Bilder im Kopf

Dienstag, 18. Oktober 2005

Wechsel

Und plötzlich merkte ich: Die Frau, die mir die ganze Fahrt gegenüber sass, währenddem ich die Zeitung las, hätte dreimal aussteigen können; und jedes Mal hätte wieder eine andere einsteigen und sich mir gegenüber setzen können. Ich hätte es nicht bemerkt. Jedes Mal hätte sie gleich ausgesehen, sie wäre der vorherigen so ähnlich gewesen, dass mir nichts aufgefallen wäre. Obwohl keine dasselbe Leben führen würde. Blonde, lange Haare mit schwarzer Sonnenbrille darin eingesteckt, ein plattgemaltes Gesicht, etwas Enges, Weisses unter dem schwarzen Veston und ein rosa Schal, der die sich abzeichnende Brust diskret verhüllte. Was sagt das schon.

Sonntag, 16. Oktober 2005

geht doch

Es geht doch. Es ist sanft und süss, und du leckst dir den Zucker von den Lippen. Weiter, nur weiter da entlang. Und doch schreit da etwas: du machst einen Fehler. Der Käfig, dem du nun entsteigst, den betratest du doch, um solche Fehler zu vermeiden?

Sonntag, 9. Oktober 2005

Der Herbst in mir

Ich habe meinen Kopf in den Fahrtwind gesteckt, ich habe meinen Kopf nach dem Himmel gestreckt. Ich habe ihn aufs eiskalte Kissen gelegt, und ich habe ihn von ganz nah in die Glut blasen und sich aufheizen lassen. Ich habe meinen Kopf im Rauschen verloren, und ich habe meinen Kopf an Baumrinde geschmiegt.

Meine Hände habe ich auf Stöcken über Wurzeln geführt, habe sie den kalten Stein spüren lassen. Ich habe sie mit Harz verklebt und mit Erde ausgetrocknet, an rauen Felsen geschunden und im Reif gewaschen. Sie haben nach Käserinde und Trockenfleisch gerochen, und sie haben sich schützend um die Kerzenflamme gelegt, bis die Finger von Wachs umhüllt waren. Meine Hände haben Holz getragen und Scheite gehauen. Meine Hände haben geschlagen und gewütet, bis dass der Kopf sie bemerkte.

Meine Augen haben müde Grillen und Ameisen gesehen, die Kraft in der Herbstsonne suchten. Meine Augen haben stundenlang Bruder Rauch nachgestellt, um zu erhaschen, wie er sich in Schwester Flamme verwandle und mich das Feuer etwas mehr wärme. Zwischen all den leuchtenden Blättern haben meine Augen unentwegt herumgetanzt, sie haben alle Formen abgetastet, die es in der klaren Ferne zu sehen gab.

Mein Herz war mit den Gräsern, die nun gehen, und mit den Büschen, die im nächsten Frühling noch viel prächtiger ausschlagen werden. Ich habe gespürt, wie die Kälte vom Kreuz aus zum Nacken aufstieg, als die Sonne schon längst verschwunden war. Dieser Rest von warmem, duftendem Sommer, der über Mittag jeweils kurz einzog und mehr leuchtete, als ein Sommertag das je gekonnt hätte – dieses Farbfeuerspiel, es war bloss ein süsses Trugbild, das mich einmal mehr berauschte. So wird es mich auch heuer über die Rückkehr der allgegenwärtigen Kälte hinwegtäuschen.

Und ich habe auf der Heimfahrt meinem Kopf ein paar Tränen abgedrückt.

Dienstag, 4. Oktober 2005

Düne, weggetragen

Könnte ich jetzt an der Nordsee stehen, so ginge ich auf in der Weite der Strände. Jedes Haar, jedes einzelne Atom an mir würde gezogen, könnte sich bald nicht mehr halten und entrisse sich all seiner Bindungen, entflöge den Molekülen und verschwände durch den feuchten, nach Schlick riechenden Wind in die Richtung der Unendlichkeit. Die Weite des Himmels, die mich in sich aufnähme, würde hell schimmern. Ich stände da auf dem Sand und sähe mich in ihm zergehen, empfände nichts dabei; ausser die Gelassenheit der Dünen, die sich ewig umschichten und davontragen lassen. Endlich.

Sonntag, 2. Oktober 2005

woanders. weit weg.

Wir tanzten auf allen Festen, sangen auf allen Messen und besuchten alle Museen, doch die Welt war nicht da; immer war sie draussen geblieben. Weder durch laute Musik noch durch andächtiges Flehen liess sie sich je bitten.

