Rückblick

"Er hatte wenigstens Träume…“. Ich stelle mein Teeglas auf das gelbe Papier in der Untertasse, entflechte Zeigefinger und Tassengriff meiner Rechten vorsichtig und nehme die Hände zu mir. Die Finger der jungen Frau knabbern an der Zellophanhülle einer Zigarettenpackung. Sie hebt ihren Kopf und trotzt gebückt, nicht gegen mich, aber gegen das Fenster, gegen die Tür, gegen den Raum. „Ich habe ihn vielleicht nicht wirklich geliebt, ich habe ihm vielleicht auch nie wirklich geglaubt. Aber das zählte eben nicht.“ Sie mag zweiundzwanzig, höchstens vierundzwanzig sein; und als sie ihn kennenlernte, war sie eineinhalb Jahre jünger.

Damals hatte sie gerade ihre Ausbildung abgebrochen und arbeitete mal als Kellnerin, mal als Babysitterin, und fragte sich, was sie tun sollte. Sie hatte immer schon hier gewohnt, in diesem grossen Landdorf weitab von jeder Urbanität. Er war eines Tages einfach da, erschien aus dem Nichts in der Bar, in der sie aushalf, und trotzdem schien er schon eine Menge Leute zu kennen. „Er war immer sehr ausgewählt gekleidet, und schon bald wusste man, dass er teure Geländewagen fuhr. Und Sportwagen. Er war sehr einnehmend und bezahlte oft ganze Runden.“ Bald schon hatte er sie als Webdesignerin für die Firma geworben, die er in dem Landdorf gerade aufgezogen hatte. „Er sprühte vor Ideen, und er wollte immer alles sofort umsetzen, alles kaufen. Und mich verwöhnte er natürlich auch über alle Masse. Wir waren in den teuersten Hotels, genossen das feinste Essen. Ich muss sagen, dass ich ihn zu Beginn nur machen liess, weil ich meiner ehemaligen Schulkollegin eins auswischen wollte, die, als noch sie mit ihm zusammen war, mich wegen seiner Avancen fertigmachen wollte.“

„Ich fragte ihn immer, wo er das Geld herhabe, wenn doch die Firma noch nicht laufe, und er hatte immer eine gute Antwort, sprach von Beziehungen und stillen Reserven, von Firmen im Ausland, die florierten und ihm gehörten; er zeichnete Checks, die faul waren, und er redete sich erfolgreich um Kopf und Kragen, um Produkte zu kriegen, ohne eine Anzahlung zu leisten. Es war immer gleich, die Leute liessen sich am Anfang von ihm eingarnen, und bald schon lag er mit allen im Streit. Er hielt sich an nichts, und sah nie einen Fehler. Ich glaubte ihm auch immer wieder, er weinte oft, und er sagte, dass das alles bald vorüber sein und dass wir bald reich sein würden. Am nächsten Tag hatte er vielleicht ein neues Auto ertrickst, und wir fuhren damit in einen Luxusurlaub. Ich vergass schnell, was ich ihm riet.“

„Er sprach immer davon, dass er das ganz Grosse aufziehen wollte, er hätte die Idee schon lange, nur fehle ihm noch das Geld dazu. Dann würde diesem Provinzkaff endlich ein zünftiger Schub an Fortschritt und Leben verpasst. Wir waren auf den Malediven zusammen, und er schien mir die Welt schenken zu wollen.“ Ich bitte die junge Frau um eine ihrer Zigaretten und lächle zum Dank. „Das mag ja schon stimmen“, meine ich, nachdem ich den ersten Rauch ausgeblasen habe. „Das mit den Malediven war genau vor unserer Verhaftung. Er hatte nicht einmal versucht, die Hotelrechnung zu bezahlen, und so wurden wir noch vor dem Abflug in Handschellen gelegt.“

Die Frau verfällt mehr und mehr in hadernde Töne. Seit geraumer Zeit spickt sie mit ihren Fingern immer wieder genervt Krümel von der Tischdecke und zieht Fusel aus ihrer Wolljacke. „Ich habe mich oft gefragt, wie ich so lange mit meinen Füssen auf dem brüchigen Steg stehen konnte, wie ich es aushielt, dass in jedem Moment alles zusammenbrechen konnte, warum ich mich nicht daran störte, dass unser Leben nur mehr aus Ausreden und Geschichten bestand. - Wissen Sie, ich weiss es nicht, er hat mich betäubt, und irgendwie war es doch auch nicht schlechter als vorher oder nachher. Die Zeit war schön, die Autos, das Essen, der Schmuck. Der Ausblick auf eine bessere Zukunft…“ Ich schweige, blicke aber ruhig zu ihr hin.

Die Zigarette ist fertig, dafür entzündet sie nun eine für sich mit einem schlanken, goldenen Feuerzeug. „Alle waren gegen ihn, auch deshalb konnte ich ihn nicht verlassen, er ist ein guter Mensch, aber er hat nie eine Chance erhalten. Die Menschen hier hinten sind dröge und stur. Die wollen gar nicht, dass einer Erfolg hat. Er glaubte an sich, er lebte seine Projekte. Er hatte wenigstens Träume.“
_sophie_ - 6. Sep, 14:50

In einem wundervollen Stil erzählt. Er hatte Träume, die haben wir alle, manche Träume sind dann allerdings eher Flausen, die man zwar träumen darf, aber an denen man nicht festhalten sollte. Andererseits bleiben dann weniger "Hätte ich doch...., war wäre wenn......, warum habe ich es nicht versucht....." Aber vielleicht bleiben die auch dann, nur anders.

moccalover - 6. Sep, 19:27

Danke!

Das Problem ist ja nur, wenn man Träume hat, anstatt zunächst mal die Realität zu begreifen. Ansonsten ist gegen Träume kaum etwas einzuwenden.

An der Geschichte hat mich beeindruckt, dass er mit seinen Märchen, Lügen und Träumen es offenbar fertigbrachte, eine Vielzahl an Menschen in seinen zweifelhaften Bann zu ziehen... Wenn die Stossrichtung stimmt, schauen wir manchmal nicht mehr genau nach, wer uns das erzählt und wohin es wirklich führt.
sravana - 7. Sep, 10:13

für mich

eine sehr nachdenkliche Geschichte. Manchmal ist es schwer zu beurteilen, ob ich die Realität richtig einschätze, die Wünsche sowie Träume ignorieren sollte um dann unweigerlich die Konsequenzen zu ertragen. (Worte bei Wikipedia: Folge eines Sachverhaltes: wenn A stattfindet, dann findet anschließend auch B statt.)
moccalover - 7. Sep, 10:57

äusserst schwierig ist sie, diese Beurteilung, ja. Wahrscheinlich sind wir das ganze Leben daran, die Balance zwischen Realismus und Träumen zu suchen, uns sie zu erkämpfen. Nichtträumen ist ebenso dumm wie Nurträumen, daher die Schwierigkeit, die weise Mitte auszuloten.

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