„Ach, es ist ja nur Wasser“. Das Glas war gekippt und mit dumpfem Klang auf das dicke, mit Spiegelpailleten bestickte Tischtuch gefallen. Die Flüssigkeit war auf das Tuch geschwappt und hinunter auf den Teppich gespritzt. Der Junge hatte ängstlich erstarrt auf die Folgen seiner Unachtsamkeit geblickt. „Es ist nur Wasser“, sagte die Mutter.
moccalover - 24. Sep, 20:57
Es gibt nichts Trennenderes zwischen dem Glauben und dem Extremismus aka Fundamentalismus etc. als der Umgang mit dem Glauben; Extremismus erklärt Glauben zu universell gültiger Gewissheit, die letztzwingende Handlungsanweisungen enthält. Der Glaube allein hingegen ist erfüllt vom Zweifel und vom Hadern, vom Ringen und vom Suchen.
moccalover - 24. Sep, 20:55
Und ich fragte mich, wie es wohl wäre, wenn vis-à-vis unserer Sonne noch einmal eine solche stünde – und inmitten der beiden die Erde; was wohl wäre, wenn wir das Dunkel, das Schwarze und die Nacht nicht kennten.
moccalover - 24. Sep, 20:54
In einer glänzenden und hell ausgeleuchteten Tiefgarage gleitet eine strahlend silbern polierte, moderne Familienkutsche mit drei Sitzreihen in Zeitlupe und unterlegt mit Chill-out um eine gelbschwarz als Gefahrenherd gekennzeichnete Stützsäule herum. Der Kurvenradius, den der Fahrer gewählt hat, erweist sich nach Sekunden als zu eng, so dass die bevorstehenden Folgen für die edle Seitenschiebtüre des Wagens offensichtlich sind – doch noch bevor man das Unabwendbare miterleben könnte, wird der Fernsehschirm schwarz und alsdann vom Logo einer Versicherungsunternehmung ausgefüllt, unterlegt mit einem lockeren Spruch. Wer von den Versicherungen beklagt sich über
Moral Hasard?
moccalover - 24. Sep, 20:54
Es ist ein Zeichen der Dankbarkeit gegenüber der National Gallery in London und auch ein Zeichen der Dankbarkeit gegenüber der Familie Reinhard und der Stiftung Reinhard, dass ich gekommen bin.
Der schweizerische Kulturminister, Pascal Couchepin, an der Ausstellung „Manet trifft Manet“ in Winterthur.
Wir wissen alle, dass es keinen grösseren Treuebeweis gibt, als sein Leben in der Erfüllung eines Auftrages herzugeben.
Der schweizerische Justizminister, Christoph Blocher, an der Feier zum Fünfhundertjahrjubiläum der Schweizer Papstgarde in Luzern.
moccalover - 24. Sep, 20:52
Ich wiege das Plastikbecken in meinen Händen, und die Entwicklerflüssigkeit wellt sich leicht im gelben Licht. Ich lege das Becken ab und beuge mich dicht über die Wasseroberfläche, sehe den Blasen zu, wie sie platzen, und warte auf die ersten Spuren, die sich schwachgrau auf dem Papier abzeichnen. Nie erhascht man genau den Moment, in dem aus dem Nichts ein Punkt aufscheint, plötzlich ahnt man einen Schatten, der, wenn man ihn bemerkt, schon wirkliche Zeichnung geworden ist. Schon wird der erste Strich sichtbar, der das glänzende Weiss besetzt und ein Schauspiel ankündigt, eine Schöpfung . Der Übergang ist so fliessend, dass er einen mehr überrascht, als wenn das Bild abrupt erschiene. Überall ziehen sich jetzt Linien; und die Formen beginnen, einander zu umranken und zu überfliessen. Immer nach ein paar Augenblicken wieder muss das Auge sich neu einfinden, die Veränderungen wahrnehmen und sie sich merken; bis am Schluss das Schauspiel langsam erstarrt und das Blatt ins Stoppbad wechselt.
Die Photographie wird sich selber abschaffen. Die Welt ist gerade dabei, die chemische Photographie in ihrer Geschichtsschublade zu versorgen; und die digitale Photographie geht erst in kleinen Schuhen. Doch schon heute haben all die Dinge Kameras, die Handys, die Memory-Sticks, die Schlüsselanhänger und Manschettenknöpfe; bald auch die i-Pods, die Klobürsten, die Winterkleider und die Sonnenbrillen. Früher oder später werden wichtige Häuser tausende Digitalkameras dazu verwenden, sich selber abzulichten und ein algorithmisches Potpourri davon auf flächendeckenden Fassadenmonitoren wiederzugeben. Bäume werden das Wachsen ihrer Blätter festhalten, und schliesslich werden sensorische Bluetooth-Kontaktlinsen jeden Blick auf Festplatte übertragen. Überall will alles festgehalten sein von dieser optischen Wirklichkeit; und wenn bald alles voller Kameras ist, photographieren lauter Kameras andere Kameras.
moccalover - 23. Sep, 00:56
Nun wird es gut, jetzt sind nur noch wir da, und machen es besser, sagte die Mutter und drückte ein Lächeln hervor. Die Kinder schwiegen dazu, und sie schwiegen auch sonst, blickten zum Fenster. Sie empfingen die Worte, doch sie kannten deren Sinn nicht, hatten ihn nie erlebt.
