Aussage

Der Polizist: Brauner Bart, leicht getönte, grosse Lehrerbrille mit Metallrand. Ein einziges die-Lampe-füllen. Die Fasnacht musste einfach eingeführt werden, die Politiker haben das gemacht. Vor sechs Jahren. Das gab’s hier früher nicht.

Der Polizist: Blaues Hemd, Epauletten mit Strich und Stern, Handschellen im schwarzen Etui aus dem Nylonstoff, aus dem man Wanderrucksäcke macht. Am Anfang: Verseschmiede, Kostümvereine, Musikgruppen, alles weg, verkümmert, nach zwei Jahren schon. Nur saufen, nur dafür, nur deswegen, nur das. Dann morgens um vier, Sie müssen das sehen. Das Bahnhöfli. Natürlich kennen Sie das Bahnhöfli nicht. Nur Lumpenpack. Siffköpfe, Junkies, Verlauste.

Der Polizist: Vorsichtig verschränkte Arme. Der obere nur aufgelegt, gestikulierend. Drei Viertel schliefen. Wer noch konnte, wollte nicht sprechen. Nur der Türsteher. Es hat mich später auch beschäftigt. Alles voller Glas. Bier. Blut. Ein Unfall unter Verrückten. Nüchtern: Wirt und Türsteher. Der Wirt hatte in der Küche gearbeitet. Ich glaubte dem Türsteher.

Der Polizist: Müde Augen, traurige Augen, Vatergesicht. Ein Unfall von der Bewusstseinslosigkeit durch eine Glasscheibe in die Bewusstlosigkeit. Niemand wollte mit uns sprechen. Kleinstadt. Nur Anarchisten oder Rasierte; Ausländer. Niemand will mit uns sprechen. Barfestivals. Pubevents. In jedem Club. Nur Drogen, saufen, Drogen. Kaputtmachen, wegmachen. Und schweigen uns an. Fahren betrunken nachhause. Zu zweit reicht eine Nacht für fünf Blutproben.

Der Polizist: Glänzende Plastikpyramidchen auf den Griffschalen der Pistole. Fester Stand. In Bern ist alles noch viel schlimmer. Bern ist voller Dealer. Achtundzwanzig Jahre Landjäger. Ewiger Niedergang und Verfall. Hundertvier Sprachen in Biel. Jede Sprache ein anderes Anstandsgefühl. Aber die wirklich grossen Dinge, die dahinter. Wer soll das tun.

Der Polizist: Wenn Sie wüssten, was die Fahnder wissen. Drogen, Waffen, Menschen. Überall illegal. Die grossen Arschlöcher.

Der Polizist: Seit Sokrates sagen die Leute immer, alles strebe zu Grunde. Vielleicht ist es nicht so tragisch, vielleicht geht es uns gut. Der Polizist: Wenn man das kennt, die Verrückten sieht, das Pack sieht, dann versteht man. Ich habe dem Türsteher geglaubt. Schrecklich. Er klang glaubwürdig.
Morgaine (Gast) - 16. Aug, 23:50

Welcher Blickwinkel? Welche Szene? Die Drogen im Club, drinnen die Ausländer, Anarchisten und Rasierten, draußen die Türsteher? Wo spielt das? In Bahnhof-Nähe? Reimt sich das Wort Ausländer so schön auf das Wort Anarchist? Tragen die Anarchisten T-Shirts mit dem Aufdruck "Ich bin Anarchist" oder einen Stempel auf der Stirn? Oder ist das die bessere Gegend von Bern? Die Gegend der gestylten Drogendealer und ihrer gestylten Junkies? Haben die Klos in Bern andere Besucher als die Klos der Szene-Clubs in Köln? Werber, Bankangestellte, Studenten, Ausländer und viel bunte Schickeria.

moccalover - 17. Aug, 00:37

Dass Sie mir diese Fragen stellen, sollte mich beunruhigen. Aber es freut mich! Und auch, dass Sie vorbeischauen.

Vielleicht bin ich zu weit gegangen, etwas zu unbekannt noch, um solches auszubreiten. Ich will mit diesem Text überhaupt keine politische bzw. gesellschaftliche Meinung propagieren. Ich will nicht mit dem Polizisten und seinen Äusserungen sympathisieren, aber ich will ihn auch nicht ablehnen.

