Freitag, 5. August 2005

Herbstlicht

Heute war der erste Herbsttag. Der starke Regen von Dienstag und Mittwoch hatte die Luft geklärt, und als ich heute morgen beim Aufstehen vom Bett aus zum Himmel blinzelte, war dieser plötzlich von allen Wolken befreit, leergefegt, offen zum Weltall, und schon in der frühen Morgensonne blau.

Der Sommer ist mir recht und billig, weil er die Welt - und mit ihr auch mich - so schön aufwärmt, mir das Draussensein erleichtert und mich anspornt, nach draussen zu gehen. Und weil man ihn beim Baden so schön wegkühlen kann.

Aber der Sommer, zumindest hier in Mitteleuropa, ist eigentlich eine sehr dunstige Angelegenheit. Das Licht ist stark, aber fahl, verstreut und farblos, als fiele es aus Neonröhren in einer Trinkhalle mit unlackierten Fliesen. Schon den Wald auf dem Hügel hinter der Stadt sieht man nur im blauen Schleier; die Berge weiter hinten flackern matt in der Hitze und teilen den Grauton des Himmels am Horizont.

Manchmal, wenn an Sommerabenden ein heftiges Gewitter durchzieht, die Wolken danach wieder aufgehen und es noch nicht zu spät für eine letzte Sonnenstunde ist, sieht man diese frische Klarheit in der von allem Staub und Dampf befreiten Luft. Dieses Licht – ob hell oder dämmernd – kehrt nun alles besonders hervor, zeichnet alle Linien scharf nach, so dass sich alles in der Welt von allem deutlich abhebt. Überall sind harte Kontraste, weich beleuchtet, und alles erhält eine viel plastischere Form.

Dieses Licht auf den Dingen entführt meine Augen, entreisst sie meiner Steuerung und lässt sie nur noch unentwegt staunen. Ich könnte mich nie sattsehen, an dem, was sich mir da bietet. Tausende Formen und Details, Facetten und Kleinigkeiten der Welt scheinen auf, deren Existenz ich an dunklen und dunstigen Tagen mir nie erahnt hätte. Und alles wird schön, ästhetisch.

Es ist ein versöhnliches Licht, eines, das die Welt liebt, die es erhellt. Die Bäume, die Hügel, ja selbst die schroffsten Berge erscheinen in ihm warm und lieblich, friedlich gesinnt. Und alles scheint mit einem Mal so betrachtenswert und voller Kostbarkeiten, die es noch auf vom Wetter verrissenen Klebplakaten zu entdecken gibt.

In guten Herbsten kann sich dieses Phänomen häufen. Wenn nicht gerade eine Nebel- und Regenphase dies verhindert. Dann lasse ich – wie heute – die Stimmung auf mich einwirken, so gut es nur geht. Wegen diesem schönen Lichttag und weil es eher kalt war, dachte ich heute, dass dies der erste Herbsttag sein muss.

Gerade beliebte Ratespiele in der Schweiz:

1. Sudoku
2. Welchen Zahlen gebühren morgen Samstag die acht Lottomillionen?
3. Warum wird Rasen immer an den schönsten Tagen motorgemäht?
4. Wie können die nationalen – pardon: „eidgenössischen [das ist ja dann was ganzganzganz anderes, oder?] Sozialisten“ (Eigendeklaration) davon abgehalten werden, am Nationalfeiertag auf der Nationalwiese Magistraten anzupöbeln?

Sollen sie von der Feier ausgeschlossen werden? – Dann wälzen sie sich in ihrer Opferrolle von den meinungsunterdrückten letzten Aufrechten.

Sollen sie durch kollektiven Verzicht der braven Mehrheit auf Veranstaltung einer Feier auf dem Rütli alleingelassen werden, soll ihnen dadurch ihr eigentliches Ziel - das gemeinsinnfördernde und zugleich medienträchtige Herummarschieren auf der durch Schillersche Feder geschichtsträchtig erklärten Stätte und das heuchlerisch-nationalbetroffene Echauffieren über die absehbar kreuzbrave Nationalfeiertagsansprache des amtierenden Bundespräsidenten vereitelt werden? – Dann sieht’s nach Niederlage und Rückzug der Mehrheit aus, und die Bundeswiese versumpft vollends unter den harten Sohlen dieser strammen Besserwisser.