Und so kamen diese ersten neuen Tage und gingen dahin, erfüllt bloss von Gleichgültigkeit. Niemand mochte sich anstrengen, niemand hatte Ideen, sich zu ändern. Niemand hätte erwogen, dass die Worte vom neuen Anfang wirklich werden könnten; vielleicht kannten sie solche Begriffe längst nur noch als grausame Zynismen. Und allen fehlte die Kraft. Die Mutter versuchte noch, Zuversicht auszustrahlen; sie wollte in den Kindern wecken, was nicht schlief, sondern tot war, oder nie geboren. Sie appellierte und malte Schönes aus, doch nach Wochen und Monaten war dies dünne Vlies plötzlichen Erstaunens, das sich besänftigend auf alle gelegt hatte, voll von aufgerissenen Löchern, durch die wieder die giftigen Dämpfe unverheilter Narben aufstiegen.
Sie hatten sich von der Betäubung der ersten neuen Augenblicke irreführen lassen und bemerkten nicht, dass sie darunter weiterlebten wie vordem. Die Ätzungen und die Verletzungen setzten in alter Schärfe wieder ein, und bald war nichts mehr anders als vorher. Im Haus war es wieder kühl, und heiss wurde es nur im Streit. Dann liess schliesslich auch die Mutter ab von ihrer Hoffnung. Es war zu spät gewesen. Und nun war es nochmals zu spät.
moccalover - 22. Sep, 00:17
Ehre sei diesem Ort, dachte Herr Tobler, währenddem das Blut als warme Gelassenheit die Adern seiner Beine hinabrieselte und sie löste, so dass er ob seiner Entspannung fast gegen die Mauer gefallen wäre. Herr Tobler muss samstags einkaufen, weil er sonst arbeitet und der Abendverkauf am Donnerstag ihn noch schlimmer dünkt. Vor allem jetzt im Winter, wenn die Strassen abends trotz aller technischen Bemühung dunkel bleiben, nie dieses Strahlen erzeugen, das ihre Steine in der kräftigen Sonne zeigen. Im Winter ist das Einkaufen nur sich selber, das Ladengeschäft die sinnstiftende Oase in der Eiswüste. Alles verspricht Wärme, alles verlockt. Herr Tobler hat sich heute im Antiquitätengeschäft einen alten Photoapparat gekauft, und auch den luxuriösen, teflonähnlich-kalkresistent beschichteten Duschvorhang und die sechs vanillecremegefüllten Berliner Pfannkuchen im Sonderangebot hat er sich ohne grosses Ringen angeeignet. Und weil der Weg durch die Wüste ihm mit dieser Last so lang erschien, trank er reichlich Tee mit Rum auf halbem Weg, in einer Gaststätte, die nach Schweiss roch. Nach drei Vierteln des Weges, das wusste Herr Tobler, würde der Turm kommen, der die alte Funktionalität der Stadt dem Heute aufzwang und mitten auf der Strasse stand. Und in dessen Schatten stand Herr Tobler, mitten auf der Strasse, an der Turmseitenwand, hinter einer bräunlich lackierten Doppelblechwand, die ihn gegen aussen zwischen den Kniekehlen und den Schulterblättern verdeckte. Die gemalte Inschrift auf der Wand verbleicht stetig, doch man kann gleichwohl gut erkennen, dass man höflichst gebeten werde, die Örtlichkeit in reinlicher Verfassung und mit geordneter Kleidung zu verlassen. Herr Tobler fasste sich, schloss seinen Gürtel und blickte über die Blechwand. Seine Erleichterung, die er hier immer empfindet, dieses Glück, es gerade noch hierher geschafft zu haben, wich sogleich stets der Beklemmtheit, dass er von hier offensichtlich mit ungewaschenen Händen auf die Strasse treten würde; dass er überhaupt gerade bei einer Obszönität beobachtet worden sein könnte. Sobald er draussen in Sicherheit war, blickte er zurück und fühlte sich dankbar für die Geschichte, die diesen Ort dem Menschlichen reservierte.
moccalover - 20. Sep, 21:29
Sie würde nicht mit ihrem Freund zusammenziehen, der natürlich auch da war, aber gerade nicht zugegen, als sie dies sagte; und sie sagte es auch nicht zu Max (wiewohl sie ihm direkt gegenüberstand), sondern zu einer der vielen anderen Frauen in der kleinen Wohnung. Es wäre einfach irgendwie noch vielleicht ein wenig zu früh. Max konnte es sehr gut hören, und sie musste wissen, dass er ihren Worten folgte, denn sie stand in all dem Lärm nahe genug, und er hatte in dieser Anfangsphase seiner Einbringung in die flüchtige Gruppe, die sich diesen Festabend teilen würde, ohnehin nichts anderes zu tun, als mit artigen kurzen Unterbrüchen immer wieder die ihre Freundin ansprudelnde Lucille zu betrachten, als wäre er auch Teilhaber dieses Informationsaustausches im Türrahmen.
