Das Buffet war oppulent und letztlich doch billig. Unterkühlte Salate ohne Restgeschmack, fades Filet und klebrige Mousse au Chocolat. Alles war da, sicher genauso wie es auf der Checkliste der Hotelkette stehen musste. Aber es schmeckte Herrn Tobler nicht sonderlich. Nicht dass er es nicht schätzte, oder dass er sich von diesem Diner gar etwas Exquisiteres erwartet hätte (obwohl er dem nicht ganz abgeneigt war). Er fand es einfach übertrieben; er hätte sich eine Rösti gewünscht, oder Pfannkuchen mit viel Zwiebeln und Käse.
Er achtete beim Herausschöpfen der Speisen in seinen Teller gut darauf, dass er seinen schlichtschönen, dunklen Anzug nicht bekleckerte. Er fühlte sich nie ganz wohl in Herrenanzügen, weil sie heikel und sehr teuer waren, und weil man deshalb ständig auf sie aufpassen musste. Sie waren äusserst nachtragend. Diese Kleidung trug er aus beruflichen Gründen, wie er hier in einigen Augenblicken aus beruflichen Gründen Nahrung aufnehmen würde. Aus beruflichen Gründen würde er dabei mit seinen Tischgesellen diskutieren, meist über den Beruf. Es machte ihm Spass, wenngleich es ihn sehr anstrengte und jeweils auch schnell ermüdete, ständig seine Rolle einzuhalten. Nie freute er sich auf derartige Anlässe, aber manchmal fühlte er sich auf ihnen ganz wohl.
Weil Herr Tobler in diesem Hotel, und nicht zuhause, übernachten würde, fühlte er sich ein wenig einsamer als sonst. Das Zimmer war wohnlich und grosszügig, doch beklemmte ihn dies nur noch mehr, weil er in dieser gestalteten, auf ihren Zweck ausgerichteten Wärme die unbedingte Wärme eines nahen Menschen umso mehr herbeisehnte.
Noch war er jedoch unter Leuten. Auch an diesem Abend fühlte Herr Tobler sich recht wohl an seinem Tisch, war da doch auch eine Berufskollegin, die er kannte und die ihm dadurch Sicherheit bei der allgemeinen Konversation vermittelte. Ausgehend vom immer wieder aufnehmbaren Zwiegespräch mit ihr, zu der er an sich kein enges Verhältnis unterhielt, ergaben sich Gespräche über den ganzen Tisch hinweg. Und so entging Herr Tobler zu seiner Befriedigung ein weiteres, kostbares Mal einem Abend voll des würgenden Gefühls, in einer Runde auch etwas sagen zu müssen und sich ausser Stande dazu zu fühlen.
Er wusste zugleich, dass seine Energie und Eloquenz vielleicht bei der Kollegin einen Einstieg in das für drei Stunden aufflackernde soziale System zwischen den zusammengewürfelten Tischgenossen fand, dass diese seine selten aufscheinenden Eigenschaften aber vor allem Ansporn an der Kollegin der Kollegin nahmen. Diese war deutlich jünger als Herr Tobler und sah noch ein Stück jünger aus. Herr Tobler glaubte, ihre Spezies zu kennen, das musste er in all seiner Begeisterung eingestehen. Er hielt sie für eine äusserst sympathische, aber gleichwohl – Schmeichelkatze, die nicht das Geringste am Herbeiflattieren der Erfüllung ihrer aller Wünsche aussetzen würde. Sie zeigte sich in einer verbindlichen Weise interessiert an seinen beruflichen und privaten Tätigkeiten, und sie entschuldigte sich, wenn sie glaubte, dumm gefragt zu haben. Im Gespräch lehnte sie sich, gestützt auf die auf den Tisch gelegten Unterarme, vor und blickte Herrn Tobler mit ernsthaften Augen leicht von unten herauf an. Immer wieder fragte sie ihn etwas, und es gefiel ihm, wenn er auch wusste, dass er sich auf all das nichts einbilden durfte. Er wollte das auch nicht. Er fragte auch nach, weil ihm die Situation und der Rotwein das Vertrauen dazu gaben, und das Gespräch machte Herrn Tobler den Abend äusserst angenehm.
