Du musst siegen, damit
er zum Loser wird. Denk dran, nur grosse Siege zählen.
Rachel Teller,
Need for Speed Underground 2, 2004.
moccalover - 18. Aug, 22:21
Neulich, ich glaube letzten Freitag, hatte Hein Geburtstag. Hein Simons, der teddyäugige Sängerknabe von den Plattencovern, die ich schon als Kind beschämend altmodisch fand, wenn ich durch die Plattensammlung meiner Halbschwester blätterte und die Freiheit genoss, in ihrer kleinen Wohnung zu sein, in der nicht die Eltern, sondern nur sie herrschte.
Heintje ist der Diminutiv von Hein und war des Knaben Künstlername; so nannte ihn auch der Radiosprecher, da er für die Frühaufsteher alles Wesentliche in kurzen Worten zusammenfassen musste. Aber mit seinen fünfzig Jahren wollte die holländische Verzärtelung nicht mehr passen. Ich musste es schon um sechs Uhr gehört haben, als mich der Radiowecker zum ersten Mal störte, doch das war nicht wirklicher als jedwede Erinnerung an einen Traum aus seichtem Schlaf. Und ich hörte es wieder um halbsieben und um sieben. Heintje war 50 und damit nicht mehr Heintje.
Ich beschloss, das zu feiern, nachdem die Nachricht schon zum vierten Mal wiederholt worden war; und als ich noch den Rauch sah, und bemerkte, dass ich meinen Kaffeekocher ohne Wasser auf die Flamme gestellt hatte, war mir klar, dass dieser Beschluss keine Ironie bleiben dürfe. Ich setzte eine Mail auf, doch das Modem wollte noch nicht wach sein, die Verbindung schlug wieder und wieder fehl. Ich würgte den Computer ab, verfluchte meinen Beruf und rief auch nicht an.
Ohne ein einziges Mal in den Spiegel geblickt zu haben, ging ich bald darauf die Treppe hinunter und versuchte, die Asche meiner Zigarette möglichst geschickt durch den Schlund zwischen den Treppen und ihren Geländern zu werfen. Ich musste nicht weit gehen, am Bahnhof war ich rasch, und dort gibt es diese Ansammlung von Wokküchen, Sandwichständen, Bratereien und Fischbrötchenverkäufern mit ihrer gemeinsamen Bahngastraststätte, diese Tische aus Chrom mit den runden Mustern auf der Fläche und den Aschenbechern aus Aluminium. Gleich gegenüber sind die weitaus provisorischer eingerichteten Schmuck- und Bonbonverkäufer. Hier ist jeder geduldet, hier herrscht wahre Freiheit.
Nirgends konnte mir für meine Feier mit Hein so wohl sein, nirgends hätte ich mehr Ruhe gefunden als hier, inmitten des unerschöpflichen Pendler- und Ausflüglergewühls, das an mir vorüberströmte; manche blickten mich lange an. Aber ich feierte, und das war für mich ein wichtiger Grund, warum ich mich nicht über ihre fragenden Blicke ausfragte. Ich wollte bei Hein sein, den ich nie gekannt hatte, und der vielleicht auch nie jemand nahe hatte. Und der nie mehr Heintje sein würde.
Ich hatte es gar nicht versucht, einen Kaffee zu bestellen oder vielleicht Tee. Dass das nicht ging, war mir klar, seitdem zuhause die Kaffeekanne geraucht hatte. Ich trank Bier, fühlte mich rebellisch und erbärmlich, und doch geschützt vor den Blicken, durch die abweisende Kühle von Neonlicht, Chrom und Aluminium. Allein die schöne Frau mit dem roten Jupe und der rotweiss gestreiften Bluse bewegte sich frei in diesem Licht aus Stahl, und sie durchdrang den Wall. Sie mochte Studentin sein, und sie war offensichtlich nicht fröhlich darüber, am frühen Morgen zu arbeiten. Nicht, dass sie nicht anständig gewesen wäre, doch sie war voller Steifheit, um nicht auszurasten und dann einzuschlafen.
Ob ich wirklich gross gesagt hätte, fragte sie, mit Bezug auf das nächste Bier, in grösster Routine, recht höflich und sehr ernst. Es kam plötzlich, nach dem vierten Bier, und es war knapp halbelf. Ich hätte mich stark konzentrieren müssen, um die Konsonanten in meinem Mund nicht zur Unkenntlichkeit zu vermischen. Aber jasagen, das ging noch, und ich lächelte schwer. Gerade ihre perfekt gelungene Bemühung, keine Regung hierauf zu zeigen, machte klar, wie sehr sie mich verächtlich bedauerte.
Später ging ich nach Hause, weil ich müde wurde. Als ich auf dem Weg dahin, gegen Mittag, in der Fussgängerzone die Familien sah, die ihre Ferienzeit mit Einkaufen auffüllten, spürte ich die Frage; ich spürte dauernd, wie sie hinter mir herging und sich sogleich versteckte, wenn ich mich umsah. Ich beschleunigte, aber sie kam nach, und ich verstand, dass ich nicht wusste, wo ich in diesem Tag war. Ich begriff, was diese Familien taten, und dass sie auf der Suche nach ihrer Lieblingspizzeria waren, wo der Vater seine Gorgonzolagnocchi essen würde; aber ich, ich war für mich in diesem Stadtstillleben wie ein schummriger Fleck, der auf dem Bild umherhüpft, ohne dass man ihn mit den Augen wirklich festsetzen könnte. Mein Leben hatte sich verschoben, lag in fünf Dimensionen quer zu dem, was ich sah und wo ich war. Ich war in diesen Strassen ein Hologramm, das nur sich selber sieht.