Doch der Freund war da, und einmal mehr war Max erstaunt, wie dieses Bündel an Selbstverständlichkeit, das weder aus Schönheit noch aus Klugheit schöpfen konnte, in dieser ihrer Wohnung wohnte; herumhing und war, als ginge ihn nichts an - und als wäre er doch näher an allem als alle andern.
Sie musste den Freund sehr mögen; dieser Wahrnehmung konnte Max sich nicht erwehren. Wohl war sie in ihrer mächtigen physischen Präsenz so luftig, heilig und unergreiflich, wie Max sie immer empfunden hatte. Sicher, sie war fröhlich und einnehmend, direkt und unverfälscht - wie immer. Ihr Geheimnis muss es sein, nicht zu wissen, wie anders sie ist, dachte Max, als er auf der Toilette eine Pause vom Rummel genoss, rauchte, tief ausatmete und seinen sausenden Ohren lauschte. Sie ist geplagt wie wir alle, und doch sieht sie nicht, dass die Plage sie nicht zu beschweren vermag und sie dabei all ihr Vertrauen behält. Wie er da sass und nicht mehr aufstehen mochte, wie er die Türe nicht mehr öffnen und sich wieder dem allseitigen Blick der anderen Besucher aussetzen mochte, lösten sich in seinen Überlegungen über ihre Selbstvergessenheit, in seiner Selbstaufgabe in diesem engschmalen Raum mit vanillegelben Kacheln, alle Fragen auf. Dass der Freund nicht zu ihr passte, entflog seinen Ideen, und dass die Dinge so sein durften, beherrschte ihn sekündlich stärker. Sie musste ihre Gründe haben - Gründe, die bei ihm vor all der Reflektion dieser Welten, vor all dem Ausloten und Taktieren in den Leben schon lange geflohen sein mussten.
Max fühlte an diesem Abend auch nach ein paar Gläsern Malaga nicht viel, und nicht einmal das anfangs träge Fortschreiten der Zeit konnte ihn auf Dauer beschäftigen. Er zerfloss derart in seiner Hingabe an Gegebenheiten, dass er nicht bemerkte, wie die Uhr beim Abschied mehr als vier Stunden nach der Zeit anzeigte, die er sich zumindest vorgenommen hatte. Auf dem Heimweg überquerte er erleichtert die Brücke, schlenderte mutwillig torkelnd auf dem breiten Trottoir und blickte mit einem Lächeln zu den gelben Lampen hinauf. Wenn nur mehr das Bett wartet, dachte er, und man durch die Nacht schreitet - wenn die Stadt dabei so ruhig ist, dass man sie nicht mehr kennt, und wenn die Lampen über der Strasse, in den Schriftzügen und an Automaten einem treu den Weg leuchten, dann wäre man glücklich, fühlte man nicht eine kleine Amputation.
[s. auch
hier]
moccalover - 20. Sep, 21:19
Und sie sassen da; der Junge neben dem Älteren. Sie blickten in die Nacht und warteten darauf, dass die Wolken ein Loch in sich reissen würden, um die Sterne freizugeben. Dicke Tropfen fielen aus der undichten Dachrinne auf den Tisch, und von da aus flogen sie in die Gesichter weiter. Die beiden Männer rauchten, und der Junge schlang die Arme um die hochgezogenen Beine, weil er zitterte. Er fühlte sich schuldig. Wie grelles Neonlicht, das die schwere Erhabenheit der Nacht zerreisst, schien ihm auf, dass er falsch gelegen hatte. Der Ältere würde bald sterben und litt schwer daran. Doch zur Abwehr lebte er noch fester und bat manchmal darum, dass es nun endlich geschehe. Oder er versuchte, sonst darüber zu lachen, wie über eine Zahnlücke, die man nun einmal hat. Der Jüngere aber warf sich vor, seinen Tod immer gewünscht zu haben, sein halbes Leben lang. Ihm wurde bewusst, dass er seine Meinung zu spät geändert hatte und nichts mehr abzuwenden vermochte. Zu spät war es dazu gekommen, dass sie hier sassen, redeten, von der nahen Zukunft wussten, kein Wort darüber verloren und sich mochten.