Nach dem Kaffee leerten sich die Tische, und auch die Kollegin der Kollegin machte sich auf, nachhause zu gehen. Er verabschiedete sich mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass man sich am nächsten Tag der Schulung vielleicht noch sähe. Sie lächelte lieb dazu. Sie hatte eine Stupsnase und, wenn man genau hinblickte, viele kleine schwarze Härchen über der Oberlippe. Ihr Oberkörper war zart, und ihren weiten Ausschnitt hatte sie kunstvoll und sehr effektiv über den kleinen Brüsten durchgezogen. Er blickte ihr nach, wie sie den Saal verliess, und wandte sogleich seinen Blick abrupt ab, damit er nicht entdeckt wurde. Er schämte ein wenig sich für sein gieriges Erhaschen ihrer Silhouette, wollte sich tadeln für sein Interesse, das nicht wirklich dieser Frau galt. Überhaupt störte ihn, dass er nicht wirklich einzusehen vermochte, dass sie sich genauso wenig für ihn interessierte.
Herr Tobler schloss das Balkonfenster bis auf einen breiten Spalt, hustete stark und legte sich in das grosse, weiss bezogene Bett. Und es kroch langsam hervor, dieses Gefühl, der Wunsch, dass der Abend nur anders geendet hätte. Er konnte nur noch an die Kollegin der Kollegin denken, an ihren Körper. Er griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Auf dem Nachttisch lagen ein Schokolädchen, ein Telefon und eine Liste der angebotenen Kanäle. Die beiden letzten, weit über Nummer fünfzig, hatten kein Kürzel und keinen Namen, dafür stand geschrieben, dass es sich um kostenlose Programme für Erwachsene handle. Herr Tobler war erstaunt, dass diese Konsumation offenbar im Zimmerpreis inbegriffen war. Er stand erneut auf und schloss die Vorhänge, legte sich wieder hin und wählte die Achtundfünfzig. Nach drei Minuten war es vorüber, und er schaltete Fernseher und Licht aus. Bald schlief er ein.
moccalover - 5. Sep, 22:20
Max stand alleine im Glaslift und liess sich weit nach oben tragen. Mit dem rechten, etwas feuchten Zeigefinger fuhr er über die Chromarmaturen und kratzte mit dem Fingernagel durch die gezogenen Spuren.
Du hättest mir besser nicht geschrieben; es sei denn, du hättest mir eine Heiratskarte geschickt. Aber nein, es ist die Einladung zum WG-Auflösungsfest. Nun, hoffentlich ziehst du danach mit deinem Freund zusammen, das wäre doch das Beste, dann könnte ich heute Abend ruhig ins Bett. Du hättest mir besser nicht geschrieben, ich kannte bis heute noch nicht einmal deine Handschrift. Die hättest du mir ersparen können, eine Mail hätte es doch auch getan, oder höchstens deine Unterschrift. Aber keine Sätze, und schon gar nicht ein individualisierter Text auf einer doch im Dutzend versandten Einladungskarte. Gar eine Rechtfertigung, warum ich, die entfernte Bekanntschaft, auch dabei sein müsse. So bringst du mich ins Denken, wo zu denken es nichts gibt. Das weiss ich ja eigentlich. Du solltest bloss mein Traum sein, du darfst nicht zu nahe treten. Das bringt Unglück. Und du weisst gar nicht, was du tust. Ich muss meine Hirngespinste zähmen, meine Sehnsucht nach dem immer anderen belehren.
Als Max den Lift verliess und den Gang entlang schritt, entschloss er sich, hinzugehen. Immer dann, wenn ich Lucille etwas länger gesehen habe, ist ihr Zauber ein wenig verfallen, sagte er zu sich. Und er hoffte fest auf eine Hochzeitsankündigung. Vor allem aber hätte er es, so oder anders, nicht lassen können.
moccalover - 30. Aug, 22:56
Sturzbachartige Passantenströme drängen mir entgegen. Dieser Bahnhofsunterwelt will ich entfliehen, ich gehe schnell und schmiege mich hin und her, um niemanden zu erwischen. Doch der Strom wird zu dicht, ich stelle mich in den toten Winkel einer Säule, warte ab. Auf einmal rieche ich Parfum, und hinter mir steht eine Frau, ich blicke mich kurz um, sie schaut verdutzt, und ich versuche zu lächeln. Für einen Moment im gleichen Boot. Ein paar Sekunden lang mag ich nun doch noch nicht weitergehen, aber schon bald höre ich ein Rascheln, die Frau muss sich wohl auf den Weg machen. Sie sticht scharf an mir vorüber in die Menge, und bevor sie an mir vorbeigeht, streift ihre Brust mein Schulterblatt. Weich, tief, flüchtig.
