Sonntag, 9. Oktober 2005

Der Herbst in mir

Ich habe meinen Kopf in den Fahrtwind gesteckt, ich habe meinen Kopf nach dem Himmel gestreckt. Ich habe ihn aufs eiskalte Kissen gelegt, und ich habe ihn von ganz nah in die Glut blasen und sich aufheizen lassen. Ich habe meinen Kopf im Rauschen verloren, und ich habe meinen Kopf an Baumrinde geschmiegt.

Meine Hände habe ich auf Stöcken über Wurzeln geführt, habe sie den kalten Stein spüren lassen. Ich habe sie mit Harz verklebt und mit Erde ausgetrocknet, an rauen Felsen geschunden und im Reif gewaschen. Sie haben nach Käserinde und Trockenfleisch gerochen, und sie haben sich schützend um die Kerzenflamme gelegt, bis die Finger von Wachs umhüllt waren. Meine Hände haben Holz getragen und Scheite gehauen. Meine Hände haben geschlagen und gewütet, bis dass der Kopf sie bemerkte.

Meine Augen haben müde Grillen und Ameisen gesehen, die Kraft in der Herbstsonne suchten. Meine Augen haben stundenlang Bruder Rauch nachgestellt, um zu erhaschen, wie er sich in Schwester Flamme verwandle und mich das Feuer etwas mehr wärme. Zwischen all den leuchtenden Blättern haben meine Augen unentwegt herumgetanzt, sie haben alle Formen abgetastet, die es in der klaren Ferne zu sehen gab.

Mein Herz war mit den Gräsern, die nun gehen, und mit den Büschen, die im nächsten Frühling noch viel prächtiger ausschlagen werden. Ich habe gespürt, wie die Kälte vom Kreuz aus zum Nacken aufstieg, als die Sonne schon längst verschwunden war. Dieser Rest von warmem, duftendem Sommer, der über Mittag jeweils kurz einzog und mehr leuchtete, als ein Sommertag das je gekonnt hätte – dieses Farbfeuerspiel, es war bloss ein süsses Trugbild, das mich einmal mehr berauschte. So wird es mich auch heuer über die Rückkehr der allgegenwärtigen Kälte hinwegtäuschen.

Und ich habe auf der Heimfahrt meinem Kopf ein paar Tränen abgedrückt.

don't

Max haute die Nummer in die zarten Silikontasten, als sollte das die letzte Wahl dieses Geräts gewesen sein. „Geht es dir gut? - Na, das ist ja fabelhaft, mir geht es nämlich gar nicht gut! Was fällt dir bloss ein? Du bist das Letzte, das Niederträchtigste auf Erden. Ich weiss alles, ich hab’s gesehen. Du, du wolltest doch nie was von Computern hören, und jetzt hast du mich auf diese Internetseite gesetzt. Geht bloss nicht mit dem aus, lasst euch nur nicht auf den ein, sagst du da, und tausend andere frustrierte Weiber sagen das da auch. Schön. Danke, dass du an mich denkst. Ich sei beziehungsunfähig, jaja, und ich führte ein Doppelleben, mhm, ich könne Fehler nicht einsehen. Sehr schön, alles wunderbar, du Engelchen; sonne dich weiter in rosafarbenen Pixelwelten voller Selbstgerechtigkeit. Dass niemand fähig sein kann, eine Beziehung mit dir zu führen, das hast du nicht erwähnt. Dass du immer nur dastehst und von deinem Typen Leistung verlangst, das hast du wohl vergessen. Und dass du immer nur dann da warst, wenn’s dir darum war, das ist ja ohnehin ganz irrelevant. Ich fasse es nicht! Du schiebst das jetzt alles auf mich, sehr bequem. Die Dienstleistung des Herren hat Sie nicht befriedigt? Der Herr ist an Ihren berechtigten Erwartungen gescheitert? Rufen Sie uns einfach an bei der Konsumentinnenhilfe, wir erklären Ihnen gern Ihre Rechte und sorgen für die Durchsetzung all Ihrer Rachegelüste. Leck mich, das ist so billig, das hätte ich dir nie zugetraut, dass du mich so dreckig hinstellst, als wärst du blütenrein! Du hast dich gar nie für mich interessiert, du wolltest doch nur einen Schosshund, der nach aussen den einsamen Kampfwolf gibt. Wie hätte ich deine Gefühle verraten können, wenn du meine gar nie sehen wolltest? Nimm das sofort vom Netz und entschuldige dich öffentlich. Und zwar in der Bild, mindestens!“ – „Mein Lieber, immerhin bist du einer der ersten Europäer auf dieser Site! Im Übrigen: Mit dieser Tirade hast du mir den letztgültigen, wenngleich nach allem bereits Geschehenen überflüssigen, Beweis für all das geliefert, was in deinem Profil auf dieser Seite vermerkt ist.“ Max drückte nicht einmal die Aufhängetaste, bevor er das Kabellose mit einem lauten Schrei an die Wand schmiss.

