Montag, 15. August 2005

Er geht.

Noch zweieinhalb Monate. Dann geht er. Ewiger Regen fällt in Giesskannenstrahlen auf den Fenstersims, bildet lustige, kullerige Blasen, weil der Kupferbelag sich nicht nässen lässt. Hier drinnen ist es auch nicht nass, aber die Feuchte durchdringt die Baumwolle der Kleider, und sie legt sich klebrig auf den Holztisch, schiebt sich zwischen den Stuhl und die Hose.

Er geht nicht weit weg, nur ans andere Ende der Stadt. Er war vielleicht - ein bisschen nur - weniger dabei als wir beiden anderen, aber vielleicht war auch ich weniger dabei, und merkte es nicht. Aber wir waren drei. Das zählte. Das war immer über allem. Die faktischen Zweierbeziehungen standen immer unter dem Dache der Drei. Wir waren zusammengekommen, um ewige Reiche der Wohnkultur zu errichten. Um die Jugend zu perpetuieren.

Die Küche ist düster, aber verstörend durchzogen von einem verzweifelten Licht, das sich durch die Untiefe einer schwarzen Regenwolke drängt und am Abendhimmel eine andere Wolke grell erleuchtet und von da verstreut hineinfällt. In zweieinhalb Monaten geht er, zieht zusammen mit ihr, wie er sich in einem schwarzen Loch mit aller übrigen Materie zusammenzöge, wie wenn die Schwerkraft ihn zum Boden zwänge. Er bricht den nie gesprochenen Schwur, dass über die Drei nichts käme; fast, wie wir ihn ständig brechen, aber dieses Mal ist es ernst. Zum grossen Landgut oder Bauernhof wird es nicht kommen, auf dem wir - gegebenenfalls mit Frau und Kind - zusammenbleiben wollten.

Es war ein Schwur, den vielleicht niemand wirklich bis aufs letzte verteidigen wollte. Aber seine Tat entpuppt sich als Grausamkeit ganz unerwarteter Art. Er lässt uns zwei zurück. Ein Paar, ein schönes Freundespaar, sicherlich. Es zeichnete sich auch ab, dass mit zunehmendem Alter die Schwierigkeit steigt, mehr als einen anderen Erwachsenen dauernd neben sich zu haben. Es ging häufig besser zu zweit als zu dritt, ganz gleichgültig, wer mit wem. Aber er wirft uns mit seiner Entscheidung unweigerlich und krachend die Frage vor die Füsse. Selbst wenn gerade er das zuletzt möchte. Wie lange wir denn diese Jugend noch fortzusetzen gedächten. Ob wir uns nicht auch einmal ernsthafte Gedanken machen sollten, die mit Langfristigkeit in Zusammenhang stehen.

Hier steht seine blaue, in ihrer ovalen Form undefinierbare Fruchtschale, auf der manchmal die Äpfel von der Südhalbkugel liegen, deren Unvernunft ich tausendmal gepredigt habe. Jetzt sind es rote Äpfel, und ihre Haut glänzt feuchtfettig. Da drüben die Kaffeemaschine, die wir Giulia nannten, die er in unserem Auftrag und auf gemeinsame Rechnung in Italien vom Bestanbietenden beschaffte, und die wir so oft zum Dottore schickten. Er hat vorhin abgewaschen – sehe ich das nur jetzt, oder ist das neu? Das Spültrogsieb stinkt, weil es noch voller Salat und Sauce ist. Oft stand ich hier und fluchte, und wünschte mir, es wäre soweit, wie es nun ist.

Im Bad liegt Staub, auch er klebt; und er hat wieder nicht aufgepasst beim Pissen. Ich mochte nie zu viel sagen, er nahm alles so ernst. Wir waren Drei, das zählte. Ich mochte ihn genau so, er war genau so wichtig.

