Personen

Dienstag, 6. September 2005

zum Glück

Sie ist jetzt verheiratet, ganz frisch, sagt sie mir am Telephon, und zum Glück sage ich nicht zum Glück. Ich sage nur, dass es schade sei, dass ich nicht dabei sein konnte. Wir plaudern vergnügt über ihre Hochzeit, von der sie mir ausführlich berichtet. Und in den Flitterwochen seien sie für zwei Wochen, nur sie mit einem Koch, vier Pferden und einem Führer, durch die Wüste gezogen. Der Koch habe den ganzen Tag lang gekocht für sie, sei ihnen vorausgeeilt und hintennachgerannt, um für sie zu kochen. Und der Führer habe sie gar nichts machen lassen, weder Zelte aufbauen noch abwaschen. So liessen sie sich verwöhnen, und sie genossen es. Es sei nicht einmal teuer gewesen. Zum Glück war ich nicht dabei.

Rückblick

"Er hatte wenigstens Träume…“. Ich stelle mein Teeglas auf das gelbe Papier in der Untertasse, entflechte Zeigefinger und Tassengriff meiner Rechten vorsichtig und nehme die Hände zu mir. Die Finger der jungen Frau knabbern an der Zellophanhülle einer Zigarettenpackung. Sie hebt ihren Kopf und trotzt gebückt, nicht gegen mich, aber gegen das Fenster, gegen die Tür, gegen den Raum. „Ich habe ihn vielleicht nicht wirklich geliebt, ich habe ihm vielleicht auch nie wirklich geglaubt. Aber das zählte eben nicht.“ Sie mag zweiundzwanzig, höchstens vierundzwanzig sein; und als sie ihn kennenlernte, war sie eineinhalb Jahre jünger.

Damals hatte sie gerade ihre Ausbildung abgebrochen und arbeitete mal als Kellnerin, mal als Babysitterin, und fragte sich, was sie tun sollte. Sie hatte immer schon hier gewohnt, in diesem grossen Landdorf weitab von jeder Urbanität. Er war eines Tages einfach da, erschien aus dem Nichts in der Bar, in der sie aushalf, und trotzdem schien er schon eine Menge Leute zu kennen. „Er war immer sehr ausgewählt gekleidet, und schon bald wusste man, dass er teure Geländewagen fuhr. Und Sportwagen. Er war sehr einnehmend und bezahlte oft ganze Runden.“ Bald schon hatte er sie als Webdesignerin für die Firma geworben, die er in dem Landdorf gerade aufgezogen hatte. „Er sprühte vor Ideen, und er wollte immer alles sofort umsetzen, alles kaufen. Und mich verwöhnte er natürlich auch über alle Masse. Wir waren in den teuersten Hotels, genossen das feinste Essen. Ich muss sagen, dass ich ihn zu Beginn nur machen liess, weil ich meiner ehemaligen Schulkollegin eins auswischen wollte, die, als noch sie mit ihm zusammen war, mich wegen seiner Avancen fertigmachen wollte.“

„Ich fragte ihn immer, wo er das Geld herhabe, wenn doch die Firma noch nicht laufe, und er hatte immer eine gute Antwort, sprach von Beziehungen und stillen Reserven, von Firmen im Ausland, die florierten und ihm gehörten; er zeichnete Checks, die faul waren, und er redete sich erfolgreich um Kopf und Kragen, um Produkte zu kriegen, ohne eine Anzahlung zu leisten. Es war immer gleich, die Leute liessen sich am Anfang von ihm eingarnen, und bald schon lag er mit allen im Streit. Er hielt sich an nichts, und sah nie einen Fehler. Ich glaubte ihm auch immer wieder, er weinte oft, und er sagte, dass das alles bald vorüber sein und dass wir bald reich sein würden. Am nächsten Tag hatte er vielleicht ein neues Auto ertrickst, und wir fuhren damit in einen Luxusurlaub. Ich vergass schnell, was ich ihm riet.“

„Er sprach immer davon, dass er das ganz Grosse aufziehen wollte, er hätte die Idee schon lange, nur fehle ihm noch das Geld dazu. Dann würde diesem Provinzkaff endlich ein zünftiger Schub an Fortschritt und Leben verpasst. Wir waren auf den Malediven zusammen, und er schien mir die Welt schenken zu wollen.“ Ich bitte die junge Frau um eine ihrer Zigaretten und lächle zum Dank. „Das mag ja schon stimmen“, meine ich, nachdem ich den ersten Rauch ausgeblasen habe. „Das mit den Malediven war genau vor unserer Verhaftung. Er hatte nicht einmal versucht, die Hotelrechnung zu bezahlen, und so wurden wir noch vor dem Abflug in Handschellen gelegt.“

