Personen

Donnerstag, 5. November 2009

nah und fern.

Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und langsam lösten sich Hefenebelschwaden vom Flaschenboden und mäanderten das im gebrochenen Licht des Glases braun schimmernde Bier hinunter bis zum geschlossenen Kronkorken, an dem sie sanft abprallten, um zwei, drei letzte Male an Höhe zu gewinnen und schliesslich als neuer Bodensatz am anderen Flaschendene liegen zu bleiben.

Das Ganze erinnerte Leo an eine Apfelsaftflasche, die er mit zehn Jahren in einer Kommodenschublade verstaut und mit vierzehn Jahren schliesslich nach langem Zögern weggeworfen hatte: Darin hatten sich zahlreiche Schimmelpilze und Schleime gebildet, die Leo damals, als er mit vierzehn aufräumte, während langen Momenten durch die Flasche hin und her schweben liess, währenddem er ihnen mit faszinierten Augen folgte und in all diesen verschlungenen Formen zauberhafte Dinge sah, wie man in scharfen Sommerwolken alle Arten von Tieren entdecken kann.

Auch jetzt sitzt Leo hier und starrt auf den Tanz der Schwaden, kippt die Flasche mal hin und dann wieder zurück, versucht Regelmässigkeiten zu finden und gleitet in seinen Gedanken immer wieder ab, um bald sich daran zu erinnern, dass er die Flasche ursprünglich öffnen und leeren wollte.

Grosse Stars haben ihre offiziellen Fansites, eine Myspace-Seite und ein Facebook-Profil. Man kann sie anschreiben, und es antwortet niemand, oder eine PR-Praktikantin, die sich als den Star ausgibt oder sich als PR-Praktikantin zu erkennen gibt. Immer gibt es ein Ventil, es gibt Bilder zu kaufen und Schmusekissen mit dem Star, und es soll vorkommen, dass der Star seinem Fan an einem ungeraden Tag auch schon einmal wirklich persönlich antwortet. Stars sind erreichbar, sichtbar, besitzbar, wenn auch nicht gerade in besonders körperlicher Weise.

Leo aber hatte sich nie etwas aus Stars gemacht, er fand diese Vorzeigefrauen aus den Biologie- und Soziologiebüchern der Übermenschenpropagandisten nie sehr ansprechend, wenn er sich auch ihrem ersten, dem überrumpelnden, Einfluss nicht durchwegs zu entziehen vermochte.

Leo hatte Sophia dank einer Begegnung für sich entdeckt, die ganz durchschnittlichem Zufall entsprach. Er war, als er vom Studentenalter noch nicht so weit entfernt war wie heute, einem Freund zuliebe auf einen offenen Abend einer Studentenverbindung gegangen, sein erstes und letztes Mal an einem solchen Ort. Diese Verbindung hatte hauptsächlich weibliche Mitglieder, es wurde ordentlich, aber nicht zu viel und immer gemeinsam und gesittet, getrunken, und mit Sophia unterhielt er sich vielleicht knappe zwanzig Minuten, und das nicht einmal exklusiv, aber sie hatte durch alles, was sie war, für Stunden und Tage seine Aufmerksamkeit gebunden. Sie war so tief, dass ihre aussergewöhnliche Schönheit dagegen geradezu im Schatten stand. Er war erstaunt, jemanden wie sie gerade hier zu treffen, aber das steigerte nur sein Vergnügen, und er hielt das gar nicht für aussergewöhnlich, sondern nur sich selber für bisher zu naiv und eingefahren.

Nie hatte er sie seitdem wieder getroffen, obschon das wohl möglich gewesen wäre, wenn auch nicht gerade sehr wahrscheinlich. Möglich wäre es schon gewesen, weil die Stadt, wo sie arbeiteten, nicht sehr gross war.

Aber er hatte sie gesehen, da und dort auf Photos, hatte ihre Texte gelesen, und verfolgte ihren Werdegang und ihre Engagements. Sie musste gut sein und ganz andere Orte der Welt und des Lebens erschlossen haben, als er sie kannte; sie tat Dinge, die er auch unter der grössten Anstrengung seines Denkvermögens nicht in eine Reihe zu stellen vermochte, zwischen denen er kaum einen seidenen Faden an Zusammenhang sah, von denen er aber mit der Zeit wusste, dass sie ganz sicher zusammenhingen, und von denen er das Gefühl erhielt, dass sie zusammenhingen, auch wenn er das nicht sehen konnte - einfach, weil gerade sie all das in sich vereinte. Er sah sie nie mit einem Mann auf diesen Bildern, die er im Internet von ihr zusammensammelte, und das beruhigte ihn, oder zumindest hielt ihn das davon ab, seine Hoffnung zu verlieren.