Ich spürte grosse Kraft in den Beinen, doch meine Augen fielen mir fast zu, als ich die Treppe wieder hinaufging. Vom zweiten Stockwerk an gab ich nach, griff zum Geländer und stieg blind empor. Das letzte, was ich auf dem Fussboden vor dem Kochherd fühlte, war die grosse Ehrfurcht vor der Zeit, die ich nie erlebte, als man noch derart altmodische Plattencover gestaltete. Hein würde nie mehr Heintje sein.
moccalover - 18. Aug, 22:06
Vom Gesichtscremeplakat die Verliebtheit.
Von den Stahlbrückenpfeilern die Zuversicht.
Gelassenheit aus der Filmtablette.
Von der U-Bahn die Geduld.
Vom Kontoauszug die Zufriedenheit.
Von der Grossleinwand die Träume.
Von der Preiserhöhung die Wut.
Von der Nylonspitze die Geilheit.
Aus gepressten Riegeln die Kraft.
Aus dem Sprengstoff die Angst.
Vom Parfumgeruch die Sehnsucht.
Aus der Tagesschau die Traurigkeit.
Vom Taktgeber das Mitleid.
Vom Tand die Unbeschwertheit.
Aus dem Beton die Verzweiflung.
Von den Laserlampen die Freude.
Aus den Röhren die Wärme.
Vom Goldrand die Gier.
Licht aus dem Kühlregal.
Klänge aus Drähten.
Von den Maschinen die Vergnügtheit.
Batterien für Melodien.
Bewunderung für Elektronengebilde.
Freundschaft aus der Flasche.
Von der Frau am Kosmetikstand das Lächeln.
Liebe aus der Tube.
Ich.2005.
moccalover - 17. Aug, 21:48
Der Polizist: Brauner Bart, leicht getönte, grosse Lehrerbrille mit Metallrand. Ein einziges die-Lampe-füllen. Die Fasnacht musste einfach eingeführt werden, die Politiker haben das gemacht. Vor sechs Jahren. Das gab’s hier früher nicht.
Der Polizist: Blaues Hemd, Epauletten mit Strich und Stern, Handschellen im schwarzen Etui aus dem Nylonstoff, aus dem man Wanderrucksäcke macht. Am Anfang: Verseschmiede, Kostümvereine, Musikgruppen, alles weg, verkümmert, nach zwei Jahren schon. Nur saufen, nur dafür, nur deswegen, nur das. Dann morgens um vier, Sie müssen das sehen. Das Bahnhöfli. Natürlich kennen Sie das Bahnhöfli nicht. Nur Lumpenpack. Siffköpfe, Junkies, Verlauste.
Der Polizist: Vorsichtig verschränkte Arme. Der obere nur aufgelegt, gestikulierend. Drei Viertel schliefen. Wer noch konnte, wollte nicht sprechen. Nur der Türsteher. Es hat mich später auch beschäftigt. Alles voller Glas. Bier. Blut. Ein Unfall unter Verrückten. Nüchtern: Wirt und Türsteher. Der Wirt hatte in der Küche gearbeitet. Ich glaubte dem Türsteher.
Der Polizist: Müde Augen, traurige Augen, Vatergesicht. Ein Unfall von der Bewusstseinslosigkeit durch eine Glasscheibe in die Bewusstlosigkeit. Niemand wollte mit uns sprechen. Kleinstadt. Nur Anarchisten oder Rasierte; Ausländer. Niemand will mit uns sprechen. Barfestivals. Pubevents. In jedem Club. Nur Drogen, saufen, Drogen. Kaputtmachen, wegmachen. Und schweigen uns an. Fahren betrunken nachhause. Zu zweit reicht eine Nacht für fünf Blutproben.
Der Polizist: Glänzende Plastikpyramidchen auf den Griffschalen der Pistole. Fester Stand. In Bern ist alles noch viel schlimmer. Bern ist voller Dealer. Achtundzwanzig Jahre Landjäger. Ewiger Niedergang und Verfall. Hundertvier Sprachen in Biel. Jede Sprache ein anderes Anstandsgefühl. Aber die wirklich grossen Dinge, die dahinter. Wer soll das tun.
Der Polizist: Wenn Sie wüssten, was die Fahnder wissen. Drogen, Waffen, Menschen. Überall illegal. Die grossen Arschlöcher.
Der Polizist: Seit Sokrates sagen die Leute immer, alles strebe zu Grunde. Vielleicht ist es nicht so tragisch, vielleicht geht es uns gut. Der Polizist: Wenn man das kennt, die Verrückten sieht, das Pack sieht, dann versteht man. Ich habe dem Türsteher geglaubt. Schrecklich. Er klang glaubwürdig.
moccalover - 16. Aug, 21:22
Noch zweieinhalb Monate. Dann geht er. Ewiger Regen fällt in Giesskannenstrahlen auf den Fenstersims, bildet lustige, kullerige Blasen, weil der Kupferbelag sich nicht nässen lässt. Hier drinnen ist es auch nicht nass, aber die Feuchte durchdringt die Baumwolle der Kleider, und sie legt sich klebrig auf den Holztisch, schiebt sich zwischen den Stuhl und die Hose.
Er geht nicht weit weg, nur ans andere Ende der Stadt. Er war vielleicht - ein bisschen nur - weniger dabei als wir beiden anderen, aber vielleicht war auch ich weniger dabei, und merkte es nicht. Aber wir waren drei. Das zählte. Das war immer über allem. Die faktischen Zweierbeziehungen standen immer unter dem Dache der Drei. Wir waren zusammengekommen, um ewige Reiche der Wohnkultur zu errichten. Um die Jugend zu perpetuieren.