Gras, Hund, Sprengstoff

Arnold hat mir einmal erzählt, dass ein Hund immer wieder ins hohe Gras entfloh und dieses niederdrückte. Der Hund gehörte einem Belgier, der im kleinen Häuschen unter der Strasse in den Ferien war. Im Winter ist hier nichts so wichtig wie vorrätiges Heu, und Arnold ist hier trotz aller Touristen der Chef. Er habe zum Gewehr gegriffen, sei zu der Wiese hin und habe den Hund beim Scheissen erschossen. Der Belgier sei nie wiedergekommen. Arnold schmunzelt.

Arnold hat mir auch schon Wein und Käse geschenkt. Wenn er plötzlich in der Stube steht, war er immer schon da, und er blinzelt einem zu. Mit Arnold kann man nicht über die Grenzen von Grundstücken sprechen. Arnold verkauft ab und an wieder ein Stück Weideland, das ist seine Vorsorge. Manchmal muss ich von seinen Zigaretten rauchen, weil sein Angebot in Wahrheit nicht die Zigaretten betrifft. Meist sprechen wir übers Wetter; in seinem Rückblick war es immer zu schlecht. Ich versichere ihm dafür immer, dass mir jedes Wetter recht sei, solange ich hier sein könne.

Und letzthin nahm er mich wieder zur Seite, schüttelte das papierene Zigarettenpaket in seiner Hand, bis ein Filter hinausragte, und streckte den Arm zu mir: „Hör zu, sei leise. Der Wirt vom Hotel da drüben, der hat am letzten Dienstag meine Frau bedroht. Ich war unten in der Stadt, hatte noch zu erledigen, und ich habe sie hier oben gelassen. Er ist sturzbetrunken auf dem Parkplatz in ihr Auto gefahren, dann ist er zu unserem Haus hochgestürmt, hat gegen die Türe geschlagen und getreten und sie eine Hure geschimpft. Immer wieder. Meine Frau, du weisst ja, sie ist depressiv und isst zu viel, wegen unserem Jungen, du weisst ja, sie hat sich im Klo eingeschlossen, sie war nur noch ein Bündel Elend. Er werde Sprengstoff holen, wolle die ganze Hütte in die Luft jagen. Natürlich habe ich die Polizei gerufen, und die sind gekommen, und sie waren ungefähr eine Stunde lang bei ihm da drüben. Sag mir, dass ich recht tat, indem ich ihn anzeigte, sag doch?“

man müsste

Das ist doch ein Witz, dieses Gegeneinander, wir Menschen lassen uns gegeneinander ausspielen wie die Oberblöden. Man müsste einfach eine Weltregierung einrichten und diese Halunken in die Schranken weisen, die ihre Leute verarschen, mit Waffen handeln, keine Steuern zahlen, mit viel Geld um den Globus jagen, nie lange bleiben und doch alle Ratten fangen, sagte der Mann zu mir, der mit mir an der Theke vom Bahnhofsbuffet sass und sein Bier in kleinen, hastigen Schlücken trank.

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wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
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moccalover - 19. Nov, 22:36
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es ist doch nicht das unternehmen, das ethisch sein...
moccalover - 19. Nov, 22:34
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moccalover - 19. Nov, 22:33
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danke. wenn nur die umsetzung so einfach wie die erkenntnis...
moccalover - 19. Nov, 22:31
wer das eigentlich sei
wer das eigentlich sei
Reh Volution - 10. Nov, 07:32
da steckt viel wahrheit...
da steckt viel wahrheit drin.
me. (Gast) - 7. Nov, 21:10
danke!
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moccalover - 6. Nov, 00:20
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moccalover - 6. Nov, 00:05
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Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
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Reh Volution - 12. Okt, 08:12
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