Natürlich wusste er, wo sie wohnte; wo sie arbeitete, sowieso. Aber er ging da nicht hin, dazu gab es keinen Anlass. Sie hätte nicht verstanden. Und was hätte er schon tun sollen?

Leo hatte nicht jeden Tag an sie gedacht, dafür waren zu viele Jahre vergangen seit dem Abend im Studentenhaus. Und er schämte sich vor sich selber ein wenig, dass er sie nicht einmal auf den ersten Blick erkannt hatte, als sie noch durch die sich schon schliessende Aufzugstüre huschte und sich fast tonlos, aber ernst gemeint, entschuldigte für die Sekundenverzögerung, die sie durch die Auslösung der Türsicherheitsautomatik ausgelöst hatte, welche die Türe wieder öffnete, als sie schon längst drin war. Aber noch bevor der Aufzug wieder stoppte, war ihm klar, wer da war, und er wünschte sich nicht nur, dass die Türe viel eher ganz geschlossen hätte, sondern zugleich auch, dass er sie nie getroffen und nie etwas über sie in Erfahrung gebracht hätte.

Nun wusste er, wer da war, und sie wusste nichts. Der Aufzug stoppte auf keinem Stockwerk, sondern genau zwischen der dritten und der vierten Etage, und der Jüngling auf der Service-Linie hinter dem Mikrofon und der roten Taste in der Liftkabine hatte rasche Hilfe zugesichert, die bestimmt in einer halben Stunde da sein würde. Leo spielte zunächst gut den Aufzugspassagier, dem so etwas passiert, wenn einer jungen Dame in der gleichen Kabine dasselbe geschieht. Er hatte etwas zu tun und zu sagen, bis die Servicelinie unterbrochen wurde.

Dann war Stille mit seltenen, unbedeutenden Worten, und als der Service auch nach einer Stunde nicht ankam, entwickelte sich ein Gespräch über Leben und Tod, über Liebe und Hass, und über alles andere.

Leo sah, dass sie ihren Blick immer wieder auf ihm verlor, aber er sprach mit verschnürter Kehle, und er würgte das Vertrauen, das sie ihm hier plötzlich gab, Stück für Stück insgeheim wieder hinaus; und als sie ihm nach der Deblockierung des Aufzugs dankte und für einen kurzen Moment unmerklich zitterte, als wollte sie sich wegdrehen und zugleich nicht, sagte er nur, dass er nun schleunigst zu einer Sitzung müsse, und dass sie nichts zu danken habe.

Mittwoch, 2. September 2009

kurz.

Trauerst du ihr nach? – Heiner wollte verständnisvoll, aufnahmefähig und teilnehmend wirken, aber zur Hauptsache war er doch einfach nur interessiert, nicht zuletzt auch daran, dass Benno seine Frage bejahen würde.

Keineswegs, mein Lieber, auf gar keinen Fall. Ich weine nicht, ich lächle ihr nach. Alles ist schön so, und alles hatte seinen Platz und seine Zeit. Mein Lächeln ist zufrieden und wohlwollend. – Benno lächelte das Lächeln, das er beschrieben hatte, und brach nicht ab. Die beiden sassen auf Bennos Balkon und blickten über den Parkplatz hinweg auf eine Gewitterfront, die sich am Stadtrand auftürmte.

Du bist also tatsächlich traurig! – Heiner triumphierte nicht. Bennos untaugliche Verstellungsversuche betrübten ihn plötzlich.

Natürlich bin ich traurig, verdammt, aber es ist ein süsses Gefühl. Fast wie nach einem Pfadfinderlager, damals, wenn unvermittelt alles vorbei ist und du allein zuhause sitzt. – Benno schwieg lange und starrte in den Himmel, um den nächsten Blitz zu erhaschen.

Der nächste Blitz war majestätisch, und der Donner gewaltig. Benno wandte sich wieder Heiner zu. – Alles in allem vielleicht fünfzig Minuten, letztlich aber nur fünf; ach was, am Ende nur ein paar Sekunden. Das ist die ganze Geschichte, mein Lieber, die mich so mitnimmt. Eine lange Unterhaltung, zwei Stücke Tanz, aber am Schluss, was als lebendiges Gefühl und nicht nur als Erinnerung in mir geblieben ist, ein paar Sekunden ihrer Blicke (und natürlich ein warmes Berührungsgefühl vom Tanzen). Und jetzt ist alles wieder so, wie es war, und wie es sein muss. So wenig und dadurch so perfekt. Nur die Spitze der Krone der Sahnehaube des Eises mit der Zungenspitze gestreift. Traurig bin ich, weil mir irgendeinmal das ganze Leben so vorkommen wird, wenn es endet; nur ein einziges kurzes Blinzeln vor einer riesigen, wunderschönen Landschaft.

