müsste, andererseits ist es viel schwerer, einen allgemeingültigen Wunderling literarisch zu zeichnen als einen stark profilierten Charakter.
Mein Tipp, so Sie mögen: Zeichnen Sie seine Wunderlichkeiten betonter, bspw. die Linie des Tees, seiner gesammelten Quittungen, wie die Hand nach ihnen greift und was es ihm bedeutet, was er dabei denkt.
Den Gegenpol, den Alltag, haben Sie schon ganz gut skizziert.
moccalover - 12. Dez, 23:28

Danke für die Tipps, Frau Source; das ist dann in der Tat das wirklich Schwere! Ich lerne ihn erst kennen, und gerade die Wunderlichkeiten weiss er gut zu verbergen; denn er ist trotz allem alles andere als dumm. Aber er vertraut mir immer mehr. Und noch eines: Paradoxerweise graut ihm ja davor, wirklich so zu sein wie alle, auch wenn er sich gerne als Beispiel anführt.

Und Sie, Herr wvs, werden hoffentlich auch schon früher einmal wieder vorbeischauen! :-)
Au-lait - 12. Dez, 12:32

Pfefferminztee wegen habe ich einst Aufsehen erregt, weil ich mich genötigt sah, das Wort zu brüllen in dem Café, wo der Kellner scheinbar schwerhörig war. Pfefferminztee ist fein. Ich trink ihn gern. Er war auch Hinwegbegleiter nach Dublin. Feiner Text, anyway! :)

TheSource - 12. Dez, 14:47

So deplaziet es sich anhören mag,

es ist mitnichten deplaziert gemeint:
Kürzlich erörterten kluge Leute im Fernsehen, Pfefferminztee sei beim Mann potenzfördernd und wurde früher als Naturheilmittel gegen Impotenz gegeben.
Ob das Herr Tobler weiß?
moccalover - 12. Dez, 23:32

Gar nicht fehl am Platz! Ob es überhaupt kluge Menschen sind, die im Fernsehen über Potenzsteigerung sprechen, sei mal dahingestellt :-) Jedenfalls ist das Herrn Tobler - wie auch mir - neu. Wir beide denken uns das Übrige und versuchen nun, Korrelationen zwischen vermehrtem Pfferminzteekonsum in der jüngeren Vergangenheit und Phasen körperlicher Unruhe aufzuspüren. Herr Tobler meinte übrigens, dass er dem Pfefferminztee bis anhin ganz einfach die Wirkung zusprach, ihm das Erscheinungsbild eines milden, aber doch interessanten Zeit- und Geschlechtsgenossen zu verpassen.

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