moccalover - 15. Sep, 21:34
Drunten brummen die Busse beim Anfahren. Die warme Abendluft über der Strasse zittert, wenn die Motoren sich vorwärtsfressen, und mit ihr zittert die ganze kleine Welt in meinem Blickfeld. Wenn jede Welt ihre Unterwelt hat, dann hat diese Stadt hier ihre Unterstadt. Das ist kein Platz, an dem man bleiben möchte. Hier kommt man weder her noch hin, hier geht man durch, hier fährt man durch, hier wird man durchgeschleust oder rundherumgeführt. Hier ist ausschliesslich, wer muss. Wer auf Reisebusse wartet oder diesen Strassenelefanten gerade entsteigt; wer auf den Fahrlehrer wartet, dessen Geschäft in der Baracke unter der Eisenbahnbrücke steht; wer sich für Demonstrationen versammelt oder von solchen hierhergetrieben wurde; wer auf Kundschaft wartet, die im Dunkeln sucht; wer woanders keinen Platz hat, wer nicht sein darf und wer für sich nirgends Freiraum sieht. Alles hier steht im Dienste der schönen Stadt, ist Reserveraum, Abschieberaum, Stauraum, Lagerstätte, Pufferzone, Durchgangsbereich. Strassen, Schienen und Parkplätze; Farben scheinen einzig in Graffitis auf. Nichts ist für hier gedacht, nichts wurde für hier gemacht. Alles hier ist bloss eine Folge; von anderen Menschen, anderen Dingen, an anderen Orten. Dieser Platz lebt gewiss, doch es ist nur der nackteste Zufall, der dies Leben auf der Resthalde der Welt noch gebiert. Neben dem Verkehr, der zu den Örtlichkeiten, die er durchquert, ein autistisches Verhältnis pflegt und alles Ruhende als tot behandelt, wird der wenige Platz von den Pannen und Pathologien, von den Skurrilitäten und Einöden des Alltags beherrscht. Reisende und Berauschte stranden hier, Radfahrerinnen stehen im Regen vor der Ampel, und gewesene Konzertbesucher setzen sich hin, trinken Bier und zerschlagen mit Strassenschwemmsteinen moderne Leuchtplakatplexiglasscheiben.
Weit über alldem sitze ich, und blicke über den Fluss auf einen Ahornbaum, der seinen hellen Stamm in der Abendsonne bräunt. Doch der Platz erfüllt und fesselt wieder meinen Blick, ich kann ihn nicht abwenden. Meine Augen melden Flimmern und schwarze Punkte, die umherhüpfen, weil ich nicht mehr blinzle. Wo ist dieser Baum, wo bin ich? Wo soll es hin? Septemberzweitausendfünf – gerade an dieses Datum hätte ich nie gedacht, als sich meine Welt einrichtete, als das Jahr 2000 noch Metapher war. Wo bin ich, warum spüre ich das Morgen tausendfach stärker als das Heute? Wo ist dies flatterige Vielleicht und Als-ob meiner Kindheit, das unbeschwerte Besehen, Lavieren und Richten meiner Jugend? Damals konnte das Leben alles sein. Wo ist sie, die Geborgenheit in der Zeit, deren Ablauf ich herbeiwünschte, weil er die Freiheit versprach? Die klare Dauer, die es durchzustehen galt, und während der alles nur auf Probe war? Heute, in der Freiheit, wird die Zeit zum Drucke. Heute gibt es kein Möglicherweise mehr, keine Ruhe mehr im Provisorium; es gilt ernst. Doch in greifbarer Nähe lösen Traumbilder sich umgehend auf.
In der Zufälligkeit und in der Unrast dieses Platzes verfliesse ich mich und werde hingespült. Hier werde ich heute bleiben. Die Unbestimmtheit darf noch andauern. Vielleicht wird Ruhe sich einstellen.
moccalover - 15. Sep, 21:29
Es war das Ende. Was seither geschah, war nicht mehr real, drang nicht mehr in meinen Kopf, war so austauschbar, dass ich es nicht wahrnehmen mochte. Nur einen Kaffee hatte ich trinken wollen, mit zwei oder drei Zigaretten die Zeit verdrücken und dann nachhause gehen. Kaffee hätte ich zuhause auch gehabt, doch ich wollte es noch etwas verzögern, da zu sein. Weil ich aber weder Zeitung noch Buch bei mir hatte, beobachtete ich die Menschen, die um mich herum gingen und an mir vorüber die Buchhandlung hinter meinem Strassencafé besuchten. Und es hätte nicht sein müssen, denn zugleich wäre auch eine äusserst anmutige Dame vor meinem Tisch durchgeschwebt, doch ich blickte ein wenig beschämt zur Seite und haftete mich an einen Jungen mitsamt Mutter, der mit beiden Armen stolz das neugekaufte Kind-ich-erklär-dir-jetzt-mal-die-Welt-Bilderbuch vor der Brust umschlang. Ich musste unwillkürlich an die Studierstube meiner Grosseltern denken, in der ich als Kleiner diese vielbebilderten Bände auf den Knien hielt, die die Welt und ihre Besonderheiten abbilden und beschreiben.