Dienstag, 18. August 2009

Unterbruch.

Max hatte dieses Mal wenig Mühe, seinen Blick nicht abschweifen zu lassen. Sie schaute zu ernst, und auch ihm war, schon den ganzen Tag lang übrigens, überhaupt nicht nach einem Lächeln zumute. Max trank seinen Eistee in kleinen Schlücken und kurzen Abständen. Wenn er nicht sie anschaute, dann blickte er auf sein Glas und die schwimmenden Minzeblätter darin. Oder er blies Zigarettenrauch in die Bambussträucher, die die Gaststätte vom Gehsteig abgrenzten. Rundherum suchten die Leute freie Plätze an den grossen Tischen, oder standen auf, oder trafen sich, oder verabschiedeten sich. Es war sehr heiss. Aber Max’ Blick war gelähmt, weil Max sich schämte, und weil ein Abschweifenlassen des Blicks den seidenen Spinnenfaden, der alleine sie beide hier an einem Tisch hielt, zerreissen liesse. Sie machte mit ihren Augen und ihren Armen derweil viele Bewegungen, die den Faden gefährlich in die Länge zogen.

Mit einemmal fuhr ein Feuerwehrfahrzeug nach dem anderen vorbei, alle mit gleich lauter Sirene, was die meisten Gespräche verstummen liess, währenddem wenige zum Gebrüll anschwollen. Vielleicht hatte ein Blitz des herannahenden Gewitters ausserhalb der Stadt eine grosse Scheune getroffen. Max und Sarah entschieden sich fürs Schweigen und warteten. Sie waren froh, dass ihr Schweigen einen Moment lang einen äusseren Grund hatte. Als der Lärm aber vorbei war, konnte sie sich das Lächeln nicht verkneifen, weil er die ganze Zeit über ein Stück Orangenfruchtfleisch in gedankenverlorenem Genuss zwischen den Eckzähnen verbiss. Sie sagte, dass sie wohl freinehmen würde, wenn es weiter so heiss bleibe. Und Max lächelte plötzlich auch, und sie ergriff seine Hand, und sie erzählten sich lustige Kurzgeschichten über die Menschen, die an der Ampel standen, mit ihren Tüten, Taschen, Rucksäcken und Rollkoffern, und was da wohl drin sein möge. Jetzt lächelten und lachten sie beide immer wieder. Alles Schwere schien verdunstet.

Die lustigen Geschichten hielten nicht lange an; gerade nach der, die sie am stärksten und längsten zum Lachen gebracht hatte, schwiegen sie einen Moment lang erschöpft, und keiner wagte es danach mehr, eine weitere Geschichte zu erfinden, und sie kehrten zum schweren Schweigen zurück. Max fragte plötzlich: Und wie geht es jetzt weiter? – Immer ich!, keuchte sie langsam, griff nach ihrem Tabakbeutel, wandte den Blick ab, hielt inne, stand auf und ging.

Dienstag, 25. April 2006

minne.

"Alles, was ich will, bist duuu!" Unentwegt äfft Max den Gesang nach, dessen Fetzen mit dem böigen Wind vom Kirmesplatz zum Strassencafé getragen werden. "Dabei", so unterbricht sich Max plötzlich, "fragt sich ja vor allem eines, werter Herr Schlagersänger - was willst du danach?" - "Das ist doch nicht so gemeint, Max, dieser Text soll doch nur den Menschen ein wenig von der Hoffnung geben, dass irgendwo da draussen das andere, das wahre Leben stattfindet." - "Sag ich ja, Gerd! Er lügt, der Minnensänger."

Dienstag, 18. April 2006

rasieren.