Die Küche ist düster, aber verstörend durchzogen von einem verzweifelten Licht, das sich durch die Untiefe einer schwarzen Regenwolke drängt und am Abendhimmel eine andere Wolke grell erleuchtet und von da verstreut hineinfällt. In zweieinhalb Monaten geht er, zieht zusammen mit ihr, wie er sich in einem schwarzen Loch mit aller übrigen Materie zusammenzöge, wie wenn die Schwerkraft ihn zum Boden zwänge. Er bricht den nie gesprochenen Schwur, dass über die Drei nichts käme; fast, wie wir ihn ständig brechen, aber dieses Mal ist es ernst. Zum grossen Landgut oder Bauernhof wird es nicht kommen, auf dem wir - gegebenenfalls mit Frau und Kind - zusammenbleiben wollten.
Es war ein Schwur, den vielleicht niemand wirklich bis aufs letzte verteidigen wollte. Aber seine Tat entpuppt sich als Grausamkeit ganz unerwarteter Art. Er lässt uns zwei zurück. Ein Paar, ein schönes Freundespaar, sicherlich. Es zeichnete sich auch ab, dass mit zunehmendem Alter die Schwierigkeit steigt, mehr als einen anderen Erwachsenen dauernd neben sich zu haben. Es ging häufig besser zu zweit als zu dritt, ganz gleichgültig, wer mit wem. Aber er wirft uns mit seiner Entscheidung unweigerlich und krachend die Frage vor die Füsse. Selbst wenn gerade er das zuletzt möchte. Wie lange wir denn diese Jugend noch fortzusetzen gedächten. Ob wir uns nicht auch einmal ernsthafte Gedanken machen sollten, die mit Langfristigkeit in Zusammenhang stehen.
Hier steht seine blaue, in ihrer ovalen Form undefinierbare Fruchtschale, auf der manchmal die Äpfel von der Südhalbkugel liegen, deren Unvernunft ich tausendmal gepredigt habe. Jetzt sind es rote Äpfel, und ihre Haut glänzt feuchtfettig. Da drüben die Kaffeemaschine, die wir Giulia nannten, die er in unserem Auftrag und auf gemeinsame Rechnung in Italien vom Bestanbietenden beschaffte, und die wir so oft zum Dottore schickten. Er hat vorhin abgewaschen – sehe ich das nur jetzt, oder ist das neu? Das Spültrogsieb stinkt, weil es noch voller Salat und Sauce ist. Oft stand ich hier und fluchte, und wünschte mir, es wäre soweit, wie es nun ist.
Im Bad liegt Staub, auch er klebt; und er hat wieder nicht aufgepasst beim Pissen. Ich mochte nie zu viel sagen, er nahm alles so ernst. Wir waren Drei, das zählte. Ich mochte ihn genau so, er war genau so wichtig.
Noch zweieinhalb Monate, bis er geht, und er spielt auf der Gitarre, wir schreien durch das geöffnete Fenster in den Regen. In der durchfeuchteten Luft tragen sich die Stimmen in die Wände und lassen sie leise mitsummen. Geht seine Stimme nach oben, suche ich die Basslinie, und so tanzen wir durch die Lieder, immer wechselnd. Wir lachen.
moccalover - 15. Aug, 23:09
Graues Regenwetter, Kälte, Müdigkeit, da tröstet mich wenigstens, dass ich nicht im geringsten ein schlechtes Gewissen zu haben brauche, nicht hinaus zu gehen, nicht einen Schritt, nicht eine Nase voll. Doch das weckt Unrast, und am Abend, als die Wolken sich am einen Ort teilen und am anderen Ende des Himmels zu schwarzen Wänden zusammenrotteten, als die Blitze mich von der Ferne her aufscheuchten, als dann Platzregen einsetzte und bis auf meinen Boden spritzte, da war es klar, ganz ohne war unmöglich. In der Badehose, auf der Terasse draussen, dem Wind und dem eigenen Zittern getrotzt, den Regen gespürt, den Zügen vor dem Horizont gewinkt und, die Lichtspiele bewundert, die Arme verschränkt, die Oberschenkel gerieben, schliesslich hinunter, in die Dusche. Ein bisschen Sonne aus dem Boiler.
moccalover - 15. Aug, 00:40
Der Kleine hiess Eric Müller. Eric Müller konnte schon seinen Namen schreiben, allerdings malte er die Buchstaben c und e immer verkehrt auf das Papier, so dass das noch ein wenig schwer zu lesen war. Aber Eric Müller war stolz darauf, seinen Namen schreiben zu können.
Er malte auch heute Nachmittag, als er im Schulhaus sass, in einem dieser Zimmer, wo es einen grossen Schreibtisch gab mit zwei grossen Lehnstühlen davor, und seinen Eltern auf diesen Stühlen, und er auf einem Stühlchen vor einem Tischchen weit hinten im Raum, den Kopf mit der Linken aufgestützt und in der Rechten ein roter Filzstift, mit dem er seinen Namen auf das Papier schrieb. Er hörte nicht hin, was der alte Mann im grauen Anzug mit seinen Eltern besprach, er hätte es auch nicht verstanden. Er wollte dem Plüschlöwen auf seinem Schoss seinen Namen zeigen, und dass er ihn schreiben könne.
Es war warm hier drinnen, die Hitze machte ihn müde, aber er genoss den Geruch des alten, hölzernen Fussbodens. Eric Müller hatte den Kindergarten beendet und würde bald eingeschult werden. Die Kindergärtnerin hatte ihn sehr gemocht, es war sie, die ihm das Schreiben des Namens beibrachte - wenngleich unvollständig. Eric Müller war auch im Fussballclub, bei den ganz Kleinen, die noch aufrecht auf dem Ball sitzen können. Aber er besass ein Trikot von Sven Müller von Nürnberg, auf das er ganz stolz war. Schliesslich stand da ja nur "Müller" darauf. Seine Freunde nannten ihn beim Fussball nur den "Müllerblitz".