Aber so sanft, dass ich sogleich über mögliche Absichten mutmasse und diese Gedanken auch später, beim Heimgehen, immer wieder im Kopf herumschwirren sehe. Genau wie in der siebten Klasse, als die Mädchen es sich zum Vergnügen machten, einem bisweilen auf diese Weise nahe zu kommen, ohne in irgendeiner Weise eindeutig zu sein, geschweige denn ertappt werden zu können.
Immer hatte mich diese Form gefesselt, die mir abgeht. Dieses Weiche, diese Wärme. Wenn es keinen Penisneid gibt, dann gibt es noch immer und ganz sicher einen männlichen Brustneid. Nur ist es kein eigentlicher Neid, es ist ein Sehnen, eine ewige Faszination. Es mag auch auf frühkindlichen Erfahrungen beruhen, mit Sicherheit beruht es bei mir aber auf diesen Schülererfahrungen, die in ihrer Intensität mein heutiges Erlebnis natürlich in den dunkelsten Schatten stellen. Alles war es noch fremd damals, noch nie hatte ich eine Brust betrachten und liebkosen dürfen. Wenn er mir zuteil wurde, versetzte mich dieser vorerst einzige Berührungspunkt zum Unbekannten, zu dem zu entdeckenden Land, jeweils in einen Traumzustand, der schnell zerbröckelte. Ohnehin war es ausgeschlossen, solche Situationen irgendwie erotisch aufzufassen, jedenfalls das irgendwie zu zeigen.
Und so wurde die Wichtigkeit der Ereignisse durch deren seltenes Auftreten und deren Verschwiegenheit noch gesteigert.
Heute begleitet mich das Erlebnis nicht mehr so beherrschend, nur nebenbei, aber wie ein schwachsüsser Geschmack im Mund; getrunkener Holundersirup.
moccalover - 30. Aug, 00:19
Stampfenbachplatz, dröhnt die Frauenstimme metallisch durch den überforderten Lautsprecher. Wie immer in dieser Stadt, hebt sich die Stimme der Haltestellenansagerin am Ende des Ortsnamens leicht an und klingt so ein wenig hochnäsig. Kurz vor der Haltestelle bremst das Tram abrupt seine ohnehin schleppende Fahrt über die wegen den Bauarbeiten ausgehöhlten Schienen. Nun ist auch das bisschen Fahrtwind weg. Die kleinen Kippfenster sind geöffnet, aber es kommt kein Luftzug herein, weil es keinen Luftzug gibt. Nur die Hitze schleicht von den Metallplatten und den Schienen am Boden langsam durch die Fensterspalten. Drinnen drückt die Luft auf meinen Kopf, als wäre der Raum ein Überdruckbehälter. Meine Sinne sind verlangsamt, gelähmt; fiebrig blicke ich hin und her, warte auf die Weiterfahrt.
Ich bin zu Gast in Zürich, der einzigen Stadt der Schweiz, die sich dem Grundsatz nach unter den Weltstädten einreiht. Ich bin auf dem Weg zu einem langen Abend, alleine mit einem alten Freund. Wir werden die Nacht in der Küche versitzen, und ich werde beim Gespräch ab und an am Weinglas nippen, durch den Hof hindurch zu den noch beleuchteten Wohnungen und dann höher, zum Himmel blicken, die Skybeamer sehen und fühlen, dass es in dieser Stadt alles gibt, dass nichts stillsteht und alles flackert, und dass darum mein zweisamer Aufenthalt hier veredelt wird. Weil ich durch meine Nähe zu alledem teilhabe am Grossen der Welt, ganz gleichgültig, welchen Teil dieser lebenden Nachtstadt ich verkörpere.
Offenbar haben sich die Autos im Stau verkeilt, und die Schienen vor uns bleiben besetzt. „Muflifrau, Muflifrau!“ – Ich kann den Kleinen hinter mir nicht sehen, aber er muss der Stimme nach ungefähr drei sein. Offenbar tippt er mit dem Finger gegen die Scheibe und zeigt nach draussen. Sein Vater – auch das erahne ich an der vertrauten und eingespielten Stimmlage - korrigiert ihn: „Muslimfrau heisst das. Muslimfrau! Mit ESS!“ Ich versteife mich ein wenig, wie ich das immer tue, wenn ich angestrengt und doch unauffällig Gespräche mitzuhorchen versuche. „Da, Muslimfrau“, ruft der Bub wieder. „Nein, das ist keine Muslimfrau. Schau, Luca, das ist ein Hut, kein Kopftuch! … Warte mal, da drüben, da ist eine Muslimfrau. Da, sie überquert gerade den Fussgängerstreifen.“ – „Da auch Muslimfrau, und da auch!“ „Ja, genau, jetzt hast du’s erfasst. … Da auch, und da, und da. Hmm, überall…“.