Sollen sie durch Herbeischaffung und -schiffung hunderter wirklich braver Bürger in die Minderheit gedrängt werden? – Dann sprechen sie umso mehr von jener Manipulation, die sie allenthalben zu ihrem Nachteil zu entdecken glauben.

Sollen sie durch Einladung von Bevölkerungsmitgliedern ausländischer Herkunft mit der von ihnen so verabscheuten Realität konfrontiert, durch Servieren vorzüglichen, bspw. tamilischen Essens mit dieser Realität gar versöhnt werden? – Dann geht es mit den Pöbeleien und beinahe sicher auch mit Schlägereien erst recht los.

Soll der Bundespräsident mit diesen Menschen sprechen, sie in seiner Rede herausfordern, zu konstruktivem und den fernen Utopien abschwörendem Denken auffordern? Ja. Mehr geht nicht, mehr darf’s nicht sein. Und wer denkt, er lasse es sich doch nicht nehmen, aufs Rütli zu pilgern, nur weil auch sie wieder kommen werden, der zeige doch bitte ein bisschen mehr Abscheu vor diesen egoistisch die Menschheit spaltenden, selbstgerechten Nach-unten-Tretern. Denn nur dies hilft wirklich, dass die schweigende Mehrheit, die jeder auf seiner Seite glaubt, Stellung bezieht. Und täte es dann auch noch jener Teil der Schweigenden, der sich am 1. August jeweils ohnehin in räumliche und gedankliche Nähe zu den Äusserstrechten begibt, so wäre es besonders wirksam.

Welches Bloggerl darf's denn sein?

...da bin ich also. Das heisst, ich bin hier vor dem PC wie so oft, aber mein neues Ich ist hier auf dem Bildschirm. Und in der Küche steht die neue Kaffeemaschine. Aber der Reihe nach.

Ich bin überzeugt, dass Blogger eine eigene Existenz haben - eine, die sich grundsätzlich von der physischen "Realperson" unterscheidet und sich teilweise autonom entwickeln kann. Jede noch so erfundene Bloggerin (und gerade sie!) erzeugt ihre eigene Realität. Das ist jetzt alles nicht esoterisch gemeint, sondern als Wahrnehmung eines neugierigen Neulings, der seit ein paar Monaten hier und da liest und bisweilen kommentiert, wenn es ihn unter den Fingern juckt.

Mir fiel dabei die Vielfalt der Blogs und ihrer Zwecksetzungen auf - aber auch, dass sie alle etwas eint: Sie sind Darstellungsräume für Ideen und Neigungen in uns, die in ihrer Selektion und ihrem Zusammenwirken ein neues Bild ergeben. Nicht einfach ein unzureichend die "Realität" der dahinter stehenden Personen abbildend, sondern eine neue Wirklichkeit, eine neue Kontinuität und Eigengesetzlichkeit entwickelnd. Wie nahe und wie fern sich die Blogsperson dann von der sie erschaffenden Person entfernt, kann natürlich variieren. Das ändert jedoch nichts an der Unabhängigkeit der beiden.

Zwar sind längst nicht alle Blogs dazu da, um Personen mehr oder weniger "realitätsgetreu" darzustellen. Manche erfüllen journalistische, manche politische oder soziale Kommunikationszwecke. Die Unterkategorie der - mehr oder weniger - auf die Person des Bloggers selber bezogenen Blogs aber finde ich besonders interessant.

Manche erschaffen sich eine Phantasie-Identität (nicht selten im anderen Geschlecht), lassen ihren aus irgendwelchen Gründen sonst unpässlichen Neigungen ihren Lauf, erfühlen sich die fremden Eigenschaften und - vor allem - laben sich an der sozialen Interaktion mit anderen Personen, welche sie in ihrer neuen Identität kennenlernen und erleben.