Eric stammte aber nicht von Herrn Müller ab, sondern von Herrn Hagenbühler, der sich kurz nach der Geburt von Frau Hagenbühler scheiden liess, die alsbald zur Frau Müller wurde. Das war bis jetzt nicht so wichtig gewesen.
"Nun, verstehen Sie mich doch, Herr Müller, die Zeugnisse in der Schule sind gültig, naja, ich meine, die haben Gültigkeit. Das ist rechtlich wichtig, dass da der richtige Name drinsteht. Sehen Sie, ich bin rechtlich verpflichtet, dass der Junge mit dem richtigen Namen da drinsteht. Im Geburtsschein steht nun einmal Eric Hagenbühler. Ich muss den Jungen so melden und ihn überall mit diesem Namen eintragen lassen. Zeugnisse, e-mail-Adresse, medizinische Meldelisten etc. etc."
Der Direktor fixierte die beiden Müllereltern eindringlich, gequält, dass eine solche Situation überhaupt entstehen konnte, in der Lebenslügenhäuser zerbrechen. Er bedauerte, an diesem Problem teilhaben zu müssen, empfand aber doch Mitleid. "Sie müssen es ihm sagen, und zwar schnell."
moccalover - 15. Aug, 00:33
Der kleine Junge streift die sensorischen Handschuhe ab, legt die Stereobrille auf den Tisch und entfernt sich vom Computerterminal. Er geht auf den alten Mann zu, der im alten Ledersessel liegt, schläft und Fleckchen alten Speichels in den Mundecken hat. Er ergreift und schüttelt die Hand des Schlafenden, setzt sich auf dessen Schoss und legt ihm seine Arme über die Schultern.
"Grosspapa moccalover - aufwachen!" - "Oh, Erwin... warte, wo ist denn meine Brille, ich kann Dich ja gar nicht sehen!" -"Im Internet haben sie gerade was von smalltree erzählt, der soll einer der ersten Blogger überhaupt gewesen sein. Grosspapa, gell, Du warst auch einer der ersten Blogger überhaupt!" - "Oh, nein, das stimmt nicht, ich habe ungefähr die ersten fünf Jahre verschlafen.“ – der Junge zieht die Augenbrauen hinunter. „Aber, naja, von heute aus betrachtet, wenn Du so willst, war ich einer der ersten. Sechzig Jahre später sind fünf Jährchen nicht mehr so entscheidend." - "Grosspapa, was ist denn mit diesem smalltree, hast Du den gekannt?" - "Gekannt? Nun ja, ich habe ihn nie getroffen, und er las mich kaum. Aber gekannt haben wir ihn alle, wir haben ihn täglich gelesen, haben mitgelitten, mitgedacht und mitgefeiert. Er war der beste, und alle wussten das, und er wusste es auch, aber er blieb der beste." - "Und?" - "Dann... dann auf einmal, in einer Diskussion über den amerikanischen Bombenangriff auf den Iran, verschwand er. Mitten drin, er schrieb, dass er sich noch klarer äussern werde, dass er aber erst einmal ein Bier brauche. Nie mehr hinterliess seine IP-Adresse danach wieder eine Spur im Netz. Sonst hatte er sich immer wieder gemeldet, war immer da, liess niemanden hängen. Die Gemeinschaft der Blogger rätselte, suchte, fluchte, strickte Theorien und stiess Gebete aus. Nichts geschah, man fand den User hinter dem Namen nicht, weil er sich so gut getarnt hatte. Mit der Zeit fand man sich ein wenig damit ab, aber der Verlust und die Konfusion, die Belastung der Emotionen waren so gross, dass niemand umhin kam, eine Einstellung, eine Meinung über das Geschehene zu wählen. Manche glaubten an Verschwörungen und Todeskommandos irgendwelcher Provenienz, andere glaubten an Aliens und wieder andere an göttliche Einmischung. Und hinter jedem neuen Blog wurde schnell einmal der vermisste smalltree vermutet, und auch hierüber diskutierte und theoretisierte man sogleich."
"Und nun? Was ist passiert?" - "Jahre später stellte sich heraus, dass smalltree an jenem Abend sturzbetrunken in der Küche unglücklich ausgerutscht sein und den Kopf tödlich aufgeschlagen haben muss." - "Aber die haben gesagt, er sei kürzlich in einem Supermarkt von Jollyville in Oklahoma gesehen worden?"
moccalover - 13. Aug, 17:53
Das Wetter wollte nicht so recht heute, "aber morgen will er wieder besser, ich habe's im Meteo gesehen", sagt die Frau an der Kasse, der ganze Kühlschrankinhalt der nächsten Woche liegt stellvertretend für meinen Willen, diese Woche zu überleben, auf dem schwarzen Laufband, das die Waren unentwegt nach unten drückt, obschon sie schon lange aneinander festgestossen sind, Mehl klebt auf dem Band, weil das Fensterchen der Brottüte fein perforiert ist, und ich schleppe drei gefüllte Taschen nach oben, ans Licht, mache meine Hand frei und werfe die bereitgehaltenen zwei Franken in die hingestreckte Baseballmütze, gehe die Strasse hinunter, erneuere immer wieder den Griff meiner Hände an den Taschen, weil die so schwer sind, gehe durch den Hof und treffe im Korridor Rob, der den Gartenschlauch bereitmacht, ich stelle die Taschen hin und spreche mit ihm, jemand hat des Nachts vor die Hintertüre in den Hof gekotet, ein respektabler Haufen, und Rob muss es wegwischen, er verflucht die Junkies und riecht nach Alkohol, wir lächeln beim Auseinandergehen und wünschen uns ein schönes Wochenende; Rob hat's nicht leicht.
moccalover - 13. Aug, 16:39
Wer sich ab und an das Vergnügen machen möchte, Blog- und übrige Internet-Texte nicht zu lesen, sondern sich von einem sympathischen, kultivierten Herrn mit süssem französischem Akzent vorlesen zu lassen, der möge sich nun umgehendst
dies beschaffen (leider IE only, wer kennt's für andere Browser?).