Ich wollte nur in literarischer Form, die sich nicht weiter erklärt, die Stimmung wiedergeben, die sich in mir als Essenz eines Gesprächs einnistete. Ich war mit dem Polizisten für eine bestimmte Zeit in einem Raum und hatte mir das nicht ausgesucht. Die Begebenheiten der Geschichte, die der Polizist mir erzählt hat, sind kaum nachvollziehbar im Text, aber das wollte ich nicht, und das brauchte der Text auch nicht. Nur soviel hätte ich vielleicht nicht verschweigen sollen:

Das Milieu kann nicht so grossstädtisch klar eingeordnet werden, es geht um einen Vorfall am Fasching. In einer Kleinstadt, im heruntergekommensten Restaurant der Stadt, im einzigen, wo der Zutritt nicht von Geld und schöner Kleidung abhängt. Ein Schwerverletzter ging da, morgens um vier, sogar bei der Polizei als "verunfallt" durch.

Dieser Gedanke, die tägliche Abscheu und Gleichgültigkeit gegenüber bestimmten Mitmenschen, die aus den Worten des Polizisten sprach, hat mich verstört, traurig gemacht. Es geht mir nicht darum, irgendein Milieu schlechtzureden oder die Gleichgültigkeit des Polizisten gutzuheissen; ganz im Gegenteil. Ich wollte zeigen, wie die Justiz unterschiedlich funktioniert je nachdem, wen’s trifft. Ich weiss, dass in meinem Text nichts von meinem Mitgefühl durchscheint; das ist unüblich, aber das war für mich eine Möglichkeit der Verarbeitung.

Ich glaube auch, dass man den Texten anmerkt, inwiefern sie sachlich-politisch und wann literarisch ausgerichtet sind. Ich könnte schon einfach schreiben, ich bin geschockt, was dieser Faschist denkt und sagt. Aber die Ablehnung dieser Haltung steht für mich nicht im Zentrum. Vielleicht ist sie für mich zu klar (und in diesem Blog eben noch zu wenig klargeworden). Mich interessiert die Folgefrage auf die Feststellung, dass jemand für mich so inakzeptabel denkt. Ich frage mich, wie es dazu kommt. Und da genügen mir die klassischen, bspw. sozialistischen, Verschwörungstheorien von der Verdummung der Masse durch irgendwen eben nicht ganz, auch wenn da was dran ist.

So frage ich mich, wie es dazu kommt, dass dieser Polizist so denkt, und was ändern müsste, dass er nicht mehr so denken würde. Ein Mittel auf dieser Suche ist für mich der Text hier. Natürlich erklärt er nichts; dafür würde ich eine Abhandlung schreiben. Aber er sollte mir selber einen Eindruck davon vermitteln, was und wie der andere Mensch eigentlich wahrnimmt, dessen Meinung ich als so konträr zur meinigen empfinde. Ich wollte mich hineinfühlen, ohne das emotional oder in irgendeiner Weise mitfühlend zu verstehen. Das hilft vielleicht dem Verständnis, wie es dazu kommt.

Entschuldigen Sie, dass das so lang geworden ist, aber ich sah, dass es hier ausnahmsweise nicht ohne längere Erklärungen geht. Ich bin gespannt auf Ihre Meinung.
Morgaine - 17. Aug, 17:09

Kleiner Nachtrag:
Nicht nur Anarchist und Ausländer hören sich hübsch an, wie ich gerade lese: Mit der Post kam wieder eine Ladung Bücher: "Isländischer Anarchist" ist doch auch eine nette Assoziation.

Gesehen auf S. 20 bei Henryk M.Broder, Der ewige Antisemit, BvT Berlin, Neuauflage Juli 2005
moccalover - 17. Aug, 20:14

Von dem Buch habe ich, glaube ich, den Vorabdruck zur Erstauflage im Spiegel gelesen. Broder polarisiert und polemisiert, ich lese aber manchmal gerne Dinge, die mich aufregen. Wird in dem Buch nicht die These vertreten, dass der wahre Antisemitismus im Anti-Antisemitismus zu finden sei? Oder habe ich das komplett falsch in Erinnerung? Würden Sie mir das Buch empfehlen? Beim isländischen Anarchisten muss ich natürlich an die grönländische Eiswürfelmafia denken...

P.S. Wie Sie sehen konnten, ist auch meine Haut nicht die des Elephanten. Wir werden's schon schaffen!
Morgaine (Gast) - 18. Aug, 00:08

Ich antworte Ihnen dann, wenn ich es zu Ende gelesen habe. Ich hatte heute nur wieder diesen Aha-Effekt bereits auf den ersten Seiten und konnte einfach nicht an mich halten ...