Die Frau verfällt mehr und mehr in hadernde Töne. Seit geraumer Zeit spickt sie mit ihren Fingern immer wieder genervt Krümel von der Tischdecke und zieht Fusel aus ihrer Wolljacke. „Ich habe mich oft gefragt, wie ich so lange mit meinen Füssen auf dem brüchigen Steg stehen konnte, wie ich es aushielt, dass in jedem Moment alles zusammenbrechen konnte, warum ich mich nicht daran störte, dass unser Leben nur mehr aus Ausreden und Geschichten bestand. - Wissen Sie, ich weiss es nicht, er hat mich betäubt, und irgendwie war es doch auch nicht schlechter als vorher oder nachher. Die Zeit war schön, die Autos, das Essen, der Schmuck. Der Ausblick auf eine bessere Zukunft…“ Ich schweige, blicke aber ruhig zu ihr hin.

Die Zigarette ist fertig, dafür entzündet sie nun eine für sich mit einem schlanken, goldenen Feuerzeug. „Alle waren gegen ihn, auch deshalb konnte ich ihn nicht verlassen, er ist ein guter Mensch, aber er hat nie eine Chance erhalten. Die Menschen hier hinten sind dröge und stur. Die wollen gar nicht, dass einer Erfolg hat. Er glaubte an sich, er lebte seine Projekte. Er hatte wenigstens Träume.“

Montag, 5. September 2005

Herr Tobler im Hotel

Das Buffet war oppulent und letztlich doch billig. Unterkühlte Salate ohne Restgeschmack, fades Filet und klebrige Mousse au Chocolat. Alles war da, sicher genauso wie es auf der Checkliste der Hotelkette stehen musste. Aber es schmeckte Herrn Tobler nicht sonderlich. Nicht dass er es nicht schätzte, oder dass er sich von diesem Diner gar etwas Exquisiteres erwartet hätte (obwohl er dem nicht ganz abgeneigt war). Er fand es einfach übertrieben; er hätte sich eine Rösti gewünscht, oder Pfannkuchen mit viel Zwiebeln und Käse.

Er achtete beim Herausschöpfen der Speisen in seinen Teller gut darauf, dass er seinen schlichtschönen, dunklen Anzug nicht bekleckerte. Er fühlte sich nie ganz wohl in Herrenanzügen, weil sie heikel und sehr teuer waren, und weil man deshalb ständig auf sie aufpassen musste. Sie waren äusserst nachtragend. Diese Kleidung trug er aus beruflichen Gründen, wie er hier in einigen Augenblicken aus beruflichen Gründen Nahrung aufnehmen würde. Aus beruflichen Gründen würde er dabei mit seinen Tischgesellen diskutieren, meist über den Beruf. Es machte ihm Spass, wenngleich es ihn sehr anstrengte und jeweils auch schnell ermüdete, ständig seine Rolle einzuhalten. Nie freute er sich auf derartige Anlässe, aber manchmal fühlte er sich auf ihnen ganz wohl.

Weil Herr Tobler in diesem Hotel, und nicht zuhause, übernachten würde, fühlte er sich ein wenig einsamer als sonst. Das Zimmer war wohnlich und grosszügig, doch beklemmte ihn dies nur noch mehr, weil er in dieser gestalteten, auf ihren Zweck ausgerichteten Wärme die unbedingte Wärme eines nahen Menschen umso mehr herbeisehnte.

Noch war er jedoch unter Leuten. Auch an diesem Abend fühlte Herr Tobler sich recht wohl an seinem Tisch, war da doch auch eine Berufskollegin, die er kannte und die ihm dadurch Sicherheit bei der allgemeinen Konversation vermittelte. Ausgehend vom immer wieder aufnehmbaren Zwiegespräch mit ihr, zu der er an sich kein enges Verhältnis unterhielt, ergaben sich Gespräche über den ganzen Tisch hinweg. Und so entging Herr Tobler zu seiner Befriedigung ein weiteres, kostbares Mal einem Abend voll des würgenden Gefühls, in einer Runde auch etwas sagen zu müssen und sich ausser Stande dazu zu fühlen.

