Naechtlichtaeglich

Donnerstag, 15. September 2005

über den Dächern und ausserhalb der Zeiten

Drunten brummen die Busse beim Anfahren. Die warme Abendluft über der Strasse zittert, wenn die Motoren sich vorwärtsfressen, und mit ihr zittert die ganze kleine Welt in meinem Blickfeld. Wenn jede Welt ihre Unterwelt hat, dann hat diese Stadt hier ihre Unterstadt. Das ist kein Platz, an dem man bleiben möchte. Hier kommt man weder her noch hin, hier geht man durch, hier fährt man durch, hier wird man durchgeschleust oder rundherumgeführt. Hier ist ausschliesslich, wer muss. Wer auf Reisebusse wartet oder diesen Strassenelefanten gerade entsteigt; wer auf den Fahrlehrer wartet, dessen Geschäft in der Baracke unter der Eisenbahnbrücke steht; wer sich für Demonstrationen versammelt oder von solchen hierhergetrieben wurde; wer auf Kundschaft wartet, die im Dunkeln sucht; wer woanders keinen Platz hat, wer nicht sein darf und wer für sich nirgends Freiraum sieht. Alles hier steht im Dienste der schönen Stadt, ist Reserveraum, Abschieberaum, Stauraum, Lagerstätte, Pufferzone, Durchgangsbereich. Strassen, Schienen und Parkplätze; Farben scheinen einzig in Graffitis auf. Nichts ist für hier gedacht, nichts wurde für hier gemacht. Alles hier ist bloss eine Folge; von anderen Menschen, anderen Dingen, an anderen Orten. Dieser Platz lebt gewiss, doch es ist nur der nackteste Zufall, der dies Leben auf der Resthalde der Welt noch gebiert. Neben dem Verkehr, der zu den Örtlichkeiten, die er durchquert, ein autistisches Verhältnis pflegt und alles Ruhende als tot behandelt, wird der wenige Platz von den Pannen und Pathologien, von den Skurrilitäten und Einöden des Alltags beherrscht. Reisende und Berauschte stranden hier, Radfahrerinnen stehen im Regen vor der Ampel, und gewesene Konzertbesucher setzen sich hin, trinken Bier und zerschlagen mit Strassenschwemmsteinen moderne Leuchtplakatplexiglasscheiben.

Weit über alldem sitze ich, und blicke über den Fluss auf einen Ahornbaum, der seinen hellen Stamm in der Abendsonne bräunt. Doch der Platz erfüllt und fesselt wieder meinen Blick, ich kann ihn nicht abwenden. Meine Augen melden Flimmern und schwarze Punkte, die umherhüpfen, weil ich nicht mehr blinzle. Wo ist dieser Baum, wo bin ich? Wo soll es hin? Septemberzweitausendfünf – gerade an dieses Datum hätte ich nie gedacht, als sich meine Welt einrichtete, als das Jahr 2000 noch Metapher war. Wo bin ich, warum spüre ich das Morgen tausendfach stärker als das Heute? Wo ist dies flatterige Vielleicht und Als-ob meiner Kindheit, das unbeschwerte Besehen, Lavieren und Richten meiner Jugend? Damals konnte das Leben alles sein. Wo ist sie, die Geborgenheit in der Zeit, deren Ablauf ich herbeiwünschte, weil er die Freiheit versprach? Die klare Dauer, die es durchzustehen galt, und während der alles nur auf Probe war? Heute, in der Freiheit, wird die Zeit zum Drucke. Heute gibt es kein Möglicherweise mehr, keine Ruhe mehr im Provisorium; es gilt ernst. Doch in greifbarer Nähe lösen Traumbilder sich umgehend auf.

In der Zufälligkeit und in der Unrast dieses Platzes verfliesse ich mich und werde hingespült. Hier werde ich heute bleiben. Die Unbestimmtheit darf noch andauern. Vielleicht wird Ruhe sich einstellen.

Dienstag, 6. September 2005

Sommerduft an den Fingerkuppen

...in den Gärten und den öffentlichen Töpfen, überall blüht jetzt der Lavendel, eine Blüte findet zwischen meine Finger, wird abgerissen, wird mitgenommen; ich klaube die einzelnen Blütenköpfchen während meiner Arbeit ab und zerreibe sie zwischen den Fingern, die den Duft zu meiner Nase tragen...

Montag, 29. August 2005

Stampfenbachplatz

Stampfenbachplatz, dröhnt die Frauenstimme metallisch durch den überforderten Lautsprecher. Wie immer in dieser Stadt, hebt sich die Stimme der Haltestellenansagerin am Ende des Ortsnamens leicht an und klingt so ein wenig hochnäsig. Kurz vor der Haltestelle bremst das Tram abrupt seine ohnehin schleppende Fahrt über die wegen den Bauarbeiten ausgehöhlten Schienen. Nun ist auch das bisschen Fahrtwind weg. Die kleinen Kippfenster sind geöffnet, aber es kommt kein Luftzug herein, weil es keinen Luftzug gibt. Nur die Hitze schleicht von den Metallplatten und den Schienen am Boden langsam durch die Fensterspalten. Drinnen drückt die Luft auf meinen Kopf, als wäre der Raum ein Überdruckbehälter. Meine Sinne sind verlangsamt, gelähmt; fiebrig blicke ich hin und her, warte auf die Weiterfahrt.