Noch zweieinhalb Monate, bis er geht, und er spielt auf der Gitarre, wir schreien durch das geöffnete Fenster in den Regen. In der durchfeuchteten Luft tragen sich die Stimmen in die Wände und lassen sie leise mitsummen. Geht seine Stimme nach oben, suche ich die Basslinie, und so tanzen wir durch die Lieder, immer wechselnd. Wir lachen.

einmal draussen

Graues Regenwetter, Kälte, Müdigkeit, da tröstet mich wenigstens, dass ich nicht im geringsten ein schlechtes Gewissen zu haben brauche, nicht hinaus zu gehen, nicht einen Schritt, nicht eine Nase voll. Doch das weckt Unrast, und am Abend, als die Wolken sich am einen Ort teilen und am anderen Ende des Himmels zu schwarzen Wänden zusammenrotteten, als die Blitze mich von der Ferne her aufscheuchten, als dann Platzregen einsetzte und bis auf meinen Boden spritzte, da war es klar, ganz ohne war unmöglich. In der Badehose, auf der Terasse draussen, dem Wind und dem eigenen Zittern getrotzt, den Regen gespürt, den Zügen vor dem Horizont gewinkt und, die Lichtspiele bewundert, die Arme verschränkt, die Oberschenkel gerieben, schliesslich hinunter, in die Dusche. Ein bisschen Sonne aus dem Boiler.

Namen aufschreiben und eintragen

Der Kleine hiess Eric Müller. Eric Müller konnte schon seinen Namen schreiben, allerdings malte er die Buchstaben c und e immer verkehrt auf das Papier, so dass das noch ein wenig schwer zu lesen war. Aber Eric Müller war stolz darauf, seinen Namen schreiben zu können.

Er malte auch heute Nachmittag, als er im Schulhaus sass, in einem dieser Zimmer, wo es einen grossen Schreibtisch gab mit zwei grossen Lehnstühlen davor, und seinen Eltern auf diesen Stühlen, und er auf einem Stühlchen vor einem Tischchen weit hinten im Raum, den Kopf mit der Linken aufgestützt und in der Rechten ein roter Filzstift, mit dem er seinen Namen auf das Papier schrieb. Er hörte nicht hin, was der alte Mann im grauen Anzug mit seinen Eltern besprach, er hätte es auch nicht verstanden. Er wollte dem Plüschlöwen auf seinem Schoss seinen Namen zeigen, und dass er ihn schreiben könne.

Es war warm hier drinnen, die Hitze machte ihn müde, aber er genoss den Geruch des alten, hölzernen Fussbodens. Eric Müller hatte den Kindergarten beendet und würde bald eingeschult werden. Die Kindergärtnerin hatte ihn sehr gemocht, es war sie, die ihm das Schreiben des Namens beibrachte - wenngleich unvollständig. Eric Müller war auch im Fussballclub, bei den ganz Kleinen, die noch aufrecht auf dem Ball sitzen können. Aber er besass ein Trikot von Sven Müller von Nürnberg, auf das er ganz stolz war. Schliesslich stand da ja nur "Müller" darauf. Seine Freunde nannten ihn beim Fussball nur den "Müllerblitz".

Eric stammte aber nicht von Herrn Müller ab, sondern von Herrn Hagenbühler, der sich kurz nach der Geburt von Frau Hagenbühler scheiden liess, die alsbald zur Frau Müller wurde. Das war bis jetzt nicht so wichtig gewesen.

"Nun, verstehen Sie mich doch, Herr Müller, die Zeugnisse in der Schule sind gültig, naja, ich meine, die haben Gültigkeit. Das ist rechtlich wichtig, dass da der richtige Name drinsteht. Sehen Sie, ich bin rechtlich verpflichtet, dass der Junge mit dem richtigen Namen da drinsteht. Im Geburtsschein steht nun einmal Eric Hagenbühler. Ich muss den Jungen so melden und ihn überall mit diesem Namen eintragen lassen. Zeugnisse, e-mail-Adresse, medizinische Meldelisten etc. etc."

Der Direktor fixierte die beiden Müllereltern eindringlich, gequält, dass eine solche Situation überhaupt entstehen konnte, in der Lebenslügenhäuser zerbrechen. Er bedauerte, an diesem Problem teilhaben zu müssen, empfand aber doch Mitleid. "Sie müssen es ihm sagen, und zwar schnell."

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