Das Tram fährt endlich an, erreicht bald die Haltestelle und öffnet seine Türen. Draussen ist die Luft fast genauso heiss. Aber ein bisschen weniger stickig, immerhin.
moccalover - 29. Aug, 23:32
Vor dem Fenster wird seit einer ganzen Woche der Parkplatz neu gestaltet; ein Baum wurde gefällt, ein Mäuerchen versetzt. Die lauten Arbeiten mit den Maschinen sind schon vorüber, zwei Männer decken noch die letzten Flecken zu. Der junge holt mit der Schubkarre dampfende Teermischung mit süsslichem Geruch, die aus der Öffnung des Kipplastwagens fliesst, leert die Füllung auf die nackte Erde, und der ältere verteilt die Masse mit einem zahnlosen Rechen zu einer gleichmässigen Fläche. Hin und her, hin und her. Am Mittag wird der Platz glänzen.
Auch ich gestalte. Ich versuche, mit der Machete meiner Argumente einen Weg durch das Dickicht eines der tropischen Wildnis gleichen Sachverhaltes zu schlagen und diesen wuchernden Wald in ein hübsches Gärtlein mit festen Wegen zu verwandeln. Ich mühe mich, einladende Lustpavillons aus hölzernen Rechtsinstituten zu zimmern, in denen die Nebelschwaden der suggestiven Überzeugungskraft lauern.
Doch die Schärfe meines Messers hat sich in der Woche abgewetzt. Mein Asphalt der Gedanken ist erkaltet und fliesst nur mehr zäh und unwillkürlich; meine Betonmischung wird nicht halten, zu dick die Steine, zu wenig Zement. Ganz kurz frage ich mich, ob ich gerne mit den beiden Männern tauschen und den Vorplatz teeren möchte.
moccalover - 26. Aug, 09:49
Keine Geschichten heute. Ein Tag im Niemandsland von Wetter und Kalender. Hier ist nichts, das sich hingäbe, um erzählt zu werden. Der Stillstand lässt sich nicht umschreiben, er ist ein einziger Punkt.
Vor kurzem erst war das neue Stationshäuschen neben den alten Bahnhof gestellt worden. Ein Würfel aus Glas, das feine weisse Nadelstreifen trägt, für die Wartenden, ein Automat mit Touchscreen für die Fahrscheine und ein paar blaue Schilder für die nötigsten Erklärungen. In allem klare Formen, die die neue Vernunft der Welt ausatmen. Eine Normstation aus dem Baukasten der Jahrtausendwendträume, die neben dem verhalten schmucken Holzbau des alten Bahnhofshäuschens steht.
Weit ab von seinem Dorf liegt dieser Bahnhof; an einer einsamen Landstrasse, die Maisfelder und Wälder durchquert. Der Ort ist historisch bedingt, die Fernstrecke konnte nicht näher zum Dorf, und so baute man den Halt hier draussen ein. Früher ging man gerne eine halbe Stunde, um Zug fahren zu können.
Durch die grünlich schimmernde Scheibe mit den Streifen sehe ich zum Parkplatz, der schon von hohen Lampen beleuchtet wird, doch die graue Dämmerung schluckt selbst dieses Licht. Die Pendler sind schon weggefahren, der Platz ist fast leer.
Durch die gegenüberliegende Glaswand leuchten die Fenster des Zuges, der nicht mehr weiterfahren kann; eine Stunde lang bereits steht er da. Kein Bus kommt vorbei, zu siebzehnt sitzt man hier fest. Alle schweigen. Ein alter Bauer, der ab und an aus gespitzten Lippen feine Tropfen auf den Steinboden spuckt, fällt mir auf - und auch die fünf Burschen, die im Regen stehen und unter ihren über den Köpfen gehaltenen Markenjacken einen Joint drehen; ihn rauchen und dann mit den Händen in den Hosentaschen weiter herumstehen.
Keine Gefühle heute; die Sinne verlegt, wie man seine Brille oder das Feuerzeug verlegt. Hier, aber unauffindbar. Keine Wut über die Blockierung hier zwischen den Welten, völliger Gleichlauf meiner selbst. Nur matt der Wunsch, nochmals scheu das Mädchen auf dem Sitz gegenüber zu mustern; mir vorzustellen, ihre Wangen zu streicheln. Der Geruch wird mir zu viel, der angenehme, der von ihr ausgeht. Lesen geht auch nicht; immer nach vier Zeilen richte ich mich auf und blicke langsam nach oben, als müsste ich gerade einem wichtigen Gedanken den Vorrang vor dem Text geben und ihm nachgehen. Ernst knabbere ich meine Lippen von innen. Doch da ist nichts, ich erschrecke nur ob der Leere.