Mit dem gezuckerten Rand eines Drinkglases zwischen den Lippen, auf den Stränden der Malediven, fühlten wir uns so fremdartig und entrückt, dass die Welt hinter dem himmelblauen Meer uns erst bei der Zollkontrolle wieder einfiel. Sie war nicht da gewesen.

Als wir plötzlich im Kriegsstaub standen, in dem Land, auf das alle Welt blickte und bei dessen Zucken alle Welt schrie, fühlten wir, wie weit die Welt sich von hier zurückgezogen und entfernt hatte. Der kleine, dreckige Schmutz, die Verzweiflung und das Elend, dafür interessierte die Welt sich nicht. Sie war nicht hier.

Und als wir im geschützten Viertel waren, da war es schon Nacht, und die hohen Ministerien hatten geschlossen, die Bauten schliefen und wiesen uns von sich. Die Welt war nicht hier.

Wenn wir Los Angeles und Las Vegas besuchten, fanden wir in jeder Ecke eine falsche Welt; hier hielt sie es nicht aus.

Auf den hohen Bergen, da sahen wir nichts von der Welt, ausser ihrer eigenen Geschichte. In den Wüsten konnten wir die Welt nicht finden, weil sie sich aus ihnen selbst vertrieben hatte.

Und in den Flugzeugen sahen wir hinunter auf die Meere, Flüsse und Städte; wir sahen das alles auf einmal, doch es war nicht greifbar und so künstlich wie die Fotos, die wir gesehen hatten. Zwischen Orangensaft und Unterhaltungssystem, da konnte die Welt nicht sein.

Wir besuchten die Fabriken, doch die wurden bald danach schon geschlossen; und die Welt, die das diktierte, die war weit weg.

Und wir waren an den Häfen, suchten zwischen Containern, doch die Welt, sie war schon abgeliefert worden.

Wir assen uns durch die Regale und schalteten uns durch die Kanäle; doch die Welt, die fanden wir nicht.

Wir suchten unter den Brücken und in den Abflussrinnen der Unterführungen; alles war vergeblich. Die Welt war immer woanders. Vielleicht gab es die Welt nicht.

Mittwoch, 28. September 2005

nicht da.

Der Mensch ist nicht da, um schön zu sein.

Der Mensch ist nicht gemacht für die Rolltreppen.

Der Mensch ist nicht da, um Mayonnaise zu essen.

Der Mensch ist nicht gemacht für die Flugzeuge.

Der Mensch ist nicht da, um dagewesen zu sein.

Der Mensch ist nicht gemacht für die Neonröhren.

Der Mensch ist nicht da, um besser zu sein.

Der Mensch ist nicht gemacht für die Menschenmacht.

Der Mensch ist nicht da, um alles zu essen.

Der Mensch ist nicht gemacht für die enge Jeans.

Der Mensch ist nicht da, um sich zu vergnügen.

Der Mensch ist nicht gemacht fürs Paradies.


[als Kieselsteingeräusch hier]

Donnerstag, 22. September 2005

Neuanfang

Nun wird es gut, jetzt sind nur noch wir da, und machen es besser, sagte die Mutter und drückte ein Lächeln hervor. Die Kinder schwiegen dazu, und sie schwiegen auch sonst, blickten zum Fenster. Sie empfingen die Worte, doch sie kannten deren Sinn nicht, hatten ihn nie erlebt.

Und so kamen diese ersten neuen Tage und gingen dahin, erfüllt bloss von Gleichgültigkeit. Niemand mochte sich anstrengen, niemand hatte Ideen, sich zu ändern. Niemand hätte erwogen, dass die Worte vom neuen Anfang wirklich werden könnten; vielleicht kannten sie solche Begriffe längst nur noch als grausame Zynismen. Und allen fehlte die Kraft. Die Mutter versuchte noch, Zuversicht auszustrahlen; sie wollte in den Kindern wecken, was nicht schlief, sondern tot war, oder nie geboren. Sie appellierte und malte Schönes aus, doch nach Wochen und Monaten war dies dünne Vlies plötzlichen Erstaunens, das sich besänftigend auf alle gelegt hatte, voll von aufgerissenen Löchern, durch die wieder die giftigen Dämpfe unverheilter Narben aufstiegen.

Sie hatten sich von der Betäubung der ersten neuen Augenblicke irreführen lassen und bemerkten nicht, dass sie darunter weiterlebten wie vordem. Die Ätzungen und die Verletzungen setzten in alter Schärfe wieder ein, und bald war nichts mehr anders als vorher. Im Haus war es wieder kühl, und heiss wurde es nur im Streit. Dann liess schliesslich auch die Mutter ab von ihrer Hoffnung. Es war zu spät gewesen. Und nun war es nochmals zu spät.