Er wusste zugleich, dass seine Energie und Eloquenz vielleicht bei der Kollegin einen Einstieg in das für drei Stunden aufflackernde soziale System zwischen den zusammengewürfelten Tischgenossen fand, dass diese seine selten aufscheinenden Eigenschaften aber vor allem Ansporn an der Kollegin der Kollegin nahmen. Diese war deutlich jünger als Herr Tobler und sah noch ein Stück jünger aus. Herr Tobler glaubte, ihre Spezies zu kennen, das musste er in all seiner Begeisterung eingestehen. Er hielt sie für eine äusserst sympathische, aber gleichwohl – Schmeichelkatze, die nicht das Geringste am Herbeiflattieren der Erfüllung ihrer aller Wünsche aussetzen würde. Sie zeigte sich in einer verbindlichen Weise interessiert an seinen beruflichen und privaten Tätigkeiten, und sie entschuldigte sich, wenn sie glaubte, dumm gefragt zu haben. Im Gespräch lehnte sie sich, gestützt auf die auf den Tisch gelegten Unterarme, vor und blickte Herrn Tobler mit ernsthaften Augen leicht von unten herauf an. Immer wieder fragte sie ihn etwas, und es gefiel ihm, wenn er auch wusste, dass er sich auf all das nichts einbilden durfte. Er wollte das auch nicht. Er fragte auch nach, weil ihm die Situation und der Rotwein das Vertrauen dazu gaben, und das Gespräch machte Herrn Tobler den Abend äusserst angenehm.

Nach dem Kaffee leerten sich die Tische, und auch die Kollegin der Kollegin machte sich auf, nachhause zu gehen. Er verabschiedete sich mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass man sich am nächsten Tag der Schulung vielleicht noch sähe. Sie lächelte lieb dazu. Sie hatte eine Stupsnase und, wenn man genau hinblickte, viele kleine schwarze Härchen über der Oberlippe. Ihr Oberkörper war zart, und ihren weiten Ausschnitt hatte sie kunstvoll und sehr effektiv über den kleinen Brüsten durchgezogen. Er blickte ihr nach, wie sie den Saal verliess, und wandte sogleich seinen Blick abrupt ab, damit er nicht entdeckt wurde. Er schämte ein wenig sich für sein gieriges Erhaschen ihrer Silhouette, wollte sich tadeln für sein Interesse, das nicht wirklich dieser Frau galt. Überhaupt störte ihn, dass er nicht wirklich einzusehen vermochte, dass sie sich genauso wenig für ihn interessierte.

Herr Tobler schloss das Balkonfenster bis auf einen breiten Spalt, hustete stark und legte sich in das grosse, weiss bezogene Bett. Und es kroch langsam hervor, dieses Gefühl, der Wunsch, dass der Abend nur anders geendet hätte. Er konnte nur noch an die Kollegin der Kollegin denken, an ihren Körper. Er griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Auf dem Nachttisch lagen ein Schokolädchen, ein Telefon und eine Liste der angebotenen Kanäle. Die beiden letzten, weit über Nummer fünfzig, hatten kein Kürzel und keinen Namen, dafür stand geschrieben, dass es sich um kostenlose Programme für Erwachsene handle. Herr Tobler war erstaunt, dass diese Konsumation offenbar im Zimmerpreis inbegriffen war. Er stand erneut auf und schloss die Vorhänge, legte sich wieder hin und wählte die Achtundfünfzig. Nach drei Minuten war es vorüber, und er schaltete Fernseher und Licht aus. Bald schlief er ein.

Samstag, 20. August 2005

Kassenzettel

Herr Tobler sammelt fremde Kassenzettel. Betritt er ein Café, und das tut er oft, so spüren seine Augen rasch einen Tisch auf, der erst kurz vordem verlassen wurde. Er setzt sich hin, zu den zurückgelassenen Tassen mit dem angeklebten Milchschaum, zu den aufgerissenen Zuckerbriefchen, die zusammengeknüllt auf dem Tassenboden liegen und die Kaffeereste in sich aufsaugen. Zuoberst auf dieser Anhäufung von Überresten flüchtiger Ruhe liegt der Kassenzettel, bis zur Mitte durchtrennt von einem Riss, der die Bezahlung quittiert. Beiläufig klemmt Herr Tobler dann den Zettel zwischen Zeige- und Mittelfinger, mustert ihn kurz, ohne den Kopf zu senken, führt die Hand unter den Tisch und faltet das geschmeidige Plastikpapier sorgfältig zusammen. Wieder eines, das in der Tasche verstaut wird.