Ein ROFL von meiner Seite kann ich da nun wirklich nicht verkneifen.
[Edit: Wer Popup-Blocker wie den von der Google-Toolbar benutzt, sollte das ausschalten, sonst bleibt das Männchen stumm.]
[Edit II: Das Zeugs hat Tücken. Siehe die Kommentare und dies:
"Weiss nicht warum, aber ein Link ist tatsächlich defekt, und zwar jener, der auf die Datei "AgtX0407.exe" verweist. Das macht aber nichts, da hat nur der Programmierer geschlampt: Mit der rechten Maustaste auf den Link klicken, "Verknüpfung kopieren" wählen, neues Browserfenster öffnen, in die (leere) Adresszeile klicken und den kopierten Link hineinpasten (ctrl-v), am Ende der Adresse das unnütze "%20" löschen, und schon klappts. Oder noch einfacher:
hier klicken, ich habe den Link bereinigt. Aber immer schön an die Reihenfolge denken!"]
moccalover - 13. Aug, 02:04
Heute ist mir widerfahren, was auf dieser Welt selten genug passiert. Eine Frau hat sich draussen vor dem Restaurant mir gegenüber an den Tisch gesetzt. Und sie hat bald begonnen, mit mir ein Gespräch zu führen. Jedenfalls, mich auszufragen, denn ich war zunächst noch in meine Arbeit versunken. Sie war ein bisschen extrovertiert - mitteilsam, weil sie gerade aus der schriftlichen Abschlussprüfung einer PR-Ausbildung kam. Als ihre Freundin mit den zwei Gläsern Prosecco von der Theke nach draussen kam, war der Spuk vorbei, ich war nicht mehr interessant, konnte mich noch ein bisschen konzentrieren, und kurz darauf ging ich.
Das erinnerte mich an einen Abend im letzten Sommer, als ich Ähnliches erlebte. Ich sass auch draussen, trank auch doppelten Espresso, nur damals schaute ich den Leuten nach, die sich zwischen den Tischen des Restaurants und den Marktständen mit Plüschtieren, Handmachschmuck und Jägerhüten drängten. Auf einmal stand eine hübsche Frau vor meinem Tisch und fragte etwas scheu, ob sie sich zu mir setzen dürfe. Sie war etwa acht Jahre älter als ich, und darum erstaunte mich das Ganze noch mehr als wegen des Umstands, dass ich fest glaubte, dass weiter hinter mir noch mindestens ein Tisch frei sein müsste. Frauen in ihrem Alter haben mit Männern aus meinem Alter nichts zu tun, sie haben entweder den Mann fürs Leben, das erste oder zweite Kind, oder sie haben das gerade hinter sich und suchen sich selber - weit weg von Leuten wie mir.
Ich hatte kaum zwei Zeitungsartikel überflogen (das Zeitunglesen schien mir unverfänglicher, als wenn sie mich beim Studium der Passanten beobachtet hätte), da sprach sie mich mit einem fragenden Lächeln an, und es entwickelte sich ein wunderbares Gespräch über den Markt, die Demonstration, die dahinter durchzog und sie am Weitergehen hinderte, und über das heutige Gemüseangebot in den verschiedenen Läden (Steinpilze kriegen Sie nur noch bei Globus, alles andere ist leergekauft). Fast vergass ich mein Erstaunen über diese für mich nicht ganz einsichtige Situation. Man denkt ja schnell daran, dass man eine oder einen von diesen übermässig leutseeligen, aufdringlichen Menschen getroffen hat, die hinterher nicht einmal wüssten, wie man ausgesehen hat. Oder die in völligem Aussetzen jeglicher sozialer Hemmung sich an einen klammern, ohne dass man sich einander schon vorgestellt hätte. Diese Dame aber war ein Genuss; sie war gebildet, stellte interessante Fragen und blieb doch äusserst diskret und zurückhaltend. Dazu konnte ich bei einer gelegentlichen Betrachtung auch feststellen, dass ich sie sofort attraktiv gefunden hätte. Vielleicht hatte ich eine Vorahnung und erwog es auch deshalb nicht.
Nachdem sie ihren Double-latte-qualsiasi in kleinen Schlücken immer zwischen fünf Sätzen ausgetrunken hatte, traf sie erste Vorkehrungen zum Aufbruch, blickte zur Strasse hinüber, auf der vor kurzem noch Fahnen getragen und Parolen durchs Megaphon gepeitscht wurden, und meinte: "Nun ist die Strasse wieder frei, und ich muss leider noch weiter. Aber es war sehr angenehm, mit Ihnen zu schwatzen! Haben Sie vielen Dank dafür!" - Ich nickte sogleich mehrmals heftig und stimmte ihr zu, wusste aber nicht recht, was ich überhaupt von alledem halten sollte: "Ja, klar doch, ich hab's auch genossen! ..." Der Mund blieb mir noch eine Weile offen. Sie sagte: "Ich wollte Ihnen nur noch sagen, dass ich nicht ganz zufälligerweise zu Ihnen gesessen bin!" Oh, was verbarg sich denn hinter den scheuen Augen? - "Ich bin Psychologin und mache dieses Wochenende eine Weiterbildung für die Therapie von Menschen mit Sozialängsten. Und dazu gehörte, dass jede Frau von uns die Aufgabe erhielt, sich über Mittag in der Stadt zu einem jungen, hübschen - " da wurde ich ein wenig verlegen - "Herren an den Tisch zu setzen und mit ihm ein längeres Gespräch zu führen." ... "Verstehen Sie, ich habe das einfach gemacht, um meine eigenen Sozialängste kennenzulernen und besser zu verstehen, wie ich damit umgehen würde, wenn ich mich vor Angst nicht einmal auf die Strasse traute!" Ich verstand.