"Sie tat mir ein wenig leid. Man muss die Arme bewegen, wie diese Walker, man muss sich Stöcke vorstellen und sich von der Erde abstossen. Sie aber, sie joggte wohl, doch sie wusste nicht wohin mit ihren langen, dünnen Armen, und sie schwenkte sie auf Hüfthöhe hin und her, anstatt vor und zurück. Ich sehe rasch, ob eine dünn ist oder mager, und ihre Arme waren eben nicht dünn, sondern mager. Nur ihr Hintern war normal (richtig hübsch!), und mir war sofort klar, dass sie sich gerade deswegen hier quälte. Ich überholte sie dann. Sie trug eine Brille, das habe ich noch gesehen. Dieses Vergebene in unserem Tun, das hat mich für einen Moment lang berührt." Max giesst sich noch etwas Wasser nach, legt seine Füsse auf den Beistelltisch mit dem Radiorecorder und zündet sich eine Zigarette an. Gerd räumt in seiner akribischen Weise den Geschirrspüler ein und schweigt, so dass Max geräuschvoll Rauch ausbläst und weiterspricht: "Weisst Du... Menschen, die sich den Intimbereich ganz oder partiell enthaaren, wollen damit ihre Sexualität im Alltag erleben, sie in den Alltag tragen. So wie manche immer und überall masturbieren müssen. Das ist so." Gerd wäscht sich lang die Hände, um sämtliche Spuren der Berührung mit der Spülmitteltablette abzuwischen, und dreht sich langsam um. "Mal ganz abgesehen davon, dass du wieder einmal nicht vom F-Thema wegkommst - hast du dir einmal überlegt?" - "Was überlegt?" - "Hast du dir das einmal überlegt? Deine Alltagstheorien mögen ja von bewundernswerter analytischer Schärfe, ja, sie mögen gar einer höheren Weisheit teilhaftig sein. Aber letztlich sind sie vor allem eines - unnütz. Ach, übrigens, rasierst du dich denn allmorgendlich, um dich deiner Männlichkeit zu vergewissern?" - "Natürlich."

Max raucht vergnügt weiter, und nach jedem Zug nimmt er einen kleinen Schluck vom dunklen Puglieser. "Diese Theorien, Gerd, sind sehr nützlich, sie dringen in den unbewussten Bereich, haken sich da fest und prägen deine Weltsicht. Und schon kennst du in diesem Chaos einen neuen, sicheren Hafen." Er grinst Gerd schelmisch an, währenddem er die Zigarette ausdrückt. - "Bist Du jetzt eigentlich zufrieden?" fragt plötzlich Gerd. "Ich wollte damit doch nicht zufrieden werden, ich wollte bloss die Dinge zurecht rücken. Es ging nicht, das sah sie genau gleich. Wie könnte ich zufrieden sein, ich bin eigentlich traurig darüber; ich hatte die Beziehung ja gewollt, wir beide haben sie gewollt.“ – „Ja, ihr habt gewollt, ihr habt es so sehr gewollt, und vielleicht habt ihr nur gewollt; darum ist es so lange gegangen.“ – „Du bist ungerecht. Ich mochte nie einen Menschen so gerne riechen, so gerne spüren.“ – „Das kann dir mit fast jedem passieren, wenn du nur willst. Gerade du bist der Prototyp des gefühlstechnischen Opportunisten. Übrigens: wenn das stimmt, was du da sagst, dann muss es dir ja sehr schwer gefallen sein, sie über Monate hinweg derart kaltzustellen; und wenn ich dich recht kenne, dann bemitleidest du dich auch noch ob dieser Bürde.“ – „Ja, das ist so, und ich werde mich bessern, sobald ich kann, lieber Gerd!“ – „Bleib bloss bescheiden, du schaffst das ohnehin nicht.“ – „Ich kann mich doch jetzt nicht einfach gut fühlen? Ich muss ja auch etwas lernen aus dieser Geschichte, sonst wiederholt sich das immer wieder.“ – „Musst du dich dafür so anschwärzen? Du willst immer der Engel sein, und dann schaffst du es nicht. Du willst der Superliebhaber, Superfreund sein, und dann schaffst du es nicht. Kein Übernahmeverschulden, Euer Ehren, da dem Beklagten schlicht die Fähigkeiten zum Einlösen des Versprochenen für jedermann offenkundig abgingen!“ – „Danke, du bist sehr lieb zu mir.“ – „Das hast du im Grunde gar nicht verdient. Sie ist eine Perle, weisst du das eigentlich? Du hast sie tausendmal anrennen lassen, du hast sie gemieden, wenn es nur ging.“ – „Das war erst ganz am Schluss, sie hat zuerst geblockt; damals, als ich noch wie ein Hampelmann um sie herumzappelte. Und, gut, ich habe sie dann kopiert. Kinderspielchen, jawohl.“ – „Hör einfach auf mit deiner Selbstkasteiung, und es wird schon viel besser. Lass deine Kinderromantik beiseite, verführe die Damen nicht mit Schauspiel, und es wird richtig gut. Ehrlich, Max, du brauchst sie wirklich nicht alle.“ – „Ich bin mir sicher, dass wir in absehbarer Zeit Sensoren-Pads auf den Handinnenflächen tragen, mit denen wir die wichtigsten Funktionen unserer Kleidung und unserer Handgeräte steuern können. Wir werden uns rasch daran gewöhnen.“ – „Ich bin mir sicher, dass du in absehbarer Zeit daherkommen und von einer neuen Mitarbeiterin des Haarpflegesalons erzählen wirst, die dir den Kopf derart zärtlich massiert habe, dass du sie zum Nachtessen habest überreden müssen.“

