Herr Tobler im Hotel

Das Buffet war oppulent und letztlich doch billig. Unterkühlte Salate ohne Restgeschmack, fades Filet und klebrige Mousse au Chocolat. Alles war da, sicher genauso wie es auf der Checkliste der Hotelkette stehen musste. Aber es schmeckte Herrn Tobler nicht sonderlich. Nicht dass er es nicht schätzte, oder dass er sich von diesem Diner gar etwas Exquisiteres erwartet hätte (obwohl er dem nicht ganz abgeneigt war). Er fand es einfach übertrieben; er hätte sich eine Rösti gewünscht, oder Pfannkuchen mit viel Zwiebeln und Käse.

Er achtete beim Herausschöpfen der Speisen in seinen Teller gut darauf, dass er seinen schlichtschönen, dunklen Anzug nicht bekleckerte. Er fühlte sich nie ganz wohl in Herrenanzügen, weil sie heikel und sehr teuer waren, und weil man deshalb ständig auf sie aufpassen musste. Sie waren äusserst nachtragend. Diese Kleidung trug er aus beruflichen Gründen, wie er hier in einigen Augenblicken aus beruflichen Gründen Nahrung aufnehmen würde. Aus beruflichen Gründen würde er dabei mit seinen Tischgesellen diskutieren, meist über den Beruf. Es machte ihm Spass, wenngleich es ihn sehr anstrengte und jeweils auch schnell ermüdete, ständig seine Rolle einzuhalten. Nie freute er sich auf derartige Anlässe, aber manchmal fühlte er sich auf ihnen ganz wohl.

Weil Herr Tobler in diesem Hotel, und nicht zuhause, übernachten würde, fühlte er sich ein wenig einsamer als sonst. Das Zimmer war wohnlich und grosszügig, doch beklemmte ihn dies nur noch mehr, weil er in dieser gestalteten, auf ihren Zweck ausgerichteten Wärme die unbedingte Wärme eines nahen Menschen umso mehr herbeisehnte.

Noch war er jedoch unter Leuten. Auch an diesem Abend fühlte Herr Tobler sich recht wohl an seinem Tisch, war da doch auch eine Berufskollegin, die er kannte und die ihm dadurch Sicherheit bei der allgemeinen Konversation vermittelte. Ausgehend vom immer wieder aufnehmbaren Zwiegespräch mit ihr, zu der er an sich kein enges Verhältnis unterhielt, ergaben sich Gespräche über den ganzen Tisch hinweg. Und so entging Herr Tobler zu seiner Befriedigung ein weiteres, kostbares Mal einem Abend voll des würgenden Gefühls, in einer Runde auch etwas sagen zu müssen und sich ausser Stande dazu zu fühlen.

Er wusste zugleich, dass seine Energie und Eloquenz vielleicht bei der Kollegin einen Einstieg in das für drei Stunden aufflackernde soziale System zwischen den zusammengewürfelten Tischgenossen fand, dass diese seine selten aufscheinenden Eigenschaften aber vor allem Ansporn an der Kollegin der Kollegin nahmen. Diese war deutlich jünger als Herr Tobler und sah noch ein Stück jünger aus. Herr Tobler glaubte, ihre Spezies zu kennen, das musste er in all seiner Begeisterung eingestehen. Er hielt sie für eine äusserst sympathische, aber gleichwohl – Schmeichelkatze, die nicht das Geringste am Herbeiflattieren der Erfüllung ihrer aller Wünsche aussetzen würde. Sie zeigte sich in einer verbindlichen Weise interessiert an seinen beruflichen und privaten Tätigkeiten, und sie entschuldigte sich, wenn sie glaubte, dumm gefragt zu haben. Im Gespräch lehnte sie sich, gestützt auf die auf den Tisch gelegten Unterarme, vor und blickte Herrn Tobler mit ernsthaften Augen leicht von unten herauf an. Immer wieder fragte sie ihn etwas, und es gefiel ihm, wenn er auch wusste, dass er sich auf all das nichts einbilden durfte. Er wollte das auch nicht. Er fragte auch nach, weil ihm die Situation und der Rotwein das Vertrauen dazu gaben, und das Gespräch machte Herrn Tobler den Abend äusserst angenehm.

Nach dem Kaffee leerten sich die Tische, und auch die Kollegin der Kollegin machte sich auf, nachhause zu gehen. Er verabschiedete sich mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass man sich am nächsten Tag der Schulung vielleicht noch sähe. Sie lächelte lieb dazu. Sie hatte eine Stupsnase und, wenn man genau hinblickte, viele kleine schwarze Härchen über der Oberlippe. Ihr Oberkörper war zart, und ihren weiten Ausschnitt hatte sie kunstvoll und sehr effektiv über den kleinen Brüsten durchgezogen. Er blickte ihr nach, wie sie den Saal verliess, und wandte sogleich seinen Blick abrupt ab, damit er nicht entdeckt wurde. Er schämte ein wenig sich für sein gieriges Erhaschen ihrer Silhouette, wollte sich tadeln für sein Interesse, das nicht wirklich dieser Frau galt. Überhaupt störte ihn, dass er nicht wirklich einzusehen vermochte, dass sie sich genauso wenig für ihn interessierte.

Herr Tobler schloss das Balkonfenster bis auf einen breiten Spalt, hustete stark und legte sich in das grosse, weiss bezogene Bett. Und es kroch langsam hervor, dieses Gefühl, der Wunsch, dass der Abend nur anders geendet hätte. Er konnte nur noch an die Kollegin der Kollegin denken, an ihren Körper. Er griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Auf dem Nachttisch lagen ein Schokolädchen, ein Telefon und eine Liste der angebotenen Kanäle. Die beiden letzten, weit über Nummer fünfzig, hatten kein Kürzel und keinen Namen, dafür stand geschrieben, dass es sich um kostenlose Programme für Erwachsene handle. Herr Tobler war erstaunt, dass diese Konsumation offenbar im Zimmerpreis inbegriffen war. Er stand erneut auf und schloss die Vorhänge, legte sich wieder hin und wählte die Achtundfünfzig. Nach drei Minuten war es vorüber, und er schaltete Fernseher und Licht aus. Bald schlief er ein.

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