Zuhause studiert Herr Tobler alle Kleinigkeiten, die die Quittung von sich gibt: Die Mehrwertsteuernummer, die Nummer, manchmal den Namen, der kassierenden Person, die Konsumationen, die Zeit, das Datum. Champagner zum Frühstück, Espresso zur Nacht, Hanspeter, Sunila, Sandra, Mahmoud. Manche Kassenzettel sind sehr lakonisch, tragen kaum mehr als die Zahlen von Preisen und Kategorien auf sich, andere sind gesprächig, machen Reklame und sagen danke. Herr Tobler klebt sie auf Zeitungspapier, immer vier auf eine geviertelte Zeitungsseite, und flicht die Seite in eine Zeigetasche aus Plastikfolie. Er weiss nicht mehr genau, wie viele Ordner er damit schon gefüllt hat.

Aber voller Unrast sammelt er weiter, und so kommt es vor, dass er im Supermarkt nicht nur die liegengebliebenen Zettel aus den Einkaufswagen und vom Laufband klaubt, sondern dass er, so unauffällig wie möglich, in fremde Einkaufstaschen greift und dort den Zettel entwendet, währenddem sein Nachfolger aus der Kassenwarteschlange am Bezahlen ist. Solche Zettel packt er gesondert in seine Tasche, und zuhause klebt er sie alleine auf. Genauso wie jene, die er einmal in den Abfallkörben am Busbahnhof fand. In ganz Europa musste jemand umhergereist sein, Souvenirs gekauft haben. Und hier auf diesem Busbahnhof musste er sich seines ganzen Reiseabfalls entledigt haben.

Herr Tobler ist zufrieden in seiner Beschäftigung. Er kann in seinem Schatz blättern, wann immer er will, er kann die Zettel bewundern und jene hervorholen, die von den besonderen Tagen zeugen. Die wenigen, die von alledem wissen, sprechen ihn nicht darauf an.

Vor ein paar Jahren, als er schon eine ganze Weile am Sammeln war, hielt er beim Einkleben einmal plötzlich inne und stoppte seine mechanisch gewordenen und in der Radiomusik aufgelösten Bewegungen abrupt. Wochenlang war der Küchentisch mit der unfertigen Arbeit und den Utensilien überdeckt, und Herr Tobler ass in dieser Zeit nur noch am Schreibtisch. Er mochte nicht hinblicken, verstand nicht mehr, was er da tat. Er verurteilte sein eitles Tun, seinen Götzendienst für die Leere. Er verdammte seinen Wahn, in all den Zetteln einen Zusammenhang zu finden, ihren gemeinsamen Sinn zu entdecken, aus ihrer Gesamtheit etwas herauslesen zu können, das sie allein nicht enthielten. Er wurde traurig bei dem Verdacht, dass er von seinem Sammeln etwas erwarten könnte, was nicht käme.

Eigentlich hatte er damals alles verbrennen wollen. Weitere Wochen verstrichen nach dem Entschluss, ohne dass er den Küchentisch geräumt hätte, und irgendeinmal fand er, dass er lieber weitermachte, als über das Ganze weiter nachzudenken.

Dienstag, 16. August 2005

Aussage

Der Polizist: Brauner Bart, leicht getönte, grosse Lehrerbrille mit Metallrand. Ein einziges die-Lampe-füllen. Die Fasnacht musste einfach eingeführt werden, die Politiker haben das gemacht. Vor sechs Jahren. Das gab’s hier früher nicht.

Der Polizist: Blaues Hemd, Epauletten mit Strich und Stern, Handschellen im schwarzen Etui aus dem Nylonstoff, aus dem man Wanderrucksäcke macht. Am Anfang: Verseschmiede, Kostümvereine, Musikgruppen, alles weg, verkümmert, nach zwei Jahren schon. Nur saufen, nur dafür, nur deswegen, nur das. Dann morgens um vier, Sie müssen das sehen. Das Bahnhöfli. Natürlich kennen Sie das Bahnhöfli nicht. Nur Lumpenpack. Siffköpfe, Junkies, Verlauste.