Freitag, 10. März 2006

richtig.

Barbara will alles richtig machen. Ganz besonders möchte sie ihren ehemaligen Freund nicht erschrecken, der viel zu rasch abgesprungen ist und mit dem sie immer noch so viel erleben will, um ihn erst einmal richtig kennen zu lernen. Es bestehen gute Chancen, denn in den zwei Jahren seither haben sich beide verändert, und sie trafen sich jetzt an neuem Ort. Sie sind offenbar wieder neugierig aufeinander geworden (oder sind es einfach geblieben). Nur ein paar Wochen noch, dann hat er die Prüfungen hinter sich, die sie beaufsichtigen und korrigieren muss, und dann können sie es wagen, sich zu treffen, sich mit Blicken, Begriffen, Erinnerungen und weiteren Gefühlsäusserungen abzutasten und dazu Grüntee zu trinken. Er hat sich in ihren Augen sehr rätselhaft verhalten, hat ihr versichert, wie schwer es sei, sie als Prüfungsaufsicht zu wissen. Er hat betont, dass er ihr nicht wieder hätte begegnen wollen, und auf Nachfrage hat er eingeräumt, dass das sich natürlich nur im Hinblick auf diese Prüfungen so verhalte. Und dann sass er, bedingt durch administrative Zufälle, in der ersten Reihe vor ihrem Gesicht. Ja, so sagt sie mir erst ganz zum Schluss, ja, sie haben schon einen Termin ausgemacht, ein paar Wochen nach dem Prüfungsabschluss. Es wird gutkommen, wenn er noch oder wieder will, was ich nicht weiss, weil ich ihn nur aus ihren Schilderungen heraus kenne. Doch ich fürchte, dass es der grösste und zugleich beliebteste Fehler sein könnte, alles richtig machen zu wollen, wenn es um das Balzverhalten geht. Anstrengung ist nicht problematisch, sondern Verstellung, und vor allem die Angst, einen Zeitpunkt zu verpassen, einen Tonfall zu verfehlen, einen Witz zu verhauen. Wer dem Schicksal gleichzeitig derart misstraut (und nicht darauf vertrauen kann, dass es, wenn es solle, so oder so gut ende, dass das Schicksal uns auch als gewöhnliche Menschen fördert) und dazu blind irgendwelchen Regeln folgt (man muss es genau so und so machen, sonst hat man keine Chance), bindet sich einen dicken Stock zwischen die Füsse. Wenn wir den anderen nicht auch ohne Feuerwerk beeindrucken, dann ist der überheblich, oder einfach uninteressant für uns. Wer nicht einmal mag, wie wir uns in diesem Ausnahmezustand verhalten, der wird uns nie richtig mögen, der wird wahrscheinlich gar nie richtig mögen. Barbara wird alles richtig machen, weil sie gar nicht recht merkt, wie sie keinen ihrer Vorsätze umzusetzen vermag und ihm so offen wie nur möglich gegenübertreten wird. Was er gemacht haben wird, erfahre ich vielleicht einmal.

Donnerstag, 2. März 2006

wissen müssen II.

Windböen peitschten Schneevorhänge durchs gelbe Licht der Strassenlampen. Touristen scheuen schlechtes Wetter nie, hauchte Nina in ihren Schal, der ihren Mund und die Nase verhüllte. Wo sind sie nun alle? Sonst lächeln sie doch immer, wenn sie den Bussen entsteigen, obwohl ihnen niemand gesagt hat, dass man von November bis Mai ganz sicher nicht hierher kommen soll. Umso besser, dachte Nina, so ist wenigstens die Glühweinbude geschlossen, und ich bin mit der Bärin alleine. Sie zog die Schultern hoch und drückte sie gegen ihren eingepackten Hals. So überquerte sie die Brücke, wo der Wind stärker blies als in den Gassen, und kam beim Bärengraben an. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf die Sandsteinmauer und blickte in das runde, dunkle Loch hinunter. Die Bärin hatte sich schon hingelegt, doch sie hob, als Nina sich über die Mauer beugte, rasch ihren Kopf und schnupperte blinzelnd durch die kalte Luft. Nina schluckte trocken und dachte an den Portwein vom Vorabend.