Einen besseren Grund hätte ich mir allerdings gerne gewünscht. Ich signalisierte ihr durch Interesse und ein breites Schmunzeln, dass ich gerne mitspielte und ihr die versteckte Kamera nicht übelnahm. Bald darauf liess sie mich an meinem Tisch zurück und ging in das Kursgebäude am Ende des Platzes.
moccalover - 13. Aug, 01:42
Was unterscheidet den Glauben vom Wissen? Basiert nicht alles Wissen auf einem Glauben (zumindest an die eigene Wahrnehmung und deren Deutung)? - Und: Was meinen wir genau, wenn wir sagen: "ich glaube zu wissen"? Ist ein Satz wie "ich weiss, dass ich glaube", überhaupt noch sinnvoll? Glaubt man nur, dass man glaubt?
moccalover - 12. Aug, 18:37
Nein, heute schreibe ich nichts, bestimmt nichts, ich bin viel zu müde und habe Angst, süchtig zu werden. Und ich mag auch nichts schreiben. Bestimmt schreibe ich nichts, heute habe ich gar nichts zu sagen, heute wäre alles dumm, was ich schriebe, mein Kopf ist heute gar nicht mit mir aufgestanden, und mein Ich hat sich auch noch nicht blicken lassen; wie sollte ich da schreiben? Ich irrte heute mit meinem Körper in der Welt herum und fragte mich dauernd, ob ich auf einmal erwachen könnte und ankommen. Ich werde gerade jetzt sicher nichts schreiben, ich habe keine Erinnerung an diesen Tag. Da kann mir nichts in den Sinn kommen, bei so einem Tag, an dem mich der Raum erdrückt, an dem alles Vergeblichkeit atmet, und an dem mich selbst eine Blumenverkäuferin zum weinen brächte. Davon will ich nicht schreiben, das will keiner lesen.
moccalover - 11. Aug, 21:12
Herr Tobler ist nicht so gross. Er ist blond und eher schmächtig, trägt meist alte Jeans und ein flauschiges Holzfällerhemd in hellen Farben, welches er über den Hosenbund fallen lässt. Er ist siebenunddreissig Jahre alt, und er hat ein liebes Gesicht, das oft schelmisch vor sich hinlächelt.
Herr Tobler hatte sicher Frauengeschichten, das schon, aber das ist lange her, und wenn er sich daran erinnern möchte, dann spürt er das alles hinter sich gelassen wie die Stadt, aus der man gerade kommt, wenn man in der nächsten aus dem Zug steigt.
Später war das nicht mehr möglich, er wurde zu alt, zu eigenartig und zu ängstlich. Und seine sehnsüchtigen Blicke nach ihm sympathischen Frauen in Cafés und auf der Strasse begannen mehr und mehr ihn zu beherrschen und ihn auszuzehren. Er fühlte sich versklavt.
Als er aber einmal dienstags im Zug sass und das Kreuzworträtsel in der Zeitung löste, änderte sich alles. Er hatte schon beim Einsteigen die anziehende junge Frau gesehen, und beim Lesen sah er nun - nicht scharf, aber im Augenwinkel - wie sie aus ihrem Abteil lange zu ihm herübersah. Herr Tobler wurde augenblicklich derart glücklich, dass er keinen einzigen Buchstaben mehr erkennen konnte und die ganze Zeit nur dem Tanzen der Textkästchen vor seinen Augen zusah. Er unterliess es in seinem Taumel auch gänzlich, zu der Frau hinüberzublicken, um vielleicht einen kurzen Augenkontakt geniessen zu können.
Als ihm dies auffiel, war die Frau schon im Begriff, ihre Zeitschrift und das Handy in ihre Tasche zu packen und beim nächsten Halt auszusteigen. Er blickte weiter auf sein Papier, bis sie weit weg war. Er ärgerte sich nicht, er hatte in seiner Euphorie einen kleinen Hauch lang die starke Bewunderung einer fremden Frau gespürt. Und nun war er gerade froh, dass er letztlich gar nicht wusste, ob sie überhaupt ihn oder doch nur die vorbeiziehende Landschaft hinter ihm betrachtet habe. Sonst wäre seine Einbildung womöglich zerrüttet worden.
An jenem warmen Abend ging er noch während Stunden durch die Stadt und lächelte mild. Er strengte sich an, sich als männliche Prinzessin zu sehen, blickte nun keiner Frau mehr nach oder überhaupt länger ins Gesicht, und er lächelte unentwegt milde und zufrieden. Bei Frauen, die ihn schon im Augenwinkel so neugierig machten, dass er sich kaum halten konnte, dachte er trotzig: "Ja, du möchtest wahnsinnig gerne, dass ich dich anschaue. Aber weisst du, ich habe meine eigenen Dinge zu erledigen, und ich kann mich ja nun wirklich nicht jeder Frau widmen, nur weil sie halt eben gerade schön - und schön geformt ist. Sorry." Und er sagte leise zu sich: "Das habe ich doch nicht nötig, dein Dekolletee zu beglotzen, auch wenn du alles darauf anlegst, dass ich es tue. Ich habe einfach keine Zeit für solchen Kinkerlitz."
Er wusste, dass er sich mit alledem - wie damals im Zug - an einen Luftballon hängte, doch das störte ihn nicht sehr. Er war zufrieden, wenn er sich für einen Moment nicht mehr versklavt vorkam, dass er ein Instrument gefunden hatte, das ihn an manchen Tagen vor der Qual der Sehnsucht beschützte.
