Dienstag, 30. August 2005

Hochzeitskarte

Max stand alleine im Glaslift und liess sich weit nach oben tragen. Mit dem rechten, etwas feuchten Zeigefinger fuhr er über die Chromarmaturen und kratzte mit dem Fingernagel durch die gezogenen Spuren.

Du hättest mir besser nicht geschrieben; es sei denn, du hättest mir eine Heiratskarte geschickt. Aber nein, es ist die Einladung zum WG-Auflösungsfest. Nun, hoffentlich ziehst du danach mit deinem Freund zusammen, das wäre doch das Beste, dann könnte ich heute Abend ruhig ins Bett. Du hättest mir besser nicht geschrieben, ich kannte bis heute noch nicht einmal deine Handschrift. Die hättest du mir ersparen können, eine Mail hätte es doch auch getan, oder höchstens deine Unterschrift. Aber keine Sätze, und schon gar nicht ein individualisierter Text auf einer doch im Dutzend versandten Einladungskarte. Gar eine Rechtfertigung, warum ich, die entfernte Bekanntschaft, auch dabei sein müsse. So bringst du mich ins Denken, wo zu denken es nichts gibt. Das weiss ich ja eigentlich. Du solltest bloss mein Traum sein, du darfst nicht zu nahe treten. Das bringt Unglück. Und du weisst gar nicht, was du tust. Ich muss meine Hirngespinste zähmen, meine Sehnsucht nach dem immer anderen belehren.

Als Max den Lift verliess und den Gang entlang schritt, entschloss er sich, hinzugehen. Immer dann, wenn ich Lucille etwas länger gesehen habe, ist ihr Zauber ein wenig verfallen, sagte er zu sich. Und er hoffte fest auf eine Hochzeitsankündigung. Vor allem aber hätte er es, so oder anders, nicht lassen können.

Holundersirup

Sturzbachartige Passantenströme drängen mir entgegen. Dieser Bahnhofsunterwelt will ich entfliehen, ich gehe schnell und schmiege mich hin und her, um niemanden zu erwischen. Doch der Strom wird zu dicht, ich stelle mich in den toten Winkel einer Säule, warte ab. Auf einmal rieche ich Parfum, und hinter mir steht eine Frau, ich blicke mich kurz um, sie schaut verdutzt, und ich versuche zu lächeln. Für einen Moment im gleichen Boot. Ein paar Sekunden lang mag ich nun doch noch nicht weitergehen, aber schon bald höre ich ein Rascheln, die Frau muss sich wohl auf den Weg machen. Sie sticht scharf an mir vorüber in die Menge, und bevor sie an mir vorbeigeht, streift ihre Brust mein Schulterblatt. Weich, tief, flüchtig.

Aber so sanft, dass ich sogleich über mögliche Absichten mutmasse und diese Gedanken auch später, beim Heimgehen, immer wieder im Kopf herumschwirren sehe. Genau wie in der siebten Klasse, als die Mädchen es sich zum Vergnügen machten, einem bisweilen auf diese Weise nahe zu kommen, ohne in irgendeiner Weise eindeutig zu sein, geschweige denn ertappt werden zu können.

Immer hatte mich diese Form gefesselt, die mir abgeht. Dieses Weiche, diese Wärme. Wenn es keinen Penisneid gibt, dann gibt es noch immer und ganz sicher einen männlichen Brustneid. Nur ist es kein eigentlicher Neid, es ist ein Sehnen, eine ewige Faszination. Es mag auch auf frühkindlichen Erfahrungen beruhen, mit Sicherheit beruht es bei mir aber auf diesen Schülererfahrungen, die in ihrer Intensität mein heutiges Erlebnis natürlich in den dunkelsten Schatten stellen. Alles war es noch fremd damals, noch nie hatte ich eine Brust betrachten und liebkosen dürfen. Wenn er mir zuteil wurde, versetzte mich dieser vorerst einzige Berührungspunkt zum Unbekannten, zu dem zu entdeckenden Land, jeweils in einen Traumzustand, der schnell zerbröckelte. Ohnehin war es ausgeschlossen, solche Situationen irgendwie erotisch aufzufassen, jedenfalls das irgendwie zu zeigen.

Und so wurde die Wichtigkeit der Ereignisse durch deren seltenes Auftreten und deren Verschwiegenheit noch gesteigert.

Heute begleitet mich das Erlebnis nicht mehr so beherrschend, nur nebenbei, aber wie ein schwachsüsser Geschmack im Mund; getrunkener Holundersirup.

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nuusche

 

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