smalltree

Der kleine Junge streift die sensorischen Handschuhe ab, legt die Stereobrille auf den Tisch und entfernt sich vom Computerterminal. Er geht auf den alten Mann zu, der im alten Ledersessel liegt, schläft und Fleckchen alten Speichels in den Mundecken hat. Er ergreift und schüttelt die Hand des Schlafenden, setzt sich auf dessen Schoss und legt ihm seine Arme über die Schultern.

"Grosspapa moccalover - aufwachen!" - "Oh, Erwin... warte, wo ist denn meine Brille, ich kann Dich ja gar nicht sehen!" -"Im Internet haben sie gerade was von smalltree erzählt, der soll einer der ersten Blogger überhaupt gewesen sein. Grosspapa, gell, Du warst auch einer der ersten Blogger überhaupt!" - "Oh, nein, das stimmt nicht, ich habe ungefähr die ersten fünf Jahre verschlafen.“ – der Junge zieht die Augenbrauen hinunter. „Aber, naja, von heute aus betrachtet, wenn Du so willst, war ich einer der ersten. Sechzig Jahre später sind fünf Jährchen nicht mehr so entscheidend." - "Grosspapa, was ist denn mit diesem smalltree, hast Du den gekannt?" - "Gekannt? Nun ja, ich habe ihn nie getroffen, und er las mich kaum. Aber gekannt haben wir ihn alle, wir haben ihn täglich gelesen, haben mitgelitten, mitgedacht und mitgefeiert. Er war der beste, und alle wussten das, und er wusste es auch, aber er blieb der beste." - "Und?" - "Dann... dann auf einmal, in einer Diskussion über den amerikanischen Bombenangriff auf den Iran, verschwand er. Mitten drin, er schrieb, dass er sich noch klarer äussern werde, dass er aber erst einmal ein Bier brauche. Nie mehr hinterliess seine IP-Adresse danach wieder eine Spur im Netz. Sonst hatte er sich immer wieder gemeldet, war immer da, liess niemanden hängen. Die Gemeinschaft der Blogger rätselte, suchte, fluchte, strickte Theorien und stiess Gebete aus. Nichts geschah, man fand den User hinter dem Namen nicht, weil er sich so gut getarnt hatte. Mit der Zeit fand man sich ein wenig damit ab, aber der Verlust und die Konfusion, die Belastung der Emotionen waren so gross, dass niemand umhin kam, eine Einstellung, eine Meinung über das Geschehene zu wählen. Manche glaubten an Verschwörungen und Todeskommandos irgendwelcher Provenienz, andere glaubten an Aliens und wieder andere an göttliche Einmischung. Und hinter jedem neuen Blog wurde schnell einmal der vermisste smalltree vermutet, und auch hierüber diskutierte und theoretisierte man sogleich."

"Und nun? Was ist passiert?" - "Jahre später stellte sich heraus, dass smalltree an jenem Abend sturzbetrunken in der Küche unglücklich ausgerutscht sein und den Kopf tödlich aufgeschlagen haben muss." - "Aber die haben gesagt, er sei kürzlich in einem Supermarkt von Jollyville in Oklahoma gesehen worden?"
sravana - 14. Aug, 20:37

ich liebe

deine Geschichten. Merci

Die Abgänge hier im Twoday, fast wie oben beschrieben aber überhaupt nicht.

Danke für deine Aufmerksamkeit bei meinem Beitrag.

moccalover - 14. Aug, 22:08

Danke!

Das ist ja ein schönes Lob!

Schön, dass Du das mit dem Freier nicht als Klugscheisserei empfunden hast. Es ist schwierig, abzuschätzen, wie einen die Leute verstehen könnten, wenn man sie noch nicht so gut kennt. Umso besser! Ich musste wirklich schmunzeln ob der Verbindung zwischen dem Freier und der Hochzeitskutsche.
_sophie_ - 14. Aug, 23:08

Sag´ ich doch,

das Sie mit Worten umgehen, jonglieren, zaubern und wunderschöne Texte daraus machen können.....

moccalover - 14. Aug, 23:12

oh, danke, da werde ich ganz rot! Ja, wenn es läuft, dann ist es doch wirklich wie jonglieren? Und zaubern kann man auch, man darf die Welt ja frei gestalten im Text.
_sophie_ - 14. Aug, 23:14

Die visuelle, virtuelle Welt nimmt erst Gestalt durch Wortzauberereien. :)
moccalover - 14. Aug, 23:21

ja, das ist das Schöne und Anstrengende: zu beschreiben, was einem da durch Körper und Geist huscht...
_sophie_ - 14. Aug, 23:24

Man merkt Ihnen die Anstrengung nicht an......
moccalover - 14. Aug, 23:34

Nein, die Überbleibsel der Anstrengung werden der Deletetaste übereignet. Und wenn ich ständig auf die Leertaste drückte, wenn ich beim Schreiben nicht weiterweiss, dann müssten Sie mächtig scrollen in den Texten. Aber Schreiben ist anstrengend, weil es immer unmöglich ist, wirklich genau das schreiben zu können, was man denkt und fühlt.

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sophieblog.twoday.net - 14. Aug, 23:56

Buchstaben und Worte

Es ist anstrengend und manchmal wirklich... [weiter]

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