Dieser Ort befindet sich in einem bleischweren Zwischenstadium, dem man sofort zutraut, dass es ewig dauere. Es scheint mir, diese Station wolle sich bei mir rächen, mich herausreissen, aus meinem modernen und achtlosen Leben. Weil ich sie bis jetzt aus dem Schnellzug heraus und in den wenigen Sekunden, in denen ich sie in voller Fahrt jeweils sehen konnte, kaum beachtet hatte. Wenn ich überhaupt mal hinblickte, fragte ich mich höchstens, wer da wohl auf dem kahlen Teerplatz auf die Bummelzüge warten würde. Schüler vielleicht, Junge mit Ausweisentzug und Alte mit dem Auto in der Garage; und ich fragte mich manchmal, welchen Morgens wohl die Nadelstreifenscheibe endlich versprayt sein würde. Nun war ich selber da und fand nicht einmal für mein eigenes Dasein eine Geschichte.
Schon der ganze Tag schien schummrig und verschwommen; noch unvorbereitet, als er schon anbrach. Ich schlafwandelte mich durch meine Arbeit, freute mich auf einen bedeutungslosen Feierabend. Mit dem Verstreichen der ersten Minuten hier aber offenbarte sich auf einmal die ganze Einöde meiner Gefühle und Gedanken. Und hier gibt es nichts zum Greifen oder Halten, nichts zum sehen oder riechen, keine Unregelmässigkeit, die mir ein Geheimnis verriete. Nichts als Zweck aus Glas und Glanz aus Chrom.
Keine Freude heute; kein Mut, die Leute hier zu studieren oder sie anzusprechen. Keine Lust, der alten Dame neben mir beim Kreuzworträtsel zu helfen, obschon sie mich stets lange ansieht, wenn sie nicht weiter weiss. Nur das Suchen nach der Frage, die mich beherrscht wie ein Traumbild, dessen Existenz ich fühle, an das ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Alles Durchgehen des Erlebten, alles Abhorchen des Gedachten, es führt zu nichts. In diesem zeit- und gehaltlosen Warten in dem fehlerfrei kalt geformten Häuschen scheint jeder fortgesetzte Gedanke, scheinen Liebe wie Trauer lächerlich, ja überflüssig. Hier spielt nichts eine Rolle. Von hier muss man nicht mehr weg, muss man nirgends mehr hin.
Als der Bahnersatzbus uns schliesslich aufnimmt, ist mir sogleich, als hätte ich die ganze Reise darin verbracht. Die Erinnerung an den Glaswürfel rinnt im Regen davon, und ich döse im wippenden Sessel, bis in der Stadt mich die Fahrerin weckt.
moccalover - 25. Aug, 22:27
Der Zug steht immer schon da, wenn ich zum Geleise komme, er wartet lange und geduldig auf seine Pendlerschäfchen. Er lässt sich nie hetzen, er hat Stolz und Eleganz. Er gehörte in den Siebzigern zur ersten Serie der neuen Städteschnellzüge – wie die Intercitys damals hiessen. Seine angewinkelten Seitenwände blieben unerreicht, seine automatischen Schiebetüren sind Legende. Heute jedoch darf er nur noch auf den hinteren Bahnsteigen verkehren, er ist nur noch ein Schatten seiner ehemaligen Grösse und verbringt zwischen der grossen Stadt und ein paar Provinznestern den bitteren Herbst einer langen Karriere. Die Teppiche riechen unangenehm nach tausend Regen und Hunden, die ehedem edlen Sitzpolster sind von schwarzen Schweissspuren unzähliger Sommerpassagiere gezeichnet, und die Schiebetüren haben in letzter Zeit auch schon Kinder eingeklemmt, weil ihre Sensoren unwillkürlich erblinden können. Über den Sitzen sind Kartonreklamen aufgehängt worden, die verheissen: „Bald wird auch dieser Wagen renoviert sein!“
Jeweils eine halbe Stunde habe ich nun zweimal täglich in diesem Zug verbracht; einmal morgens und einmal abends, und jedes einzelne Mal genoss ich die Fahrt. Es mochte am Sommer liegen, an der Zeit, die mir zum Lesen oder Schlafen geschenkt war, oder an der sanften Hügellandschaft, die ich mit meinem Zug durchschoss. Vielleicht auch am Platz, den ich auf dieser schwach benutzten Linie zur Verfügung hatte. Es konnten auch die immer gleichen Wenigen, die mit mir fuhren, gewesen sein. Bald waren sie mir vertraut, und nun erzählten mir die kleinsten Veränderungen ihrer Gesichter Geschichten.