Der Polizist: Vorsichtig verschränkte Arme. Der obere nur aufgelegt, gestikulierend. Drei Viertel schliefen. Wer noch konnte, wollte nicht sprechen. Nur der Türsteher. Es hat mich später auch beschäftigt. Alles voller Glas. Bier. Blut. Ein Unfall unter Verrückten. Nüchtern: Wirt und Türsteher. Der Wirt hatte in der Küche gearbeitet. Ich glaubte dem Türsteher.

Der Polizist: Müde Augen, traurige Augen, Vatergesicht. Ein Unfall von der Bewusstseinslosigkeit durch eine Glasscheibe in die Bewusstlosigkeit. Niemand wollte mit uns sprechen. Kleinstadt. Nur Anarchisten oder Rasierte; Ausländer. Niemand will mit uns sprechen. Barfestivals. Pubevents. In jedem Club. Nur Drogen, saufen, Drogen. Kaputtmachen, wegmachen. Und schweigen uns an. Fahren betrunken nachhause. Zu zweit reicht eine Nacht für fünf Blutproben.

Der Polizist: Glänzende Plastikpyramidchen auf den Griffschalen der Pistole. Fester Stand. In Bern ist alles noch viel schlimmer. Bern ist voller Dealer. Achtundzwanzig Jahre Landjäger. Ewiger Niedergang und Verfall. Hundertvier Sprachen in Biel. Jede Sprache ein anderes Anstandsgefühl. Aber die wirklich grossen Dinge, die dahinter. Wer soll das tun.

Der Polizist: Wenn Sie wüssten, was die Fahnder wissen. Drogen, Waffen, Menschen. Überall illegal. Die grossen Arschlöcher.

Der Polizist: Seit Sokrates sagen die Leute immer, alles strebe zu Grunde. Vielleicht ist es nicht so tragisch, vielleicht geht es uns gut. Der Polizist: Wenn man das kennt, die Verrückten sieht, das Pack sieht, dann versteht man. Ich habe dem Türsteher geglaubt. Schrecklich. Er klang glaubwürdig.

Montag, 15. August 2005

Er geht.

Noch zweieinhalb Monate. Dann geht er. Ewiger Regen fällt in Giesskannenstrahlen auf den Fenstersims, bildet lustige, kullerige Blasen, weil der Kupferbelag sich nicht nässen lässt. Hier drinnen ist es auch nicht nass, aber die Feuchte durchdringt die Baumwolle der Kleider, und sie legt sich klebrig auf den Holztisch, schiebt sich zwischen den Stuhl und die Hose.

Er geht nicht weit weg, nur ans andere Ende der Stadt. Er war vielleicht - ein bisschen nur - weniger dabei als wir beiden anderen, aber vielleicht war auch ich weniger dabei, und merkte es nicht. Aber wir waren drei. Das zählte. Das war immer über allem. Die faktischen Zweierbeziehungen standen immer unter dem Dache der Drei. Wir waren zusammengekommen, um ewige Reiche der Wohnkultur zu errichten. Um die Jugend zu perpetuieren.

Die Küche ist düster, aber verstörend durchzogen von einem verzweifelten Licht, das sich durch die Untiefe einer schwarzen Regenwolke drängt und am Abendhimmel eine andere Wolke grell erleuchtet und von da verstreut hineinfällt. In zweieinhalb Monaten geht er, zieht zusammen mit ihr, wie er sich in einem schwarzen Loch mit aller übrigen Materie zusammenzöge, wie wenn die Schwerkraft ihn zum Boden zwänge. Er bricht den nie gesprochenen Schwur, dass über die Drei nichts käme; fast, wie wir ihn ständig brechen, aber dieses Mal ist es ernst. Zum grossen Landgut oder Bauernhof wird es nicht kommen, auf dem wir - gegebenenfalls mit Frau und Kind - zusammenbleiben wollten.

Es war ein Schwur, den vielleicht niemand wirklich bis aufs letzte verteidigen wollte. Aber seine Tat entpuppt sich als Grausamkeit ganz unerwarteter Art. Er lässt uns zwei zurück. Ein Paar, ein schönes Freundespaar, sicherlich. Es zeichnete sich auch ab, dass mit zunehmendem Alter die Schwierigkeit steigt, mehr als einen anderen Erwachsenen dauernd neben sich zu haben. Es ging häufig besser zu zweit als zu dritt, ganz gleichgültig, wer mit wem. Aber er wirft uns mit seiner Entscheidung unweigerlich und krachend die Frage vor die Füsse. Selbst wenn gerade er das zuletzt möchte. Wie lange wir denn diese Jugend noch fortzusetzen gedächten. Ob wir uns nicht auch einmal ernsthafte Gedanken machen sollten, die mit Langfristigkeit in Zusammenhang stehen.

