nichts neues

Es war das Ende. Was seither geschah, war nicht mehr real, drang nicht mehr in meinen Kopf, war so austauschbar, dass ich es nicht wahrnehmen mochte. Nur einen Kaffee hatte ich trinken wollen, mit zwei oder drei Zigaretten die Zeit verdrücken und dann nachhause gehen. Kaffee hätte ich zuhause auch gehabt, doch ich wollte es noch etwas verzögern, da zu sein. Weil ich aber weder Zeitung noch Buch bei mir hatte, beobachtete ich die Menschen, die um mich herum gingen und an mir vorüber die Buchhandlung hinter meinem Strassencafé besuchten. Und es hätte nicht sein müssen, denn zugleich wäre auch eine äusserst anmutige Dame vor meinem Tisch durchgeschwebt, doch ich blickte ein wenig beschämt zur Seite und haftete mich an einen Jungen mitsamt Mutter, der mit beiden Armen stolz das neugekaufte Kind-ich-erklär-dir-jetzt-mal-die-Welt-Bilderbuch vor der Brust umschlang. Ich musste unwillkürlich an die Studierstube meiner Grosseltern denken, in der ich als Kleiner diese vielbebilderten Bände auf den Knien hielt, die die Welt und ihre Besonderheiten abbilden und beschreiben.

Schon nach wenigen Jahren dieser stetigen Sommerferienlektüre würgte mich die Idee, dass in meiner Zeit alles entdeckt sein würde, jeder Winkel der Erde ausgeforscht, alle natürlichen Elemente isoliert. Es gab nichts mehr zu entdecken, immer war schon einer da gewesen und hatte dies gefunden. Das wirklich Neue, so begriff ich, gab es nur in der Vergangenheit einmal, es gehörte allein ihr. Wir wussten alles, und die letzten paar Dinge, die in den betagten Büchern noch als rätselhaft und ungelöst beschrieben wurden, waren zwischenzeitlich längst entzaubert. Ich spürte die grosse Nutzlosigkeit meines Entdeckerdranges, der meiner Lebzeit stets wühlen würde, wo schon geackert war. Wenigstens eine kleine Insel, so wünschte ich mir, hätte doch auch vom Mond und den Satelliten aus noch unerkannt bleiben können, damit sie auf mich warte. Aber ich wusste, dass es vollkommen aussichtslos war; schon damals, obwohl es da noch nicht einmal GPS und Handys gab. Die Welt, so war ich mir sicher, würde in grösster Langeweile vor sich hin existieren und selber enttäuscht sein darüber, dass sie nicht mehr zu bieten hat.

Lange Zeit, nachdem die anmutige Frau und der Junge mit seiner Mutter an meinem Tisch vorbeigegangen waren, sass ich noch da, als blickte ich auf ein solches Erklärbuch auf meinen Knien. Erst indem ich endlich wieder aufsah, fiel mir auf, dass die Sonne von einer Wolke verhüllt war und die Tische um mich, ja die ganze Strasse, sich geleert hatten. Die Stadt setzte für einen Moment ihr Rauschen aus. Ich nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, um mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Um die Ecke beim geschlossenen Dönerschuppen klang ein Keuchen. Ein zarter, schwacher Gedanke mit dünner Haut schleppte sich hervor, stiess beinahe mit dem verplakatierten Stromkasten zusammen und hielt einen Augenblick lang inne. Er war klein, es musste sich noch um ein Kind handeln, doch das Kind war gezeichnet von seiner Flucht. Es wollte wieder ansetzen, um weiter zu ziehen, als eine kleine Fledermaus es von hinten anflog und in seinen Nacken biss. Sie hakte sich wild flatternd fest und begann laut zu piepsen. Sogleich waren tausend andere dieser Vampire in der Luft und stürzten sich auf den hilflosen, kleinen Frischgedanken, der in sich zusammensank.

Ein Räuchlein stieg noch auf, bevor die Sauger sich trollten. Ich sass stundenlang versteinert da und merkte es nicht. Ohne zu wissen, wie mir geschah, ging ich nachhause und weinte. Mein Kopf war nicht mehr da. Gerade war der allerletzte neue Gedanke gedacht worden.
sravana - 15. Sep, 00:45

Heute

wird dein Beitrag zu meiner Bettlektüre. Vielen Dank gute Nacht und einen angenehmen Schlaf.

moccalover - 15. Sep, 00:55

Gute Nacht auch - und nicht erschrecken :-)

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Trackbacks zu diesem Beitrag

wimpernschlag.twoday.net - 15. Sep, 11:50

alles schon entdeckt?

Die Welt, so war ich mir sicher,... [weiter]

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