Ich habe die Eierschwämme weggeworfen. Und nicht nur die, sondern auch all meine Parfums. – Das hast du nicht! Die Bärin war erschrocken aufgesprungen. – Doch, ich brauche die nicht mehr. – Aber die waren doch teuer, und fein? – Ja, sagte Nina kraftlos, aber das ist alles so vergeblich, ich habe sie zusammen mit dem Nagellack auf seinen Hemden, die er noch bei mir hat, ausgeleert. Dann habe ich alles angezündet und am Schluss die Asche weggeworfen. – Kind, du bist wohl übergeschnappt! Eine solche Aufregung, nur wegen einem Mann. – Bitte, Bärin, du kannst doch nicht so herzlos zu mir sein. Du weisst, dass das nicht irgendein Mann ist. Ich habe dir erzählt, wie alles kam und ging. Sag nicht, du könnest nicht sehen, wie nahe mir das geht. – Oh ja, das sehe ich, doch meine ich ja gerade, du verhaltest dich unverhältnismässig. Wie ich weiss, welche Schmerzen du hast, so wusstest du immer, dass das so kommen würde. Du hast Recht, ich kenne tatsächlich die ganze Geschichte.

Nina schwieg lange; ihre Augen waren nach oben gedreht und fixierten die Schneeflocken, die durch die Lichtkegel tanzten. Sie verlor für einen Moment das Gefühl für den Boden und glaubte, die Flocken seien Sterne, an denen sie vorüberflog. Ihre Hände mussten die Mauerkante fest umklammern, damit sie in der Vereinnahmung durch den beobachteten Tanz nicht Gleichgewicht und Halt verlor. Der Wind liess den Blechverschlag der Glühweinbude rhythmisch klappern, der Verkehrslärm ertrank im Schnee. Bist du vielleicht ein bisschen stinkig, weil es schon lange so kalt und nass ist? Nina blickte wieder nach unten und suchte nach den Umrissen der Bärin.

Ich bin nicht stinkig. Du bist vergesslich. Ich will frei sein, ich will leben, ich will geniessen, das sagtest du doch damals. Ich will alles, was mir gefällt, darauf hast du damals geschworen. Und du hast dir alles genommen. Du wolltest nicht auf mich hören, damals mit zwanzig, zweiundzwanzig. Nun kommt eben Teil zwei des Teufelspakts, auf den ich dich so oft ungehört hinwies, in die Vollstreckung. – Sei doch nicht so dunkel, Bärin. Nina schluckte wieder, diesmal einen dicken Speichelklumpen, der entfernt noch nach Portwein schmeckte. – Ich will ja auch gar nicht siegestrunken herumklugscheissern. Ich muss einfach betonen, dass wir das alles wirklich schon so oft durchgekaut haben. Die Männchen, die spielen ihr eigenes Spiel. Und glaube mir, dass mir nichts lieber wäre, als an deinem Platz zu stehen und dann allein nachhause zu gehen; raus aus dem Käfig, weg von hier und diesen Aufschneidern und Pennern. Und deine Menschenmännchen, die sind nicht anders. Du wolltest dich auf ihr Spiel einlassen? Bitte sehr! Jetzt bist du älter und müder und möchtest vielleicht am Ende gar selber kleine Bärchen hegen. Das musst du alleine durchstehen, jedenfalls musst du damit rechnen. Mach dich nicht krank, sie sind ja vielleicht gute Wesen, aber du kannst von ihnen nicht mehr verlangen, als sie zu leisten vermögen. Du hast ihnen allen die ganze Zeit über die Sicherheit gegeben, dass nichts wirklich verbindlich ist, dass nichts wirklich ein Problem sein könnte, dass du immer alles selber für dich regeln könntest. Ich habe dir gesagt, dass das nicht stimmt. Nicht für dich, und nicht einmal für die Männlein. – Das mag sein, und trotzdem bin ich wütend. Nur weil man weiss, dass ein Unglück kommt, muss man nicht schweigen, wenn es eintrifft. Sei nicht so selbstgerecht! – Das Unglück ist nicht gross, Alleinsein muss doch herrlich sein. Ich stelle mir das jedenfalls so vor. Es bringt nichts, nur bei jemand zu sein, um nicht alleine zu sein; das ist doch beleidigend. Für dich und für die Männlein.