Hier steht seine blaue, in ihrer ovalen Form undefinierbare Fruchtschale, auf der manchmal die Äpfel von der Südhalbkugel liegen, deren Unvernunft ich tausendmal gepredigt habe. Jetzt sind es rote Äpfel, und ihre Haut glänzt feuchtfettig. Da drüben die Kaffeemaschine, die wir Giulia nannten, die er in unserem Auftrag und auf gemeinsame Rechnung in Italien vom Bestanbietenden beschaffte, und die wir so oft zum Dottore schickten. Er hat vorhin abgewaschen – sehe ich das nur jetzt, oder ist das neu? Das Spültrogsieb stinkt, weil es noch voller Salat und Sauce ist. Oft stand ich hier und fluchte, und wünschte mir, es wäre soweit, wie es nun ist.

Im Bad liegt Staub, auch er klebt; und er hat wieder nicht aufgepasst beim Pissen. Ich mochte nie zu viel sagen, er nahm alles so ernst. Wir waren Drei, das zählte. Ich mochte ihn genau so, er war genau so wichtig.

Noch zweieinhalb Monate, bis er geht, und er spielt auf der Gitarre, wir schreien durch das geöffnete Fenster in den Regen. In der durchfeuchteten Luft tragen sich die Stimmen in die Wände und lassen sie leise mitsummen. Geht seine Stimme nach oben, suche ich die Basslinie, und so tanzen wir durch die Lieder, immer wechselnd. Wir lachen.

Namen aufschreiben und eintragen

Der Kleine hiess Eric Müller. Eric Müller konnte schon seinen Namen schreiben, allerdings malte er die Buchstaben c und e immer verkehrt auf das Papier, so dass das noch ein wenig schwer zu lesen war. Aber Eric Müller war stolz darauf, seinen Namen schreiben zu können.

Er malte auch heute Nachmittag, als er im Schulhaus sass, in einem dieser Zimmer, wo es einen grossen Schreibtisch gab mit zwei grossen Lehnstühlen davor, und seinen Eltern auf diesen Stühlen, und er auf einem Stühlchen vor einem Tischchen weit hinten im Raum, den Kopf mit der Linken aufgestützt und in der Rechten ein roter Filzstift, mit dem er seinen Namen auf das Papier schrieb. Er hörte nicht hin, was der alte Mann im grauen Anzug mit seinen Eltern besprach, er hätte es auch nicht verstanden. Er wollte dem Plüschlöwen auf seinem Schoss seinen Namen zeigen, und dass er ihn schreiben könne.

Es war warm hier drinnen, die Hitze machte ihn müde, aber er genoss den Geruch des alten, hölzernen Fussbodens. Eric Müller hatte den Kindergarten beendet und würde bald eingeschult werden. Die Kindergärtnerin hatte ihn sehr gemocht, es war sie, die ihm das Schreiben des Namens beibrachte - wenngleich unvollständig. Eric Müller war auch im Fussballclub, bei den ganz Kleinen, die noch aufrecht auf dem Ball sitzen können. Aber er besass ein Trikot von Sven Müller von Nürnberg, auf das er ganz stolz war. Schliesslich stand da ja nur "Müller" darauf. Seine Freunde nannten ihn beim Fussball nur den "Müllerblitz".

Eric stammte aber nicht von Herrn Müller ab, sondern von Herrn Hagenbühler, der sich kurz nach der Geburt von Frau Hagenbühler scheiden liess, die alsbald zur Frau Müller wurde. Das war bis jetzt nicht so wichtig gewesen.

"Nun, verstehen Sie mich doch, Herr Müller, die Zeugnisse in der Schule sind gültig, naja, ich meine, die haben Gültigkeit. Das ist rechtlich wichtig, dass da der richtige Name drinsteht. Sehen Sie, ich bin rechtlich verpflichtet, dass der Junge mit dem richtigen Namen da drinsteht. Im Geburtsschein steht nun einmal Eric Hagenbühler. Ich muss den Jungen so melden und ihn überall mit diesem Namen eintragen lassen. Zeugnisse, e-mail-Adresse, medizinische Meldelisten etc. etc."