Manche führen die Frühstücksblogs, in denen Verrichtungen des Alltags notiert werden. Daraus können akribische Dokumente unseres Lebens und von dessen mitunter poetischen Kleinigkeiten entstehen, die vielleicht gar einmal die Soziologie bereichern.

Manche stellen einfach ihr Leben dar, oder jedenfalls das, was sie davon eben darstellen wollen. Manche tun dies sehr direkt, und berichten vom Sitzungs- oder Kinderfestabend, und andere erfinden literarisch wertvoll verschlungene und verzierte Geschichten, in die sie ihre oder anderer Erlebnisse packen.

Manche wollen nur plaudern, manche müssen senden, manche sind sich gar nicht sicher, ob sie direkt mit anderen sprechen wollen, oder ob sie einfach Tagebuch führen.

Manche suchen gezielt die Zerstreuung, manche die Bewältigung ganz bestimmter Probleme. Die meisten werden sich wohl nicht festlegen lassen wollen.

Und im Zuge meiner immer gierigen Lektüre begann ich mich da und dort einzumischen, und daraus entstand der Wunsch, wirklich dazuzugehören. Denn nur als Blogger ist man Blogger unter Bloggern, so einfach dies auch klingen mag. Darum geht es, das begriff ich schnell.

Wie sollte ich als bloss Registrierter wirklich an dieser Welt teilhaben können, wenn die Persönlichkeit hier - und das ist nicht abwertend gemeint - erst durch die Eröffnung eines Blogs verliehen wird? Man ist akzeptiert, bleibt aber ein unbekannter Geist, der durch den Blogpalast huscht und bald wieder ganz verschwindet. Das ist von der Blogosphäre nicht einmal böse gemeint, man bleibt für die Blogwelt einfach gesichtslos, solange keine Text- und vielleicht auch Bildsammlung da ist, in der man mehr (und vielleicht sehr viel) über den Gast erfahren kann.

Den Ausschlag gab dann eben die Kaffeemaschine, die ich im Internet bestellte und auf die ich sehr lange wartete . Frau Modeste machte mich darauf aufmerksam, dass die Gäste rätselhafte Wesen und nicht bis ins letzte vertrauenswürdig sind. Und bei dieser Gelegenheit versprach ich ihr, sie in meinen noch zu eröffnenden Blog auf einen Espresso einzuladen, sobald ich die Maschine hätte. Et voilà! Natürlich ist nun jede und jeder herzlich eingeladen, mit mir einen kleinen Kaffee zu geniessen (den Milchschäumer habe ich noch nicht ausprobiert).

Dass es nun noch zwei Wochen länger dauerte, ist dem Umstand zuzuschreiben, dass ich mir erst über zwei Wochen hinweg darüber klar werden konnte, was mich noch vom Anfangen abhielt. Natürlich mein Streben nach Perfektion, das mich immer zugleich fördert und hindert. Aber so viel liegt mir dann auch nicht daran, man kann ja lernen.

Was mich beunruhigte - so kam ich langsam darauf, war die zwingend anstehende Entscheidung, wer ich denn sein möchte, hier in meiner virtuellen Stube, und vor allem in all den Zimmern und Korridoren, die mich umgeben. Ich möchte mich nicht verstellen, keine Frau mimen und auch fehlende Hipness nicht verbergen. Das war die einfachere Hälfte der Entscheidung. Jedoch: Was möchte ich von mir preisgeben? Das war schon schwieriger.

Das hängt damit zusammen, dass ich ein durchaus respektables Leben präsentieren kann. Aber nicht nur in diesem, sondern vor allem in meinem Innenleben, gibt es weniger repräsentable Aspekte. Ich werde sie kaum alle - und ganz allgemein nicht bevorzugt - hier darstellen. Ich denke, dass andere Menschen das vielleicht nicht verstehen, weil sie in sich keine Abgründe und Abscheulichkeiten erblicken. Sie haben vielleicht das Gefühl, ohne weiteres alles von sich erzählen zu können. Ob sie gleichwohl solche Abgründe haben oder nicht, wäre ein Thema für sich.