Schon nach wenigen Jahren dieser stetigen Sommerferienlektüre würgte mich die Idee, dass in meiner Zeit alles entdeckt sein würde, jeder Winkel der Erde ausgeforscht, alle natürlichen Elemente isoliert. Es gab nichts mehr zu entdecken, immer war schon einer da gewesen und hatte dies gefunden. Das wirklich Neue, so begriff ich, gab es nur in der Vergangenheit einmal, es gehörte allein ihr. Wir wussten alles, und die letzten paar Dinge, die in den betagten Büchern noch als rätselhaft und ungelöst beschrieben wurden, waren zwischenzeitlich längst entzaubert. Ich spürte die grosse Nutzlosigkeit meines Entdeckerdranges, der meiner Lebzeit stets wühlen würde, wo schon geackert war. Wenigstens eine kleine Insel, so wünschte ich mir, hätte doch auch vom Mond und den Satelliten aus noch unerkannt bleiben können, damit sie auf mich warte. Aber ich wusste, dass es vollkommen aussichtslos war; schon damals, obwohl es da noch nicht einmal GPS und Handys gab. Die Welt, so war ich mir sicher, würde in grösster Langeweile vor sich hin existieren und selber enttäuscht sein darüber, dass sie nicht mehr zu bieten hat.
Lange Zeit, nachdem die anmutige Frau und der Junge mit seiner Mutter an meinem Tisch vorbeigegangen waren, sass ich noch da, als blickte ich auf ein solches Erklärbuch auf meinen Knien. Erst indem ich endlich wieder aufsah, fiel mir auf, dass die Sonne von einer Wolke verhüllt war und die Tische um mich, ja die ganze Strasse, sich geleert hatten. Die Stadt setzte für einen Moment ihr Rauschen aus. Ich nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, um mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Um die Ecke beim geschlossenen Dönerschuppen klang ein Keuchen. Ein zarter, schwacher Gedanke mit dünner Haut schleppte sich hervor, stiess beinahe mit dem verplakatierten Stromkasten zusammen und hielt einen Augenblick lang inne. Er war klein, es musste sich noch um ein Kind handeln, doch das Kind war gezeichnet von seiner Flucht. Es wollte wieder ansetzen, um weiter zu ziehen, als eine kleine Fledermaus es von hinten anflog und in seinen Nacken biss. Sie hakte sich wild flatternd fest und begann laut zu piepsen. Sogleich waren tausend andere dieser Vampire in der Luft und stürzten sich auf den hilflosen, kleinen Frischgedanken, der in sich zusammensank.
Ein Räuchlein stieg noch auf, bevor die Sauger sich trollten. Ich sass stundenlang versteinert da und merkte es nicht. Ohne zu wissen, wie mir geschah, ging ich nachhause und weinte. Mein Kopf war nicht mehr da. Gerade war der allerletzte neue Gedanke gedacht worden.
moccalover - 15. Sep, 00:39
In Zürich
haben sie 2005 Knabengeschossen war das
Knabenschiessen 2005.
moccalover - 13. Sep, 00:43
Es war eine sehr farbige Zeit, alles war intensiv, die Geräusche, die Gefühle, die Gerüche und Gespräche. Wir liefen alle plötzlich mit diesen Dingern herum. Und natürlich haben wir gelacht, manchmal waren wir glücklich. Wir sahen sie ohnehin schon lange nicht mehr, die grauen Betonwände unserer Strassen und Plätze, wir achteten schon lange nicht mehr auf die Schmieren darauf. Aber wenn wir hingesehen, wenn wir die Wände betrachtet hätten, wären wir auch davon noch entzückt gewesen. Wir hörten Musik, wir reisten in fremde Länder, wir feierten ausgelassene Feste, wir fochten wilde Schlachten und lebten die wahre Liebe. Alles mit diesen kleinen Geräten. Es war überwältigend neu, es war hinreissend schön. Wir sogen diese Welt in uns hinein, sie machte uns kreativ und stark, weil unsere Gedanken mit einflossen in das Gerät. Wir verstanden uns alle und machten alles zusammen, wir glaubten an die Möglichkeiten. Das machte uns glücklich. Man konnte sie ja ausschalten, ausstecken und wegsperren, die Apparätchen. Damals. Man konnte sie wegwerfen, man konnte sie verachten, und man konnte auch glauben, es gäbe sie nicht. Damals konnte man ohne diese Dinger über die Strasse gehen, im Kino sitzen, im Park spazieren. Man musste sich noch nicht einmal den Chip einbauen lassen. Man konnte alles ohne die Geräte tun; und bald konnte man alles mit ihnen tun; und dann waren sie in uns. Und natürlich waren wir manchmal glücklich.
