Donnerstag, 5. November 2009

selbstbewusst.

selbstbewusstsein heisst nicht, sich überlegen zu fühlen

nicht, sich besonders fähig oder glücklich zu glauben

nicht, jemand anderen zu erdrücken oder

sich ins zentrum zu stellen.


es heisst nur,

sich als sich selber unbekannt vorauszusetzen,

und dann offen und immer wieder zu fragen.


wer das eigentlich sei,

der oder die da steht, in diesem leben,

was man möge, und was man verabscheut,

was man könne, und wo man schwach sei,

was einem schmeichle, und was einen verletze,

was man wolle, und was man vermeide.


Und wenn man so fragt,

dann erfährt man nie alles, nicht im ganzen Leben.

Aber immerhin immer wieder etwas,

das man offen gefragt und erfahren hat.


Und schon mit der Fragestellung wird man frei,

kann Mauern einreissen, weil man zumindest ein bisschen

weiss, was man auf sich nehmen kann

und wo man sich verschwendet,

wo man sich zum Affen macht

und wo man frisch aufblüht,


wo man weiss, was man kann

und was man nicht kann.

die vorstellung und das geschehnis.

gibt es etwas Schöneres, als etwas unvermittelt zu lieben, von dem man bis dahin glaubte, man würde es verabscheuen?

und gibt es etwas Scheusslicheres, als etwas plötzlich zu hassen, von dem man glaubte, es lieben zu können?

gibt es etwas Schrecklicheres, als Gleichgültigkeit zu empfinden, wenn man sich Erregung versprach?

nah und fern.

Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und langsam lösten sich Hefenebelschwaden vom Flaschenboden und mäanderten das im gebrochenen Licht des Glases braun schimmernde Bier hinunter bis zum geschlossenen Kronkorken, an dem sie sanft abprallten, um zwei, drei letzte Male an Höhe zu gewinnen und schliesslich als neuer Bodensatz am anderen Flaschendene liegen zu bleiben.

Das Ganze erinnerte Leo an eine Apfelsaftflasche, die er mit zehn Jahren in einer Kommodenschublade verstaut und mit vierzehn Jahren schliesslich nach langem Zögern weggeworfen hatte: Darin hatten sich zahlreiche Schimmelpilze und Schleime gebildet, die Leo damals, als er mit vierzehn aufräumte, während langen Momenten durch die Flasche hin und her schweben liess, währenddem er ihnen mit faszinierten Augen folgte und in all diesen verschlungenen Formen zauberhafte Dinge sah, wie man in scharfen Sommerwolken alle Arten von Tieren entdecken kann.

Auch jetzt sitzt Leo hier und starrt auf den Tanz der Schwaden, kippt die Flasche mal hin und dann wieder zurück, versucht Regelmässigkeiten zu finden und gleitet in seinen Gedanken immer wieder ab, um bald sich daran zu erinnern, dass er die Flasche ursprünglich öffnen und leeren wollte.

Grosse Stars haben ihre offiziellen Fansites, eine Myspace-Seite und ein Facebook-Profil. Man kann sie anschreiben, und es antwortet niemand, oder eine PR-Praktikantin, die sich als den Star ausgibt oder sich als PR-Praktikantin zu erkennen gibt. Immer gibt es ein Ventil, es gibt Bilder zu kaufen und Schmusekissen mit dem Star, und es soll vorkommen, dass der Star seinem Fan an einem ungeraden Tag auch schon einmal wirklich persönlich antwortet. Stars sind erreichbar, sichtbar, besitzbar, wenn auch nicht gerade in besonders körperlicher Weise.

Leo aber hatte sich nie etwas aus Stars gemacht, er fand diese Vorzeigefrauen aus den Biologie- und Soziologiebüchern der Übermenschenpropagandisten nie sehr ansprechend, wenn er sich auch ihrem ersten, dem überrumpelnden, Einfluss nicht durchwegs zu entziehen vermochte.