Da, wo ich jeden Morgen hinfuhr, hatte ich niemals dazugehört. Ich wuchs auf dem Land und unter seinen Menschen wie ein Fremder auf. Einer allerdings, der gerne dazugehört hätte, der das Land schätzt und dessen Leute doch nicht aushält. Einer, der immer wieder hingeht und schnuppert, weil er auch in der Stadt keine Heimat fand.
Heute jedoch war kein Zug da, er fuhr verspätet und auf einem anderen Bahnsteig. Noch stärker als sonst dünsteten die Teppiche, Polster und Metalllehnen den Geruch geheizter Feuchtigkeit. Im Eingangsbereich rann Wasser vom Fenster hinunter und dann hinüber in die Ecke beim Abfallkorb; auf seinem Lauf überpinselte das Rinnsal dabei nasse Schuhabdrücke. Ich setzte mich gleich zum Eingang.
Draussen vor dem Bahnhof war es gar nicht hell, und auch nicht weiter draussen, als der Zug durch die Industrie in die Landschaft hinausfuhr. Durch die angelaufene Scheibe, auf der sich Regentropfen und Wasserströme wild zuckend schräg nach unten bewegten, sah ich nur Grau. Es regnete nicht - der Regen hatte sich die Welt geklammert und zutiefst in seiner Hand begraben. Seit zwei Tagen schon liess er sie nicht mehr los, verdeckte alles Licht und alles Warme, überdeckte sie mit seinen unendlichen Vorräten an Wasser. Alles war eingehüllt in die peitschenden Wolken, abgeschnitten vom nächstgelegenen Ort schon, und ich sah nichts von der Landschaft, die mich jeden Morgen so gefreut hatte.
Ich sah nur ertrunkene Felder, düstere Lachen auf den Strassen, um sich schlagende Wellen in früher so ruhigen Bächlein. Ich sah reissende Flüsse von milchkaffeebrauner Brühe, die Äste und Stämme mit sich führten und damit spielten. Die Höhen der Hügel waren weit oben in den Wolken, und wo noch ein wenig vom Wald zu sehen war, da trug er Nebelfetzen in seinen Spitzen wie Watte in Bartstoppeln. Der Himmel drückte auf die Welt herunter, nahm sie mit, in sein grausames Spiel, liess die Hänge in Schlamm zergehen und riss die Erde herunter. Hellbraun floss alles herunter, zu Tale, mal zähflüssig, wie das durchnässte Erdreich, und mal entfesselt, wie die übermütigen Bäche.
Da, wo ich sonst auf das grosse Tal hinunterblicken konnte, auf den absurden Hügelzug, der das Tal mit der Form einer kauernden Ente zweiteilte und meist stoisch im Nebel lag, da waren jetzt bloss Wolken, die noch mehr Wasser an die Zugswand schlugen. Ich mochte den Regen, seine Gewalt; aber ich fürchtete seine Taten, die ich sah. Alles floss zu Tale. Auch mein Bild, das sich in den vergangenen Monaten von der schönen Sicht gerne hatte bestechen lassen.
Eine starke Verunsicherung beschlich mich, und sie erwuchs rasch zu einem schwermütigen Drang zur Flucht, als ich den Bahnhofplatz betrat und meinen Weg zum Büro einschlug. Zwischen den stolzen Holzhäusern, deren Blumengestecke im Grau untergingen, flackerten Blaulichter, Schläuche lagen herum, Menschen gingen hin und her. Es war Tag und doch dunkel. Nirgendwo ein Licht, das Gewalt gehabt, das sich durchgesetzt hätte. Alles kam nun herunter, weggewaschen vom Unwetter, und ich wusste, dass ich fremd geblieben war. Ein Gast, ein Gast nur.
Und plötzlich durchquerte der Gedanke meinen Kopf, nicht mehr lange werde ich hier sein, bald ist die Zeit um.
moccalover - 23. Aug, 23:41
Beinahe so überflüssig wie die Insert-Taste – dieses Einfüge-Monster, das einen, der sich in Word-Texten mittels blinder Tastaturnavigation fortbewegt, zu absonderlichen Gewaltphantasien treiben kann, weil man sie drückt, dies nicht bemerkt und schon Geschriebenes grausam übertüncht - fast genauso überflüssig wie die Einfügetaste ist auch eine Num-Lock-Taste, wenn sie sich auf meinem Laptop befindet.