moccalover - 12. Sep, 23:41
Max steht auf fauligem Laub vor dem Grab. Sein Gang hat ihn hierhergetrieben, sein ewig nervöser Schritt, der heute Abend nicht ruhen mag. „Warum klagt ihr? Ihr beschwert euch doch nicht, dass die Berge da stehen, wo sie stehen? Weshalb denkt ihr, alles Leben sei lang? Die Eiche steht vielleicht hier für beinah immer, doch die Sonnenblume knickt sich nach einem Sommer schon, und tausend Eichsprösslinge wurden nicht einmal so alt. Dies Leben war immer nur auf kurze Zeit bestimmt.“ Max drückt sich mit seinen steif gestreckten Armen die Handknöchel noch tiefer in die Hosentaschen und zieht seinen zwischen den Schultern eingeklemmten Kopf krampfhaft zur Seite. Du hast immer recht, du bist nicht mehr da; aber du irrst dich, du wolltest es einfach so. Es war dir nicht einfach so bestimmt. Du wolltest es nicht anders, aber wir hätten dich gebraucht. Und Max starrt auf den Stein mit der Inschrift. Schliesslich gibt er auf, rührt sich als Erster und geht. In seinen Gedanken auf dem Weg zum Tor beschleunigt er seine Schritte über den feinen Kies immer mehr, weicht einer Schubkarre mit einer grünen Giesskanne und einem Rechen darin nur knapp aus und hält unvermittelt inne, dreht sich um und blickt zurück zum Grab. Es liegt schon weit hinten, und der Abendnebel hat sich in die Bäume auf dem Weg dahin gelegt, so dass Max in eine flimmernde Ferne blinzelt.
moccalover - 12. Sep, 23:33
Brennt euch noch ein auf meiner Netzhaut, ihr Farben, ihr schroffe Formen, prägt euch tief in meine Sinne. Legt euch wie ein Rausch so süss auf all meine Blicke; überlagert und besänftigt die Eindrücke, die ich morgen, übermorgen in mich hole. Färbt meinen Alltag, erhellt mir den Winter. Kräftigt mich mit eurer Unbeirrtheit und wärmt stetig meine Adern.
moccalover - 12. Sep, 23:24
...an der Stelle, an der wir nicht mehr einfach nur denken und den Gedanken für einen Moment akzeptieren, dass es morgen, übermorgen, irgendwann, um gar keinen Deut besser sein wird, sondern wir beinahe unmerklich, aber mit aller Gewalt, schon jetzt und endgültig ausschliessen wollen, dass wir diese Sicht je wieder loswerden könnten, dass wir uns Besseres je wieder vorstellen könnten - da, an dieser Stelle, liegt der Abgrund...
moccalover - 8. Sep, 15:44
(Natürlich ist es nie, gar nie, die richtige Zeit, um gerade darüber zu schreiben, und nicht etwa über geifernde Rotzgören, die einen Verwirrten veräppeln. Aber jenes muss ich zuerst verdauen.)
Türfallen sind Türklinken sind Türschnallen, je nachdem, wo im deutschen Sprachraum man sich gerade aufhält. Das erste Synonym der vertrauten Falle lehrte man mich in der Schule, die mein Hochdeutsch züchtete. Passt auf, so hiess es, das heisst in Schriftdeutsch anders, gebt Acht, dass ihr unter Deutschen nicht enttarnt werdet! Das zweite lernte ich erst viel später kennen, als ich endlich Wien kennenlernte. Und wie fast alle dieser österreichischen Deutschvarianten ist mir auch die Schnalle eine schmunzelerregende und bereichernde Erweiterung des Wortschatzes. Eine solche ist im Übrigen auch das „Fäuelen“, also ein Verbum meines Bernerdialektes, das in lautmalerischer Abwandlung des Wortstammes der „Falle“ die Tätigkeit ausdrückt, an einer geschlossenen Türe nervös, schnell und immer wieder die Türklinke hinunterzudrücken.
Türschnallen sind auf allen unseren Wegen; selbst beim Wandern müssen zumeist Viehzäune durch Törchen passiert werden, die über rudimentärste Ausformungen dieses Gebrauchsmittels verfügen. Sie sind meist genormt und bekannt; beachtet werden sie ohnehin nur zum Zweck, dass die Hand ihren Weg zum Griffe finde. Manche sind protzig und schwer, und nicht wenige von diesen sind sogar so bleiern barock geschmückt, dass sie nur mehr als Attrappen an längst elektronisch bewegten Türen hängen. Ohnehin - moderne Eingänge verfügen, wenn sie überhaupt noch über Türen verfügen, immer weniger über Türklinken. Nur noch Türen im Privatbereich folgen dem klassischen Muster. Bürotüren, Schlafzimmertüren. Aber auch da immer seltener.
Haustüren in Städten bräuchten heute gar keine Türklinken mehr, sie sind alle zusätzlich geschlossen, das blosse Betätigen der Klinke vermöchte den Zugang gar nicht zu eröffnen. Abgesehen davon gibt es entweder automatisierte Schleusen für Publikumsverkehr oder hochkomplex elektronisch gesicherte Zugangsprüfungssysteme, welche in geschützten Bereichen über Eingang und Ausgang wachen. Bei Letzteren wird der physisch konkrete Vorgang der Türöffnung vielleicht, dann aber letztlich nur zufällig und höchstens aus nostalgischen Gefühlen des Planers heraus, nach der Zutrittsfreigabe noch über eine Klinke abgewickelt. Und natürlich gibt es Kombinationen der modernen Systeme, also Türen, die zeitweise für den Publikumsverkehr geöffnet werden, die indes gleichwohl eine Art von Ein- oder Austrittskontrolle ausüben. Ohne dass das Publikum eine Falle betätigen müsste. Die Diebstahlüberwachungsdispositive am Ausgang von Warenhäusern gehören dazu.