Es fehlte ihm nichts, an jenem Abend. Und seitdem gelingt es Herrn Tobler recht häufig, sich mit schelmischem Blick Märchen auszudenken.
moccalover - 10. Aug, 23:45
Der Schiedsrichter der Partie
Malmö-
Thun pfeift einen Freistoss für die Thuner, nachdem deren Torwart - den Ball schon mit der Fanghand berührend - von einem gegnerischen Stürmer aus der Luft angerempelt wurde. Uns fussballerisch nicht so gebildeten Zuschauern erklärt der Kommentator, das sei nun ungeachtet der schwedischen Buhrufe ein klarer Fall für Freistoss - wenn der Torwart den Ball im Fünfmeterraum nur schon berühre, dann sei er physich tabu für den Gegner. - Wir diskutieren den Fall eingehend, weil die Partie ohnehin sehr öde verläuft, und ich komme irgendwann zum Schluss, dass den Stürmer keine Schuld treffe, weil er in die Luft gesprungen sei, bevor der Torwart den Ball berührte, und weil er danach seinen Flug und den daraus resultierenden Rempler nicht mehr aufhalten konnte. -- "Der Mensch hat eh keinen freien Willen", sagt Pi nach einer kurzen Pause.
moccalover - 10. Aug, 22:40
Unter unserem Bürofenster befindet sich ein wunderbar englisch gemähter und überhaupt gepflegter Rasen, der von einigen Bäumen darauf angenehm beschattet wird. Alles in allem ein willkommenes kleines Stück Raum und Luft in dieser Provinzstadt. Dem Gehsteig entlang, der sich zwischen dem Rasen und der Strasse befindet, stehen drei Bänke, auf denen bei schönem Wetter Opas ausruhen, Teenager ihre Sandwiches und Salate verschlingen und am Nachmittag Mamas tratschen, deren Kinder in den Wägen dämmern oder auf dem Gras herumrennen.
Heute sitzt, auf der Bank ganz rechts, und nicht zum ersten Mal, der Mann im blauen T-Shirt da. Das letzte Mal war er ungefähr während drei Stunden dort. Er sitzt da in seinem blauen T-Shirt, hört über Kopfhörer Musik und singt diese laut und falsch mit. Seinen Kopf drückt er dabei hart und schräg in den Nacken, und ab und zu zuckt er im Takt. Sein Gesang tönt erbärmlich und oft nach Wehklage, aber dennoch wirkt der Mann höchst zufrieden. Die Menschen auf dem Gehsteig gehen vorbei, schmunzeln, ärgern sich, schütteln den Kopf oder schauen peinlich angestrengt gerade nicht hin. Es macht nicht den Eindruck, dass der Mann im blauen T-Shirt sie überhaupt wahrnimmt in seinem Notenrausch.
Ich mag Menschen, die einen Scheiss um Konventionen geben - zumindest, wenn sie sich in diesem Sinne um Normen foutieren.
moccalover - 10. Aug, 13:43
Am Glauben und der Religion ist nicht zentral, was sie beinhalten, sondern was sie den Menschen ermöglichen, die daran glauben.
Etwas davon ist die Freiheit von jeglichem Begründungszwang. Je stärker bzw. universeller man glaubt, desto schneller füllen sich die Lücken, die einem beim Denken auffallen, die einen stören, verunsichern und ängstigen. Die Lücken, die einen verzweifeln lassen. Die einen aber auch antreiben und motivieren, weiterzugehen und mehr wissen und erfahren, erleben und erfühlen zu wollen.
Etwas Weiteres ist die Ordnung von Gut und Böse. Diese Ordnung ist ja eine rein Menschliche, und ausserhalb von unserer Wahrnehmung nicht existent (natürlich haben Tiere und Pflanzen auch Codes mit Differenzen, aber "gut" und "böse" im menschlichen Sinne ist das nicht). So, wie sie der Mensch in die Welt hineinträgt, kann diese Ordnung der Welt - wie jede andere menschliche Idee - nur unzulänglich entsprechen und sie für uns hilfreich erklären. Sie tut einen gar nicht so schlechten Dienst, aber sie ist nicht genau und kann nicht alle Probleme sinnvoll lösen. Wo die Frage nach Gut und Böse zu schwierige Probleme aufwirft, hilft der Rückgriff auf den Glauben und auf schematische Erklärungen bzw. Lösungen.
Wer glaubt, sieht einen Sinn, und glaubt nicht mehr, dass dieses Stadium zu erreichen dem Menschen unmöglich sei, dass dies schon allein durch den Begriff des Sinnes ausgeschlossen werde. Er kann sich endlich von der quälenden Vermutung lösen, dass die Sinnsuche vielleicht einfach eine paradoxale Schaltung im Gehirn ist, die dem Bewusstsein innewohnt und die den Menschen seit jeher zum Menschen machte - die man aber vielleicht nicht ändern kann.
Das alles kann sehr gute und sehr schlechte Folgen haben; Ignoranz und Intoleranz, Barmherzigkeit, gelebte Nächstenliebe und soziales Engagement.
Ob wir aber einer Religion im engeren Sinne und mit all ihren Engstirnigkeiten bedürfen, oder ob zum Beispiel für mich eine sachliche Ethik ausreicht, damit ich mich selber so gut verankern kann, um Gut und Böse einzuordnen und Maximen willkürlich zu setzen, so dass ich den Nutzen des Glaubens für das Gute auslösen kann, das frage ich mich.