Leo hatte Sophia dank einer Begegnung für sich entdeckt, die ganz durchschnittlichem Zufall entsprach. Er war, als er vom Studentenalter noch nicht so weit entfernt war wie heute, einem Freund zuliebe auf einen offenen Abend einer Studentenverbindung gegangen, sein erstes und letztes Mal an einem solchen Ort. Diese Verbindung hatte hauptsächlich weibliche Mitglieder, es wurde ordentlich, aber nicht zu viel und immer gemeinsam und gesittet, getrunken, und mit Sophia unterhielt er sich vielleicht knappe zwanzig Minuten, und das nicht einmal exklusiv, aber sie hatte durch alles, was sie war, für Stunden und Tage seine Aufmerksamkeit gebunden. Sie war so tief, dass ihre aussergewöhnliche Schönheit dagegen geradezu im Schatten stand. Er war erstaunt, jemanden wie sie gerade hier zu treffen, aber das steigerte nur sein Vergnügen, und er hielt das gar nicht für aussergewöhnlich, sondern nur sich selber für bisher zu naiv und eingefahren.

Nie hatte er sie seitdem wieder getroffen, obschon das wohl möglich gewesen wäre, wenn auch nicht gerade sehr wahrscheinlich. Möglich wäre es schon gewesen, weil die Stadt, wo sie arbeiteten, nicht sehr gross war.

Aber er hatte sie gesehen, da und dort auf Photos, hatte ihre Texte gelesen, und verfolgte ihren Werdegang und ihre Engagements. Sie musste gut sein und ganz andere Orte der Welt und des Lebens erschlossen haben, als er sie kannte; sie tat Dinge, die er auch unter der grössten Anstrengung seines Denkvermögens nicht in eine Reihe zu stellen vermochte, zwischen denen er kaum einen seidenen Faden an Zusammenhang sah, von denen er aber mit der Zeit wusste, dass sie ganz sicher zusammenhingen, und von denen er das Gefühl erhielt, dass sie zusammenhingen, auch wenn er das nicht sehen konnte - einfach, weil gerade sie all das in sich vereinte. Er sah sie nie mit einem Mann auf diesen Bildern, die er im Internet von ihr zusammensammelte, und das beruhigte ihn, oder zumindest hielt ihn das davon ab, seine Hoffnung zu verlieren.

Natürlich wusste er, wo sie wohnte; wo sie arbeitete, sowieso. Aber er ging da nicht hin, dazu gab es keinen Anlass. Sie hätte nicht verstanden. Und was hätte er schon tun sollen?

Leo hatte nicht jeden Tag an sie gedacht, dafür waren zu viele Jahre vergangen seit dem Abend im Studentenhaus. Und er schämte sich vor sich selber ein wenig, dass er sie nicht einmal auf den ersten Blick erkannt hatte, als sie noch durch die sich schon schliessende Aufzugstüre huschte und sich fast tonlos, aber ernst gemeint, entschuldigte für die Sekundenverzögerung, die sie durch die Auslösung der Türsicherheitsautomatik ausgelöst hatte, welche die Türe wieder öffnete, als sie schon längst drin war. Aber noch bevor der Aufzug wieder stoppte, war ihm klar, wer da war, und er wünschte sich nicht nur, dass die Türe viel eher ganz geschlossen hätte, sondern zugleich auch, dass er sie nie getroffen und nie etwas über sie in Erfahrung gebracht hätte.

Nun wusste er, wer da war, und sie wusste nichts. Der Aufzug stoppte auf keinem Stockwerk, sondern genau zwischen der dritten und der vierten Etage, und der Jüngling auf der Service-Linie hinter dem Mikrofon und der roten Taste in der Liftkabine hatte rasche Hilfe zugesichert, die bestimmt in einer halben Stunde da sein würde. Leo spielte zunächst gut den Aufzugspassagier, dem so etwas passiert, wenn einer jungen Dame in der gleichen Kabine dasselbe geschieht. Er hatte etwas zu tun und zu sagen, bis die Servicelinie unterbrochen wurde.

Dann war Stille mit seltenen, unbedeutenden Worten, und als der Service auch nach einer Stunde nicht ankam, entwickelte sich ein Gespräch über Leben und Tod, über Liebe und Hass, und über alles andere.

Leo sah, dass sie ihren Blick immer wieder auf ihm verlor, aber er sprach mit verschnürter Kehle, und er würgte das Vertrauen, das sie ihm hier plötzlich gab, Stück für Stück insgeheim wieder hinaus; und als sie ihm nach der Deblockierung des Aufzugs dankte und für einen kurzen Moment unmerklich zitterte, als wollte sie sich wegdrehen und zugleich nicht, sagte er nur, dass er nun schleunigst zu einer Sitzung müsse, und dass sie nichts zu danken habe.

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