Donnerstag, 15. September 2005

Nachterkenntnis

Und sie sassen da; der Junge neben dem Älteren. Sie blickten in die Nacht und warteten darauf, dass die Wolken ein Loch in sich reissen würden, um die Sterne freizugeben. Dicke Tropfen fielen aus der undichten Dachrinne auf den Tisch, und von da aus flogen sie in die Gesichter weiter. Die beiden Männer rauchten, und der Junge schlang die Arme um die hochgezogenen Beine, weil er zitterte. Er fühlte sich schuldig. Wie grelles Neonlicht, das die schwere Erhabenheit der Nacht zerreisst, schien ihm auf, dass er falsch gelegen hatte. Der Ältere würde bald sterben und litt schwer daran. Doch zur Abwehr lebte er noch fester und bat manchmal darum, dass es nun endlich geschehe. Oder er versuchte, sonst darüber zu lachen, wie über eine Zahnlücke, die man nun einmal hat. Der Jüngere aber warf sich vor, seinen Tod immer gewünscht zu haben, sein halbes Leben lang. Ihm wurde bewusst, dass er seine Meinung zu spät geändert hatte und nichts mehr abzuwenden vermochte. Zu spät war es dazu gekommen, dass sie hier sassen, redeten, von der nahen Zukunft wussten, kein Wort darüber verloren und sich mochten.

nichts neues

Es war das Ende. Was seither geschah, war nicht mehr real, drang nicht mehr in meinen Kopf, war so austauschbar, dass ich es nicht wahrnehmen mochte. Nur einen Kaffee hatte ich trinken wollen, mit zwei oder drei Zigaretten die Zeit verdrücken und dann nachhause gehen. Kaffee hätte ich zuhause auch gehabt, doch ich wollte es noch etwas verzögern, da zu sein. Weil ich aber weder Zeitung noch Buch bei mir hatte, beobachtete ich die Menschen, die um mich herum gingen und an mir vorüber die Buchhandlung hinter meinem Strassencafé besuchten. Und es hätte nicht sein müssen, denn zugleich wäre auch eine äusserst anmutige Dame vor meinem Tisch durchgeschwebt, doch ich blickte ein wenig beschämt zur Seite und haftete mich an einen Jungen mitsamt Mutter, der mit beiden Armen stolz das neugekaufte Kind-ich-erklär-dir-jetzt-mal-die-Welt-Bilderbuch vor der Brust umschlang. Ich musste unwillkürlich an die Studierstube meiner Grosseltern denken, in der ich als Kleiner diese vielbebilderten Bände auf den Knien hielt, die die Welt und ihre Besonderheiten abbilden und beschreiben.

Schon nach wenigen Jahren dieser stetigen Sommerferienlektüre würgte mich die Idee, dass in meiner Zeit alles entdeckt sein würde, jeder Winkel der Erde ausgeforscht, alle natürlichen Elemente isoliert. Es gab nichts mehr zu entdecken, immer war schon einer da gewesen und hatte dies gefunden. Das wirklich Neue, so begriff ich, gab es nur in der Vergangenheit einmal, es gehörte allein ihr. Wir wussten alles, und die letzten paar Dinge, die in den betagten Büchern noch als rätselhaft und ungelöst beschrieben wurden, waren zwischenzeitlich längst entzaubert. Ich spürte die grosse Nutzlosigkeit meines Entdeckerdranges, der meiner Lebzeit stets wühlen würde, wo schon geackert war. Wenigstens eine kleine Insel, so wünschte ich mir, hätte doch auch vom Mond und den Satelliten aus noch unerkannt bleiben können, damit sie auf mich warte. Aber ich wusste, dass es vollkommen aussichtslos war; schon damals, obwohl es da noch nicht einmal GPS und Handys gab. Die Welt, so war ich mir sicher, würde in grösster Langeweile vor sich hin existieren und selber enttäuscht sein darüber, dass sie nicht mehr zu bieten hat.