Türfallen machen die Türe zur Tür. Sie eröffnen Möglichkeiten, das Schloss schliesst sie aus. Türklinken können sanft in der Hand liegen und in einer satten Weichheit zu bewegen sein. Sie können auch klappern, klemmen und ächzen. Es gibt solche, die knacken, und solche, die kleben. Türfallen können ekeln und gemieden werden, nur mit dem Handtuch oder ausweichend an ihrer Ecke angefasst werden, weil sie in öffentlichen Toiletten sind.
Es gibt Türschnallen, die wurden eine Viertelstunde lang nicht losgelassen und davon ganz warm und feucht, weil das Gespräch oder der Streit immer weiterging. Es kommt vor, dass einer sie lange nur mit den Fingerspitzen antippt, mehrmals den Druck aufzubringen versucht, um sie zu betätigen, die Türe zu öffnen und den Raum zu betreten, nach geraumer Zeit jedoch von seinem Vorhaben ablässt und geht. Es kommt auch vor, dass eine Person die andere in einen Raum einschliesst, und diese manifestiert ihren unbedingten Willen, die Türe durchschreiten zu können, durch ewiges, lautes und aggressives Hinunterdreschen der Türschnalle. Und es gibt den Gedanken daran, dass, von dem Moment an, in dem der Druck der Finger auf der Klinke stärker wird als deren kleinster Widerstand, die Klinke sich auch im anderen Raum wahrnehmbar bewegt. Das Gefühl dieses Gedankens kann sich übertragen auf alles, was in dieser Metapher des no-way-back überhaupt beschreibbar ist.
Schon lang gibt’s auch Klinken, die werden stetig beworben. In berühmten Nachrichtenmagazinen und an sichtbarster Stelle; mit einem Selbstbewusstsein, das dem Chrom und dem Aluminium mancher dieser Fallen gleicht. Die schlichte Türschnalle, die ehedem höchstens an Stadttoren und wichtigen Häusern mehr als Gebrauchswert benötigte, wird zur Erklärung an die Welt und zum Teil der persönlichen Lebensanschauung. Wird beinahe zum Letzten, das man dem Zufall überlassen dürfte. Und möglicherweise wurde der Türfalle bis anhin tatsächlich zu wenig Bedeutung zugemessen.
moccalover - 7. Sep, 23:48
Sie ist jetzt verheiratet, ganz frisch, sagt sie mir am Telephon, und zum Glück sage ich nicht zum Glück. Ich sage nur, dass es schade sei, dass ich nicht dabei sein konnte. Wir plaudern vergnügt über ihre Hochzeit, von der sie mir ausführlich berichtet. Und in den Flitterwochen seien sie für zwei Wochen, nur sie mit einem Koch, vier Pferden und einem Führer, durch die Wüste gezogen. Der Koch habe den ganzen Tag lang gekocht für sie, sei ihnen vorausgeeilt und hintennachgerannt, um für sie zu kochen. Und der Führer habe sie gar nichts machen lassen, weder Zelte aufbauen noch abwaschen. So liessen sie sich verwöhnen, und sie genossen es. Es sei nicht einmal teuer gewesen. Zum Glück war ich nicht dabei.
moccalover - 6. Sep, 22:23
"Sie haben mich beeindruckt, mein Herr, wie Sie während unseres ganzen Gespräches nicht im geringsten das Fachliche verlassen haben, weil Sie, selbst wenn Sie den Leuten auf der Strasse zusahen, nur an unsere Diskussion dachten, weil Sie die Pracht der sommerlich gekleideten Frauen nicht wahrnahmen!" - "Oh, Sie müssen da etwas missverstanden haben, ich habe all dies sehr wohl bemerkt, ich habe den Frauen nachgeschaut, und ich habe gut verstanden, wie Sie mich auf den halb entblössten Po der jungen Dame neben uns hinwiesen. Ich fühlte mich nur ausser Stande, solche Gesichtspunkte in unserem Gespräch aufzunehmen, ich hielt das für uninteressant in der Diskussion, die wir führten."
moccalover - 6. Sep, 21:03
...in den Gärten und den öffentlichen Töpfen, überall blüht jetzt der Lavendel, eine Blüte findet zwischen meine Finger, wird abgerissen, wird mitgenommen; ich klaube die einzelnen Blütenköpfchen während meiner Arbeit ab und zerreibe sie zwischen den Fingern, die den Duft zu meiner Nase tragen...
moccalover - 6. Sep, 15:44
…das Problem besteht ja nicht darin, dass manche Leute besser wüssten als andere, was für sie gut ist – es ist vielmehr, dass für manche Leute Realistischeres gut ist als für andere.