Jedenfalls blicke ich manchmal tief in mich und finde Dinge, die ich eigentlich niemand erzählen mag. Und im Blog werde ich sicher einige davon preisgeben wollen, darin liegt ja die Chance dieses grundsätzlich anonymen Mediums. Darum will ich ziemlich anonym bleiben, ohne mich zu verbiegen, und darum wollte ich mir klar darüber werden, was ich wie schreiben soll.

Ganz Alltägliches stellt sich als Problem dann noch hinzu: Soll ich Witze veröffentlichen, soll ich Gedichte schreiben? Soll ich politisch agitieren, oder von Partys berichten? Soll ich einen Stil entwickeln, den ich nie verlasse (solches schafft eine Art Corporate Identity, einen Kolumnen-Wiedererkennungswert des Blogs)? Soll ich Ambitionen hegen, mich um Meinungs- oder Themenführerschaft bewerben?

All diese Fragen könnte ich natürlich mit einem flockigen "jeder soll das tun, was er in sich spürt, was für ihn richtig ist" aus dem Kopf verbannen. Aber ich stellte sie mir, weil ich gerade das innere Gefühl verspüre, dass mein Eintritt in die Blogwelt zumindest für mich persönlich geschichtsträchtig ist. Vielleicht werden künftige Kinder nicht verstehen können, dass wir mal ohne Blog "gelebt" haben sollen, und dann ist der Eintritt ja wohl historisch bedeutsam!

Ich wollte einfach die Gestaltungsfreiheit wahrnehmen, die einem geboten wird und die nie mehr so sein wird wie beim ersten Mal. Darum stelle ich mir all die Fragen, zumindest um sie einmal erörtert zu haben. Ich weiss nie so schnell, was mein Inneres gerade möchte.

Und nun, wie habe ich mich entschieden? Grösstenteils gar nicht, ich bleibe in der Schreibe da, wo ich bin, und im Übrigen weiss ich natürlich, wie schade es wäre, mir allzu Genaues vorzunehmen. Ich möchte schreiben, weil ich das gerne tue, und ich möchte Gedanken äussern, die mich beschäftigen. Ich will mich nicht ideal darstellen - wohlwissend, wie heuchlerisch solcher Vorsatz immer ist.

Ich werde - so hoffe ich - verschiedene Formen ausprobieren und mal mehr und mal weniger von meinem gewöhnlichen Leben berichten. Ich möchte diskutieren, ja streiten! Ich möchte aus ausgewählten Splittern meines Lebens eine für mich und für andere interessante Blogperson gestalten. Das Spannende werden die beidseitigen Interaktionen und Beeinflussungen sein, die die beiden Personen (also ich und der Blog) erleben werden.

Ich will politisch schreiben, ich will poetisch schreiben, und manchmal will ich banal sein und öd. Ich will berichten, und ich will dichten. Ich werde hier die Welt umarmen, und ich werde sie schlagen.

So ist der erste Beitrag verfasst, und das erste Mosaiksteinchen meines Bloggesichts wird erkennbar. Ich kenne es auch nicht, liebe Leserin, lieber Leser, ich kann nicht einmal dies eine Steinchen so sehen wie ihr.

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wer hat das angerichtet?
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moccalover - 12. Mai, 22:39
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moccalover - 19. Nov, 22:36
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moccalover - 19. Nov, 22:34
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moccalover - 19. Nov, 22:33
danke. wenn nur die umsetzung...
danke. wenn nur die umsetzung so einfach wie die erkenntnis...
moccalover - 19. Nov, 22:31
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Reh Volution - 10. Nov, 07:32
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moccalover - 6. Nov, 00:05
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moccalover - 6. Nov, 00:05
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moccalover - 12. Okt, 00:43
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