Ja, es könnte durchaus sein, dass wir es schaffen.
moccalover - 18. Aug, 00:13

Bitte erzählen Sie mir dann vom Aha-Effekt, dann werde ich Sie besser verstehen! Und ich freue mich auf die Antwort.
sravana - 17. Aug, 12:18

traurige, nachdenkliche Geschichte

immer mehr Menschen, nehmen Drogen. Ich denke es liegt an unserer Zeit.
Der Druck unserer Gesellschaft, die schlechte Wirtschaftslage, die Hektik und das, von vielen oberflächlichen Leben ohne Famileinzusammenhang, sind einige der Auslöser dazu. Meine Mutter hat ein Zimmer an einen Jungen vermietet, nun hat sie den Eindruck, dass er Drogen nimmt.
"Er muss wieder raus!" sagt sie. Ich bin jedoch der Ansicht, dass auch er einen Anspruch auf eine Unterkunft hat und solange es nicht ausartet, man ihm dies ermöglichen sollte. Mal sehen, ob ich sie davon überzeugen kann.

moccalover - 17. Aug, 13:34

Drogen sind Ersatzglück, Ersatzkraft, Ersatzsamt, Ersatzplüsch. Sie sind Rebellion gegen die Langeweile, Rebellion gegen den Leistungsdruck. Gewisse Modedrogen (XTC, Kokain) sind dann aber eher Ausdruck eines Glaubens an die chemische Machbarkeit von Souveränität und guter Laune (funktioniert ja auch, zuerst).

Es berührt und freut mich sehr, dass Du Dich für den Jungen einsetzen willst. Darin möchte ich Dich bestärken. Ich kenne die Geschichte nicht näher (vielleicht schreibst Du mal darüber), aber wenn Deine Mutter die blosse Tatsache stört, dass er (vielleicht!) Drogen nimmt, dann finde ich das auch übertrieben. Sie könnte, wenn das geht, ja mal reden mit ihm. Sie kann ihm ruhig sagen, dass sie Drogen ablehnt, wenn sie das so ist, geht das in Ordnung. Nur sollte sie meiner Meinung nach deswegen nicht ihn als Person ablehnen. Das ist etwas ganz anderes. Drogen schlecht zu finden oder Drogenkonsumenten für schlechte (oder verabscheuungswürdige etc.) Menschen zu halten. Das eine geht, das andere nicht. Und: Ihn rauszuschmeissen, ist wohl das letzte, was ihn von den Drogen wegbringen wird.

Darauf wollte ich mit dem Polizistentext ja auch zeigen: Dass so viele Menschen (das betrifft nun mal wirklich jeden manchmal) sehr schnell urteilen und der Einfachheit halber bestimmte Menschen zum Vornherein ablehnen. Das ist auch ein Schutzmechanismus, weil der bei manchen Drogensüchtigen zu beobachtende Niedergang ängstigt. Wieviel dieser mit den Drogen an sich zu tun hat, ist dann eine andere Frage. Wenn man versucht, sich vorzustellen, wie das ist, diese Ablehnung täglich intensivst zu erleben, dann muss man merken, dass genau diese zum Niedergang auch kräftig beiträgt. Wir Normalos sind ja schon deprimiert, wenn der Chef uns mal schief ansieht...

(Und, ja, das geht wirklich nur, solange es nicht ausartet, wie Du sagst. Harte Drogen können tatsächlich zu Problemen führen, mit denen dann weder er noch Deine Mutter noch zu Rande kämen, und das wäre für sie nicht tolerierbar.)
sravana - 17. Aug, 18:53

Meine Mutter ist bereits 94 und ich verstehe ihr Unverständnis,
aus diesem Grund habe ich versucht sie umzustimmen.
Meine Schwester wohnt im selben Haus und sie hat ihm nun,
zu meinem entsetzen, im Zimmer das Rauchen verboten.
(ich bin eine starke Raucherin) Die Diskriminierungen aller Art nehmen
bald überall immer mehr zu.

PS. Das Zimmer ist in einer 3 Z Wohnung und eine Art Wohngemeinschaft, von den Mitbewohnern hat sich noch niemand beschwert.
moccalover - 17. Aug, 20:19

94 Jahre, das erklärt dann doch einiges. Dann ist sie in einer Zeit aufgewachsen, in der es höchstens Alkoholiker gab als Drogensüchtige. Jetzt verstehe ich besser. Sie empfindet ihn bzw. seinen geglaubten Konsum als Bedrohung.

Naja, ich wäre auch todunglücklich, könnte ich hier in meiner Wohnung nicht mehr rauchen. Ich finde das ein wenig hart, aber es lässt sich eben dadurch rechtfertigen, dass der Rauch die Wände beschlägt, so dass die Wohnung früher neu gestrichen werden muss. Finde ich nicht so schlimm, aber es gibt dem Vermieter eben das Recht, das Rauchen zu verbieten. Ich werde mal übers Rauchen schreiben müssen.
nah - 18. Aug, 09:30

Oh ja, ein Text übers Rauchen, das wäre interessant.

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