Das sagte Frau L. vom Bestattungsinstitut, als sie sich von der Maschine im Pausenraum einen Kaffee brauen liess.
moccalover - 6. Sep, 00:08
"Er hatte wenigstens Träume…“. Ich stelle mein Teeglas auf das gelbe Papier in der Untertasse, entflechte Zeigefinger und Tassengriff meiner Rechten vorsichtig und nehme die Hände zu mir. Die Finger der jungen Frau knabbern an der Zellophanhülle einer Zigarettenpackung. Sie hebt ihren Kopf und trotzt gebückt, nicht gegen mich, aber gegen das Fenster, gegen die Tür, gegen den Raum. „Ich habe ihn vielleicht nicht wirklich geliebt, ich habe ihm vielleicht auch nie wirklich geglaubt. Aber das zählte eben nicht.“ Sie mag zweiundzwanzig, höchstens vierundzwanzig sein; und als sie ihn kennenlernte, war sie eineinhalb Jahre jünger.
Damals hatte sie gerade ihre Ausbildung abgebrochen und arbeitete mal als Kellnerin, mal als Babysitterin, und fragte sich, was sie tun sollte. Sie hatte immer schon hier gewohnt, in diesem grossen Landdorf weitab von jeder Urbanität. Er war eines Tages einfach da, erschien aus dem Nichts in der Bar, in der sie aushalf, und trotzdem schien er schon eine Menge Leute zu kennen. „Er war immer sehr ausgewählt gekleidet, und schon bald wusste man, dass er teure Geländewagen fuhr. Und Sportwagen. Er war sehr einnehmend und bezahlte oft ganze Runden.“ Bald schon hatte er sie als Webdesignerin für die Firma geworben, die er in dem Landdorf gerade aufgezogen hatte. „Er sprühte vor Ideen, und er wollte immer alles sofort umsetzen, alles kaufen. Und mich verwöhnte er natürlich auch über alle Masse. Wir waren in den teuersten Hotels, genossen das feinste Essen. Ich muss sagen, dass ich ihn zu Beginn nur machen liess, weil ich meiner ehemaligen Schulkollegin eins auswischen wollte, die, als noch sie mit ihm zusammen war, mich wegen seiner Avancen fertigmachen wollte.“
„Ich fragte ihn immer, wo er das Geld herhabe, wenn doch die Firma noch nicht laufe, und er hatte immer eine gute Antwort, sprach von Beziehungen und stillen Reserven, von Firmen im Ausland, die florierten und ihm gehörten; er zeichnete Checks, die faul waren, und er redete sich erfolgreich um Kopf und Kragen, um Produkte zu kriegen, ohne eine Anzahlung zu leisten. Es war immer gleich, die Leute liessen sich am Anfang von ihm eingarnen, und bald schon lag er mit allen im Streit. Er hielt sich an nichts, und sah nie einen Fehler. Ich glaubte ihm auch immer wieder, er weinte oft, und er sagte, dass das alles bald vorüber sein und dass wir bald reich sein würden. Am nächsten Tag hatte er vielleicht ein neues Auto ertrickst, und wir fuhren damit in einen Luxusurlaub. Ich vergass schnell, was ich ihm riet.“
„Er sprach immer davon, dass er das ganz Grosse aufziehen wollte, er hätte die Idee schon lange, nur fehle ihm noch das Geld dazu. Dann würde diesem Provinzkaff endlich ein zünftiger Schub an Fortschritt und Leben verpasst. Wir waren auf den Malediven zusammen, und er schien mir die Welt schenken zu wollen.“ Ich bitte die junge Frau um eine ihrer Zigaretten und lächle zum Dank. „Das mag ja schon stimmen“, meine ich, nachdem ich den ersten Rauch ausgeblasen habe. „Das mit den Malediven war genau vor unserer Verhaftung. Er hatte nicht einmal versucht, die Hotelrechnung zu bezahlen, und so wurden wir noch vor dem Abflug in Handschellen gelegt.“
Die Frau verfällt mehr und mehr in hadernde Töne. Seit geraumer Zeit spickt sie mit ihren Fingern immer wieder genervt Krümel von der Tischdecke und zieht Fusel aus ihrer Wolljacke. „Ich habe mich oft gefragt, wie ich so lange mit meinen Füssen auf dem brüchigen Steg stehen konnte, wie ich es aushielt, dass in jedem Moment alles zusammenbrechen konnte, warum ich mich nicht daran störte, dass unser Leben nur mehr aus Ausreden und Geschichten bestand. - Wissen Sie, ich weiss es nicht, er hat mich betäubt, und irgendwie war es doch auch nicht schlechter als vorher oder nachher. Die Zeit war schön, die Autos, das Essen, der Schmuck. Der Ausblick auf eine bessere Zukunft…“ Ich schweige, blicke aber ruhig zu ihr hin.
Die Zigarette ist fertig, dafür entzündet sie nun eine für sich mit einem schlanken, goldenen Feuerzeug. „Alle waren gegen ihn, auch deshalb konnte ich ihn nicht verlassen, er ist ein guter Mensch, aber er hat nie eine Chance erhalten. Die Menschen hier hinten sind dröge und stur. Die wollen gar nicht, dass einer Erfolg hat. Er glaubte an sich, er lebte seine Projekte. Er hatte wenigstens Träume.“
moccalover - 6. Sep, 00:06