Lange Zeit, nachdem die anmutige Frau und der Junge mit seiner Mutter an meinem Tisch vorbeigegangen waren, sass ich noch da, als blickte ich auf ein solches Erklärbuch auf meinen Knien. Erst indem ich endlich wieder aufsah, fiel mir auf, dass die Sonne von einer Wolke verhüllt war und die Tische um mich, ja die ganze Strasse, sich geleert hatten. Die Stadt setzte für einen Moment ihr Rauschen aus. Ich nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, um mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Um die Ecke beim geschlossenen Dönerschuppen klang ein Keuchen. Ein zarter, schwacher Gedanke mit dünner Haut schleppte sich hervor, stiess beinahe mit dem verplakatierten Stromkasten zusammen und hielt einen Augenblick lang inne. Er war klein, es musste sich noch um ein Kind handeln, doch das Kind war gezeichnet von seiner Flucht. Es wollte wieder ansetzen, um weiter zu ziehen, als eine kleine Fledermaus es von hinten anflog und in seinen Nacken biss. Sie hakte sich wild flatternd fest und begann laut zu piepsen. Sogleich waren tausend andere dieser Vampire in der Luft und stürzten sich auf den hilflosen, kleinen Frischgedanken, der in sich zusammensank.

Ein Räuchlein stieg noch auf, bevor die Sauger sich trollten. Ich sass stundenlang versteinert da und merkte es nicht. Ohne zu wissen, wie mir geschah, ging ich nachhause und weinte. Mein Kopf war nicht mehr da. Gerade war der allerletzte neue Gedanke gedacht worden.

Montag, 12. September 2005

Glücklich

Es war eine sehr farbige Zeit, alles war intensiv, die Geräusche, die Gefühle, die Gerüche und Gespräche. Wir liefen alle plötzlich mit diesen Dingern herum. Und natürlich haben wir gelacht, manchmal waren wir glücklich. Wir sahen sie ohnehin schon lange nicht mehr, die grauen Betonwände unserer Strassen und Plätze, wir achteten schon lange nicht mehr auf die Schmieren darauf. Aber wenn wir hingesehen, wenn wir die Wände betrachtet hätten, wären wir auch davon noch entzückt gewesen. Wir hörten Musik, wir reisten in fremde Länder, wir feierten ausgelassene Feste, wir fochten wilde Schlachten und lebten die wahre Liebe. Alles mit diesen kleinen Geräten. Es war überwältigend neu, es war hinreissend schön. Wir sogen diese Welt in uns hinein, sie machte uns kreativ und stark, weil unsere Gedanken mit einflossen in das Gerät. Wir verstanden uns alle und machten alles zusammen, wir glaubten an die Möglichkeiten. Das machte uns glücklich. Man konnte sie ja ausschalten, ausstecken und wegsperren, die Apparätchen. Damals. Man konnte sie wegwerfen, man konnte sie verachten, und man konnte auch glauben, es gäbe sie nicht. Damals konnte man ohne diese Dinger über die Strasse gehen, im Kino sitzen, im Park spazieren. Man musste sich noch nicht einmal den Chip einbauen lassen. Man konnte alles ohne die Geräte tun; und bald konnte man alles mit ihnen tun; und dann waren sie in uns. Und natürlich waren wir manchmal glücklich.

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wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
dem gedanken folgen.
sobald ich versuche, alles in mehr oder minder stummes...
moccalover - 19. Nov, 22:36
unternehmensethik.
es ist doch nicht das unternehmen, das ethisch sein...
moccalover - 19. Nov, 22:34
und was das heisse, wenn...
und was das heisse, wenn jemand jemand sei.
moccalover - 19. Nov, 22:33
danke. wenn nur die umsetzung...
danke. wenn nur die umsetzung so einfach wie die erkenntnis...
moccalover - 19. Nov, 22:31
wer das eigentlich sei
wer das eigentlich sei
Reh Volution - 10. Nov, 07:32
da steckt viel wahrheit...
da steckt viel wahrheit drin.
me. (Gast) - 7. Nov, 21:10
danke!
danke!
moccalover - 6. Nov, 00:20
das verbrechen.
Das grösste, das ursprünglichste und verheerendste...
moccalover - 6. Nov, 00:05
nah und fern.
Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
moccalover - 6. Nov, 00:05
selbstbewusst.
selbstbewusstsein heisst nicht, sich überlegen zu fühlen nicht,...
moccalover - 6. Nov, 00:04
die vorstellung und das...
gibt es etwas Schöneres, als etwas unvermittelt zu...
moccalover - 6. Nov, 00:02
um zu
um zu
Reh Volution - 12. Okt, 08:12
um mich herum.
Das Leben. Ein Schlüssel, der mir Haus und Wohnung...
moccalover - 12. Okt, 00:43
Sandwichs.
Du hast jemand, der für dich Sandwichs streicht. Da...
moccalover - 2. Sep, 22:53

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