P.S. Inspirieren kann ich mich immer hier. Die
Leute vom Intelligent Design
werfen der Wissenschaft vor, was gerade deren Kern ausmacht: Dass sie davon ausgeht, dass wir eigentlich nichts wissen und grundsätzlich alles möglich wäre. Ihre Erklärungen sind immer nur Zwischenergebnisse auf der Suche nach der genaueren Differenzierung und – gegebenenfalls – nach der Widerlegung alter Erklärungen. Genau dies, dass die (seriöse) Wissenschaft natürlich nie die Weltformel für alle Fragen finden wird, werfen die Evolutionsskeptiker aus dem evangelikalen Lager der Wissenschaft im Kern vor. Denn diese grundsätzliche Ratlosigkeit der Wissenschaft vor der Welt und die durch sie kontinuierlich erhöhte Komplexität der Welt, so die Vertreter des Intelligent Design, beweise ja gerade, dass eben doch ein intelligentes Wesen (das ist ja eigentlich schon fast Blasphemie!) die ganze Sache organisiere. Weil der Zufall als Regent von Erdentstehung und Evolution ein sehr bibelgetreues und in einem gewissen Sinne paternalistisches Glaubensverständnis – wie jenes der Evangelikalen – natürlich stört, muss die Evolutionstheorie weg. Intelligent Design aber führt letztlich zur Aufgabe jeglicher wissenschaftlicher Tätigkeit. Ein Wissenschaftler folgt wohl Schulen, Dogmen und Paradigmen, aber er strengt sich im besten Fall immer dazu an, auch die geliebtesten Hypothesen wieder zu verwerfen, wenn es denn sein muss. Ein Anhänger des Intelligent Design hingegen setzt sich verschiedene – und, je nach seiner Bibeltreue verschiedenartig konkrete – Axiome in die Welt, die er um keinen Preis loslassen will, und deren Widerlegung er in jeder Versuchsanordnung a priori verhindern wird. Es ist unfair und unfruchtbar, der Wissenschaft ihr eigenes Wesen vorzuwerfen, um so die Suprematie der Religion beweisen zu wollen.
P.S.P.S. Da können Sie sich noch so aalen,
Herr West , ID ist keine Wissenschaft, weil diese Idee die Diskussion um die Frage nach Letztbegründungen abrupt abschneidet, anstatt sie prinzipiell offenzulassen. ID erklärt natürlich nicht, wo die Intelligenz herkommt, die das alles erschaffen haben soll. Und weil diese Frage von ID gar nicht geklärt oder wiederum in Frage gestellt werden soll, ist ID keine Wissenschaft, sondern Religion in der Wissenschaft Gewand.
Edit: Weiterführendes gibt's
hier.
moccalover - 10. Aug, 02:12
Anstatt immer unbewusst einzuschlafen, nachdem ich schon weggedämmert war, wollte ich gestern Abend konzentriert und bewusst das Einschlafen erleben. Das war möglich, weil ich dermassen müde war, dass ich fast im Stehen hätte schlafen können. Ich machte es mir wohl, entspannte mich nach und nach bis zum letzten Muskel, und dann entketteten sich auch meine Gedanken, stiegen hoch und tanzten herum, wie sie es immer tun, bevor ich des Nachts wegtrete.
Ich hatte mich schon immer gewundert, warum wir uns nicht an den Moment des Einschlafens erinnern können. Warum immer das Bild, welches wir uns am nächsten Morgen vom letzten Abend machen, lange vor dem eigentlichen Einschlafen aufhört - und dass nach dem letzten Gedanken, der uns noch in den Sinn kommt, noch viele andere gewesen sein müssen.
Diesmal aber nebelte mich nichts ein, ich sah einen zähen Moment lang Gestalten und Schatten, und plötzlich im rechten Augenwinkel ein schwarzes Nichts, das mich heransog und durch jede Faser meines Körpers elektrisierte. Ich wusste, dass ich hier hineinfallen und einschlafen würde. Aber es war so dunkel, dass ich mich fürchtete, und der Gedanke machte mich panisch, jetzt einfach alles abzugeben, loszulassen, und mich in einen Schlaf zu begeben, von dem ich nicht wusste, ob er mich auch wieder entlässt.
Ich zuckte mit den Beinen, wartete kurz, bis der Schreck mich verliess, und war augenblicklich wieder bei Sinnen. Später schlief ich recht friedlich ein und war froh, dass ich wegdämmern konnte.
moccalover - 8. Aug, 00:19
Manchmal muss man etwas zuerst erledigen, bevor man das Nächste anpacken kann. Das ist meist auch leicht einsichtig, man muss das Gemüse schneiden, bevor man es in den Wok wirft und zu kochen beginnt.
Manchmal aber bedingen Dinge einander, von denen man es nicht so bald vermuten würde. Ich sollte mich für einen Job vorbereiten, und bis jetzt fehlte mir jede Inspiration, Idee, ja überhaupt der Nerv, mich ordentlich hinzusetzen und zu brüten.
Ich kenne dieses Gefühl, ich habe dann ständig den Eindruck, gerade jetzt bestimmt am Falschen zu sitzen und nicht das eigentlich Wichtige zu tun. Die Frage ist nur, was ich zunächst noch erledigen muss, damit ich diese Vorbereitung endlich machen kann.
Müsste ich das Bad wieder einmal putzen, oder den schon leicht vergilbten Brief auf meinem Schreibtisch beantworten? Sollte ich endlich wieder einmal laufen gehen, oder wäre doch Schwimmen für den Kopf befreiender? Noch einen Kaffee, obwohl mein Mund schon bitter klebt? Ist es die Wäsche in der Ecke, die mich auffordernd anstarrt? Aufgeräumt ist im Übrigen doch schon?
Und gleichwohl bleibt mein Kopf abgelenkt, mag sich gar nicht über das Thema hinbeugen, dessen er sich annehmen sollte. Meine Aufmerksamkeit wird von einem wilden Rodeohengst geritten, ihr ist ganz schwindlig. Ich werde alles Mögliche tun und erledigen müssen, um mich freizuschaufeln; wahllos, bis es funktioniert.
moccalover - 7. Aug, 23:51