Zwar dient sie dazu, einen fiktiven Zahlenblock auf der normalen Buchstabentastatur zu erzeugen, doch die entsprechend belegten Tasten liegen krümmer als auf einem Zahlenblock und sind ausserdem fast unsichtbar beschrieben, so dass ich diese Option nie wäh3e. N4n geht es w5eder 36s. Das 5st 35ve, verehrte 3eser5nnen 4nd 3eser.
Seit kurzem nun drückt sich diese Taste gewissermassen selber, schaltet willkürlich den Num-Lock-Modus ein und zwingt den Buchstabentasten, die ich zum vernünftigen Schreiben ja brauche, ihr Zahlenmuster auf. Sogleich lässt dies alle mit der rechten Hand gegriffenen Zeichen im Zahlencode erscheinen.
Ich wusste lange nicht, ob’s mir nicht recht sein soll, immerhin bleibe ich so vielleicht weniger vor dem Bildschirm sitzen, und ich fragte meinen Computer, ob er mir mit seinem eigenartigen Verhalten vielleicht einen Wink geben möchte. Er aber schweigt, wenn ihm nicht gerade ein Sprachfile oder die Nachrichtensendung aus dem Internet zur Ausführung auferlegt wird. Und schaltet munter ein und aus, unterbrochen nur von meiner Retourkutsche, dem immer wiederkehrenden Herunter- und Hinauffahren.
Ich werde ihn nicht mehr fragen, aber ich habe immerhin wieder über etwas nachgedacht. Und nun möchte ich nur wenigstens einen Text schreiben können, ohne zehnmal gestört zu werden.
moccalover - 22. Aug, 23:19
"Ich wollte dir heute etwas mitbringen, ein kleines Geschenk, aber als ich in den Läden stand, da fand ich nichts Schönes; nichts, das gerade gepasst hätte. Alles, was ich interessiert zur Hand nahm, schien mir mit mit einem Male öd. Es mochte am grauen Wetter liegen, oder an meiner Erschöpfung, aber ich habe dir nun nichts gekauft. Und als ich im Zug sass und zu dir fuhr, da wollte ich dir einen Brief schreiben, doch ich hatte kein Papier, und um mich hatte niemand Papier. Ich hätte dir so gerne geschrieben. Das wollte ich dir erzählen."
moccalover - 21. Aug, 22:17
Herr Tobler sammelt fremde Kassenzettel. Betritt er ein Café, und das tut er oft, so spüren seine Augen rasch einen Tisch auf, der erst kurz vordem verlassen wurde. Er setzt sich hin, zu den zurückgelassenen Tassen mit dem angeklebten Milchschaum, zu den aufgerissenen Zuckerbriefchen, die zusammengeknüllt auf dem Tassenboden liegen und die Kaffeereste in sich aufsaugen. Zuoberst auf dieser Anhäufung von Überresten flüchtiger Ruhe liegt der Kassenzettel, bis zur Mitte durchtrennt von einem Riss, der die Bezahlung quittiert. Beiläufig klemmt Herr Tobler dann den Zettel zwischen Zeige- und Mittelfinger, mustert ihn kurz, ohne den Kopf zu senken, führt die Hand unter den Tisch und faltet das geschmeidige Plastikpapier sorgfältig zusammen. Wieder eines, das in der Tasche verstaut wird.
Zuhause studiert Herr Tobler alle Kleinigkeiten, die die Quittung von sich gibt: Die Mehrwertsteuernummer, die Nummer, manchmal den Namen, der kassierenden Person, die Konsumationen, die Zeit, das Datum. Champagner zum Frühstück, Espresso zur Nacht, Hanspeter, Sunila, Sandra, Mahmoud. Manche Kassenzettel sind sehr lakonisch, tragen kaum mehr als die Zahlen von Preisen und Kategorien auf sich, andere sind gesprächig, machen Reklame und sagen danke. Herr Tobler klebt sie auf Zeitungspapier, immer vier auf eine geviertelte Zeitungsseite, und flicht die Seite in eine Zeigetasche aus Plastikfolie. Er weiss nicht mehr genau, wie viele Ordner er damit schon gefüllt hat.