Der Direktor fixierte die beiden Müllereltern eindringlich, gequält, dass eine solche Situation überhaupt entstehen konnte, in der Lebenslügenhäuser zerbrechen. Er bedauerte, an diesem Problem teilhaben zu müssen, empfand aber doch Mitleid. "Sie müssen es ihm sagen, und zwar schnell."

Samstag, 13. August 2005

smalltree

Der kleine Junge streift die sensorischen Handschuhe ab, legt die Stereobrille auf den Tisch und entfernt sich vom Computerterminal. Er geht auf den alten Mann zu, der im alten Ledersessel liegt, schläft und Fleckchen alten Speichels in den Mundecken hat. Er ergreift und schüttelt die Hand des Schlafenden, setzt sich auf dessen Schoss und legt ihm seine Arme über die Schultern.

"Grosspapa moccalover - aufwachen!" - "Oh, Erwin... warte, wo ist denn meine Brille, ich kann Dich ja gar nicht sehen!" -"Im Internet haben sie gerade was von smalltree erzählt, der soll einer der ersten Blogger überhaupt gewesen sein. Grosspapa, gell, Du warst auch einer der ersten Blogger überhaupt!" - "Oh, nein, das stimmt nicht, ich habe ungefähr die ersten fünf Jahre verschlafen.“ – der Junge zieht die Augenbrauen hinunter. „Aber, naja, von heute aus betrachtet, wenn Du so willst, war ich einer der ersten. Sechzig Jahre später sind fünf Jährchen nicht mehr so entscheidend." - "Grosspapa, was ist denn mit diesem smalltree, hast Du den gekannt?" - "Gekannt? Nun ja, ich habe ihn nie getroffen, und er las mich kaum. Aber gekannt haben wir ihn alle, wir haben ihn täglich gelesen, haben mitgelitten, mitgedacht und mitgefeiert. Er war der beste, und alle wussten das, und er wusste es auch, aber er blieb der beste." - "Und?" - "Dann... dann auf einmal, in einer Diskussion über den amerikanischen Bombenangriff auf den Iran, verschwand er. Mitten drin, er schrieb, dass er sich noch klarer äussern werde, dass er aber erst einmal ein Bier brauche. Nie mehr hinterliess seine IP-Adresse danach wieder eine Spur im Netz. Sonst hatte er sich immer wieder gemeldet, war immer da, liess niemanden hängen. Die Gemeinschaft der Blogger rätselte, suchte, fluchte, strickte Theorien und stiess Gebete aus. Nichts geschah, man fand den User hinter dem Namen nicht, weil er sich so gut getarnt hatte. Mit der Zeit fand man sich ein wenig damit ab, aber der Verlust und die Konfusion, die Belastung der Emotionen waren so gross, dass niemand umhin kam, eine Einstellung, eine Meinung über das Geschehene zu wählen. Manche glaubten an Verschwörungen und Todeskommandos irgendwelcher Provenienz, andere glaubten an Aliens und wieder andere an göttliche Einmischung. Und hinter jedem neuen Blog wurde schnell einmal der vermisste smalltree vermutet, und auch hierüber diskutierte und theoretisierte man sogleich."

"Und nun? Was ist passiert?" - "Jahre später stellte sich heraus, dass smalltree an jenem Abend sturzbetrunken in der Küche unglücklich ausgerutscht sein und den Kopf tödlich aufgeschlagen haben muss." - "Aber die haben gesagt, er sei kürzlich in einem Supermarkt von Jollyville in Oklahoma gesehen worden?"

Mittwoch, 10. August 2005

Herr Tobler fasst Selbstvertrauen

Herr Tobler ist nicht so gross. Er ist blond und eher schmächtig, trägt meist alte Jeans und ein flauschiges Holzfällerhemd in hellen Farben, welches er über den Hosenbund fallen lässt. Er ist siebenunddreissig Jahre alt, und er hat ein liebes Gesicht, das oft schelmisch vor sich hinlächelt.

Herr Tobler hatte sicher Frauengeschichten, das schon, aber das ist lange her, und wenn er sich daran erinnern möchte, dann spürt er das alles hinter sich gelassen wie die Stadt, aus der man gerade kommt, wenn man in der nächsten aus dem Zug steigt.