Mach's gut, Bärin, ich muss jetzt gehen, mir ist kalt. Wenn du schon für das Alleinsein bist, so werde ich trotzdem bald wiederkommen. Ich denke an dich. Nina formte ihre Lippen schnell zu einem Kuss und drehte sich vom Graben weg, setzte Fuss für Fuss in die knirschende Schneedecke und machte sich auf den Weg zu ihrem Bett. Sie lächelte noch ein paar Mal, weil sie an die Besorgnis der Bärin denken musste und sich darin geborgen fühlte.

einzigundallein.

Max sah sich unter- und überfordert zugleich: Mit einer Frau allein soll ich mich begnügen? – Ich allein soll es zustande bringen, eine Frau, eine einzige auch nur, glücklich zu machen?

eng.

Ich spüre es, sagte Max letzthin zu Gerd, ich spüre es, und es stimmt mich vorfreudig und zuversichtlich. Die Frauen werden sich endlich befreien. – Wovon denn sollten die sich heutzutage noch befreien, wandte da Gerd gelangweilt ein. Sie haben sich aus ihrer Vormundschaft befreit, sie sind den Küchen und Waschküchen entflohen, und sie befreien sich immer öfter sämtlicher Körperbehaarung. Die Männer, die Frauen zu etwas zu zwingen vermögen, sterben nach und nach aus. Wovon, werter Max, sprichst du denn in aller Welt? – Von diesen dummen Kleidern spreche ich. Die Frauen werden all das enge Zeugs auf einen Haufen werfen und verbrennen. Sie werden listig geschwungene Tücher tragen, die ihren wundervollen Körpern die Form geben, die sie verdienen; sie werden schweben in wehenden Stoffen, die ihre Bewegungen atmen lassen. Und dann werden sie sich endlich wirklich frei bewegen können. Und es wird endlich ein bisschen wahr sein, wenn sie denken, dass sie sich bloss für sich selber schön kleiden. – Nun, sicher wird die Mode sich wieder ändern. Ich wäre schon lange dafür, ein Bundesamt für Mode einzurichten. Die könnten die Zyklen festlegen, in denen dies Rad sich um seine Achse dreht, und man wüsste ganz genau, dass die Jacke, die man einmottet, in sieben Jahren wieder behördlich beglaubigt wieder angesagt sein wird. – Einverstanden, Gerd, aber das enge Zeugs gehört trotzdem verboten. – Lassen wir es lieber, ich finde gerade, dass Du schändlich heuchlerisch sprichst, mein lieber Max. Ich kenne neben dir keinen, dessen Blick auch nur annähernd so verstohlen wie geniesserisch Dekolletes und Gesässbacken studiert. Ich muss fast befürchten, du erliegest da einem Taliban-Reflex. Was du nicht erträgst, was dich zu heiss macht, gehört weggesperrt und verboten. Du musst locker bleiben, heutzutage muss man damit eben umgehen können. – Du bist ungerecht. Schöne Frauen sind in jeder Kleidung schön, das weisst du genau. – Mach es nicht noch schlimmer, Max, ich müsste dich nur ein kleines bisschen weniger kennen, und schon müsste ich annehmen, dass du jetzt chauvinistisch wirst: … Oh, bitte, verschont mich vor diesen ach so schrecklichen Bauchfalten zwischen Pulloverrand und Hosenbund... Sei vernünftig, Max, das ist sehr überheblich, was du da sagst. – Kein Kommentar, wenn du so drauf bist, kann ich mich nur immer mehr verstricken, du legst es darauf an, so dass es mir nichts nützt, dass ich Recht habe und du notgeile Gespenster siehst. Nur soviel: Mich quält kein Anblick, und sei er noch von ganz anderer Sorte. Aber ich habe dieses Spiel satt, bei dem keine der beiden Parteien sich wohlfühlen kann.

Dienstag, 24. Januar 2006

nah.