Aber voller Unrast sammelt er weiter, und so kommt es vor, dass er im Supermarkt nicht nur die liegengebliebenen Zettel aus den Einkaufswagen und vom Laufband klaubt, sondern dass er, so unauffällig wie möglich, in fremde Einkaufstaschen greift und dort den Zettel entwendet, währenddem sein Nachfolger aus der Kassenwarteschlange am Bezahlen ist. Solche Zettel packt er gesondert in seine Tasche, und zuhause klebt er sie alleine auf. Genauso wie jene, die er einmal in den Abfallkörben am Busbahnhof fand. In ganz Europa musste jemand umhergereist sein, Souvenirs gekauft haben. Und hier auf diesem Busbahnhof musste er sich seines ganzen Reiseabfalls entledigt haben.
Herr Tobler ist zufrieden in seiner Beschäftigung. Er kann in seinem Schatz blättern, wann immer er will, er kann die Zettel bewundern und jene hervorholen, die von den besonderen Tagen zeugen. Die wenigen, die von alledem wissen, sprechen ihn nicht darauf an.
Vor ein paar Jahren, als er schon eine ganze Weile am Sammeln war, hielt er beim Einkleben einmal plötzlich inne und stoppte seine mechanisch gewordenen und in der Radiomusik aufgelösten Bewegungen abrupt. Wochenlang war der Küchentisch mit der unfertigen Arbeit und den Utensilien überdeckt, und Herr Tobler ass in dieser Zeit nur noch am Schreibtisch. Er mochte nicht hinblicken, verstand nicht mehr, was er da tat. Er verurteilte sein eitles Tun, seinen Götzendienst für die Leere. Er verdammte seinen Wahn, in all den Zetteln einen Zusammenhang zu finden, ihren gemeinsamen Sinn zu entdecken, aus ihrer Gesamtheit etwas herauslesen zu können, das sie allein nicht enthielten. Er wurde traurig bei dem Verdacht, dass er von seinem Sammeln etwas erwarten könnte, was nicht käme.
Eigentlich hatte er damals alles verbrennen wollen. Weitere Wochen verstrichen nach dem Entschluss, ohne dass er den Küchentisch geräumt hätte, und irgendeinmal fand er, dass er lieber weitermachte, als über das Ganze weiter nachzudenken.
moccalover - 20. Aug, 15:58
„Das ist jetzt vielleicht unpassend … darf ich dich etwas ganz Persönliches fragen? … ich meine, ich würde ja nicht, das passt ja gar nicht zu mir, du kennst mich ja … aber ich kenne niemand ausser dir, der sich mit sowas auskennen würde … hast du auch manchmal diesen Schreibstau? Die Finger verkrampft in der Bewegungslosigkeit, der Kopf ein einziger trockener Klumpen, das Gehirn verkantet zwischen den Schädelknochen? Wenn nichts kommt, und die Gegenstände nicht mehr sprechen? Ich weiss, ich weiss, wie dumm von mir, du hast das wohl nicht, du bist immer so zwanglos. Ich dachte nur …“ – „Du hast keinen Stau und keine Blockade, du magst nur deine Gedanken nicht leiden. Komm, gehen wir, die Ampel ist grün.“
moccalover - 20. Aug, 15:32
Du stehst am Meer. Siehst du nicht, dass es Platz genug hat? Fünf oder zehn Minuten kannst du über den Sand gehen, ohne die Augen auch nur einmal zu öffnen, und es kommt kein Baum, in den du stossen könntest. Du kannst ruhig springen, tu es, doch in dieser Weite änderst du nichts damit, du schiebst den Horizont bloss um ein Zehntelhaar nach unten, dein Sprung ist lächerlich, verglichen mit der Breite, die hier herrscht.
Du ängstigst dich vor den Wellen, sie wollen dich hinaustragen, sagst du, aber sieh doch hin, du siehst ihre geheime Linie, sie kommen nicht näher, sie kümmern sich nicht um dich. Und warum rennst du umher, was suchst du denn, diese Landschaft hat kein Ende, keinen Fixpunkt, du kannst hier genausogut bleiben wie da drüben. Ja, man sieht dich von weither, doch von so weit auch nicht, schon von da aus, wo ein Punkt vor dem Himmel für das Strandhaus steht, unterscheidet nichts mehr dich vom Sand.
Es ist nirgends anders, und das weisst du, auch wenn du nicht willst. Dem Wind kann keiner entfliehen.
Setz dich hin, genau hier ist dein Ort. Und schreibe in den Sand.
moccalover - 20. Aug, 13:54
80erjahre: entweder oder, du musst dich entscheiden. 90erjahre: undundund, was soll's. Unsere Tage: das ist schlimm, aber das hatten wir schon. wer weiss was angenehmeres?
moccalover - 19. Aug, 21:53