Später war das nicht mehr möglich, er wurde zu alt, zu eigenartig und zu ängstlich. Und seine sehnsüchtigen Blicke nach ihm sympathischen Frauen in Cafés und auf der Strasse begannen mehr und mehr ihn zu beherrschen und ihn auszuzehren. Er fühlte sich versklavt.

Als er aber einmal dienstags im Zug sass und das Kreuzworträtsel in der Zeitung löste, änderte sich alles. Er hatte schon beim Einsteigen die anziehende junge Frau gesehen, und beim Lesen sah er nun - nicht scharf, aber im Augenwinkel - wie sie aus ihrem Abteil lange zu ihm herübersah. Herr Tobler wurde augenblicklich derart glücklich, dass er keinen einzigen Buchstaben mehr erkennen konnte und die ganze Zeit nur dem Tanzen der Textkästchen vor seinen Augen zusah. Er unterliess es in seinem Taumel auch gänzlich, zu der Frau hinüberzublicken, um vielleicht einen kurzen Augenkontakt geniessen zu können.

Als ihm dies auffiel, war die Frau schon im Begriff, ihre Zeitschrift und das Handy in ihre Tasche zu packen und beim nächsten Halt auszusteigen. Er blickte weiter auf sein Papier, bis sie weit weg war. Er ärgerte sich nicht, er hatte in seiner Euphorie einen kleinen Hauch lang die starke Bewunderung einer fremden Frau gespürt. Und nun war er gerade froh, dass er letztlich gar nicht wusste, ob sie überhaupt ihn oder doch nur die vorbeiziehende Landschaft hinter ihm betrachtet habe. Sonst wäre seine Einbildung womöglich zerrüttet worden.

An jenem warmen Abend ging er noch während Stunden durch die Stadt und lächelte mild. Er strengte sich an, sich als männliche Prinzessin zu sehen, blickte nun keiner Frau mehr nach oder überhaupt länger ins Gesicht, und er lächelte unentwegt milde und zufrieden. Bei Frauen, die ihn schon im Augenwinkel so neugierig machten, dass er sich kaum halten konnte, dachte er trotzig: "Ja, du möchtest wahnsinnig gerne, dass ich dich anschaue. Aber weisst du, ich habe meine eigenen Dinge zu erledigen, und ich kann mich ja nun wirklich nicht jeder Frau widmen, nur weil sie halt eben gerade schön - und schön geformt ist. Sorry." Und er sagte leise zu sich: "Das habe ich doch nicht nötig, dein Dekolletee zu beglotzen, auch wenn du alles darauf anlegst, dass ich es tue. Ich habe einfach keine Zeit für solchen Kinkerlitz."

Er wusste, dass er sich mit alledem - wie damals im Zug - an einen Luftballon hängte, doch das störte ihn nicht sehr. Er war zufrieden, wenn er sich für einen Moment nicht mehr versklavt vorkam, dass er ein Instrument gefunden hatte, das ihn an manchen Tagen vor der Qual der Sehnsucht beschützte.

Es fehlte ihm nichts, an jenem Abend. Und seitdem gelingt es Herrn Tobler recht häufig, sich mit schelmischem Blick Märchen auszudenken.

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wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
dem gedanken folgen.
sobald ich versuche, alles in mehr oder minder stummes...
moccalover - 19. Nov, 22:36
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es ist doch nicht das unternehmen, das ethisch sein...
moccalover - 19. Nov, 22:34
und was das heisse, wenn...
und was das heisse, wenn jemand jemand sei.
moccalover - 19. Nov, 22:33
danke. wenn nur die umsetzung...
danke. wenn nur die umsetzung so einfach wie die erkenntnis...
moccalover - 19. Nov, 22:31
wer das eigentlich sei
wer das eigentlich sei
Reh Volution - 10. Nov, 07:32
da steckt viel wahrheit...
da steckt viel wahrheit drin.
me. (Gast) - 7. Nov, 21:10
danke!
danke!
moccalover - 6. Nov, 00:20
das verbrechen.
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moccalover - 6. Nov, 00:05
nah und fern.
Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
moccalover - 6. Nov, 00:05
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moccalover - 6. Nov, 00:04
die vorstellung und das...
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moccalover - 6. Nov, 00:02
um zu
um zu
Reh Volution - 12. Okt, 08:12
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Das Leben. Ein Schlüssel, der mir Haus und Wohnung...
moccalover - 12. Okt, 00:43
Sandwichs.
Du hast jemand, der für dich Sandwichs streicht. Da...
moccalover - 2. Sep, 22:53

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