„Ich wollte einfach ihre Nähe spüren. Ich hatte überhaupt kein Bedürfnis nach mehr als nur diesem Gefühl der warmen, wohlriechenden Nähe; bloss für ein paar Stunden, nicht länger. Ich wollte sie umarmen, keinesfalls jedoch küssen; ich wollte sie spüren, nicht aber berühren. Ich war mir sicher, nie unter auch nur vergleichbar starkem Verlangen gestanden zu haben.“ – „Ich glaube dir kein einziges Wort, Max, du magst ein guter Rhetoriker sein, und auch deine poetische Ader ist nicht weit davon entfernt, mehr als nur poetische Kapillare genannt werden zu dürfen. Aber ich glaube dir nicht, du warst einfach scharf, oder du hast dich vorübergehend verliebt, das ist alles. Wenn man scharf ist, und wenn man zugleich kultiviert ist, dann verhüllt man es in schöne Worte und fühlt sich dabei mitunter erhaben. Und wenn man verliebt ist, schwört man sich sogar selber, nie, aber auch gar nie, mit dem Objekt des Liebesdranges körperlich werden zu wollen. Mehr noch als von seiner eigenen Existenz ist man dann überzeugt, dass es der rauen Körperlichkeit überhaupt nicht bedürfe, nicht dieses Mal, denn dieses sei besonders und stehe über allem Irdischen.“

Max blickte durch die ehemalige Schaufensterscheibe auf die Strasse, wo der Feierabendverkehr abschwoll. Der Asphalt war nass und widerspiegelte die farbigen Lichter der Autos und der Ampeln. Max hob den Kopf, suchte im Spiegelbild der Scheibe nach der Bedienung hinter der Bar und nickte ihr zu, dass sie kommen solle. Er bestellte mürrisch zwei weitere Gläser ungefiltertes Bier und blickte wieder durch die Scheibe, ohne dass er Gerd bei alledem angesehen hätte.

„Ich wollte nur in dieser Nacht, in der ich nicht zum Schlafen kam, jemanden bei mir haben, an den ich mich abgeben könnte und der mich auch aufnähme“, begann Max wieder, immer noch zur Scheibe gewandt. „Ich wollte auf keinen Fall plötzlich allein sein, und nach der langen Nacht, in der wir nur gekocht haben und uns so rasch kennenlernten, lag für mich nichts näher, als in ihre Arme zu liegen. Glaubst du, ich würde dir von all dem erzählen, wenn mich das nicht so beschäftigte?“ – „Ich glaube dir wohl, dass es dich beschäftigt, zumal es ja nun bald vier Monate her sein wird.“ – „Eben, und es würde mich nicht beschäftigen, wäre es blosse Geilheit gewesen, denn diese klingt bekanntlich binnen Stunden wieder ab. Und hätte ich mich verliebt, hätte ich sie in den letzten vier Monaten wahrscheinlich angerufen, dann unzählige Male getroffen und schliesslich geheiratet; und auf jeden Fall hätte ich sie zumindest dreimal angerufen.“ – „Nun, ich will dich auch nicht festnageln, deine Alibis sind gut konstruiert. Von meiner Meinung bringst du mich aber trotzdem nicht ab. Ich bleibe dabei, du hast ein kindliches Verhältnis zu den Frauen, und du wirst deine Gefühle nie recht verstehen können.“

Max leerte sein Glas mit ruhigen, grossen Schlücken und stellte es theatralisch auf den Filz, so dass die Tischplatte ein trockenes Klopfen von sich gab. „Wenn wir nicht… ich würde dich… Ach, was soll es, ich mag dich ja trotzdem. … Du, du hast kein Gefühl, du bist das. Du verstehst dich nur auf ganze Noten, und das auch ausschliesslich in Dur. Und wenn du auch recht haben magst mit all deinen Mutter-Sohn-Theorien, es ändert nichts. Ich wollte nur für einen Moment lang spüren, dass es wirklich stimmt, dass wir alle Menschen sind und als solche nicht so weit voneinander entfernt, wie man manchmal meinen könnte. Ich wollte bloss in der Zeit zwischen Nacht und Morgen, in der nichts gilt und alles vergessen wird, diese Nähe erleben. Darum weiss ich auch nicht, warum ich es Anna hätte erzählen sollen.“ Auch jetzt sah Max nicht zu Gerd, sondern hielt seinen Blick starr auf seinen rechten Zeigefinger gerichtet, mit dem er aus dem Glas den Bierschaum strich und zu seinem Mund führte. „Ja, es stimmt, sie war damals beruflich sehr ausgelastet. Lassen wir es, Gerd, komm, wir gehen noch eins weiter.“

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wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
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moccalover - 6. Nov, 00:20
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moccalover - 6. Nov, 00:05
nah und fern.
Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
moccalover - 6. Nov, 00:05
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Du hast jemand, der für dich Sandwichs streicht. Da...
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