Ich bin zu Gast in Zürich, der einzigen Stadt der Schweiz, die sich dem Grundsatz nach unter den Weltstädten einreiht. Ich bin auf dem Weg zu einem langen Abend, alleine mit einem alten Freund. Wir werden die Nacht in der Küche versitzen, und ich werde beim Gespräch ab und an am Weinglas nippen, durch den Hof hindurch zu den noch beleuchteten Wohnungen und dann höher, zum Himmel blicken, die Skybeamer sehen und fühlen, dass es in dieser Stadt alles gibt, dass nichts stillsteht und alles flackert, und dass darum mein zweisamer Aufenthalt hier veredelt wird. Weil ich durch meine Nähe zu alledem teilhabe am Grossen der Welt, ganz gleichgültig, welchen Teil dieser lebenden Nachtstadt ich verkörpere.

Offenbar haben sich die Autos im Stau verkeilt, und die Schienen vor uns bleiben besetzt. „Muflifrau, Muflifrau!“ – Ich kann den Kleinen hinter mir nicht sehen, aber er muss der Stimme nach ungefähr drei sein. Offenbar tippt er mit dem Finger gegen die Scheibe und zeigt nach draussen. Sein Vater – auch das erahne ich an der vertrauten und eingespielten Stimmlage - korrigiert ihn: „Muslimfrau heisst das. Muslimfrau! Mit ESS!“ Ich versteife mich ein wenig, wie ich das immer tue, wenn ich angestrengt und doch unauffällig Gespräche mitzuhorchen versuche. „Da, Muslimfrau“, ruft der Bub wieder. „Nein, das ist keine Muslimfrau. Schau, Luca, das ist ein Hut, kein Kopftuch! … Warte mal, da drüben, da ist eine Muslimfrau. Da, sie überquert gerade den Fussgängerstreifen.“ – „Da auch Muslimfrau, und da auch!“ „Ja, genau, jetzt hast du’s erfasst. … Da auch, und da, und da. Hmm, überall…“.

Das Tram fährt endlich an, erreicht bald die Haltestelle und öffnet seine Türen. Draussen ist die Luft fast genauso heiss. Aber ein bisschen weniger stickig, immerhin.

Freitag, 26. August 2005

Bauarbeiten

Vor dem Fenster wird seit einer ganzen Woche der Parkplatz neu gestaltet; ein Baum wurde gefällt, ein Mäuerchen versetzt. Die lauten Arbeiten mit den Maschinen sind schon vorüber, zwei Männer decken noch die letzten Flecken zu. Der junge holt mit der Schubkarre dampfende Teermischung mit süsslichem Geruch, die aus der Öffnung des Kipplastwagens fliesst, leert die Füllung auf die nackte Erde, und der ältere verteilt die Masse mit einem zahnlosen Rechen zu einer gleichmässigen Fläche. Hin und her, hin und her. Am Mittag wird der Platz glänzen.

Auch ich gestalte. Ich versuche, mit der Machete meiner Argumente einen Weg durch das Dickicht eines der tropischen Wildnis gleichen Sachverhaltes zu schlagen und diesen wuchernden Wald in ein hübsches Gärtlein mit festen Wegen zu verwandeln. Ich mühe mich, einladende Lustpavillons aus hölzernen Rechtsinstituten zu zimmern, in denen die Nebelschwaden der suggestiven Überzeugungskraft lauern.

Doch die Schärfe meines Messers hat sich in der Woche abgewetzt. Mein Asphalt der Gedanken ist erkaltet und fliesst nur mehr zäh und unwillkürlich; meine Betonmischung wird nicht halten, zu dick die Steine, zu wenig Zement. Ganz kurz frage ich mich, ob ich gerne mit den beiden Männern tauschen und den Vorplatz teeren möchte.

Dienstag, 23. August 2005

nicht mehr lange

Der Zug steht immer schon da, wenn ich zum Geleise komme, er wartet lange und geduldig auf seine Pendlerschäfchen. Er lässt sich nie hetzen, er hat Stolz und Eleganz. Er gehörte in den Siebzigern zur ersten Serie der neuen Städteschnellzüge – wie die Intercitys damals hiessen. Seine angewinkelten Seitenwände blieben unerreicht, seine automatischen Schiebetüren sind Legende. Heute jedoch darf er nur noch auf den hinteren Bahnsteigen verkehren, er ist nur noch ein Schatten seiner ehemaligen Grösse und verbringt zwischen der grossen Stadt und ein paar Provinznestern den bitteren Herbst einer langen Karriere. Die Teppiche riechen unangenehm nach tausend Regen und Hunden, die ehedem edlen Sitzpolster sind von schwarzen Schweissspuren unzähliger Sommerpassagiere gezeichnet, und die Schiebetüren haben in letzter Zeit auch schon Kinder eingeklemmt, weil ihre Sensoren unwillkürlich erblinden können. Über den Sitzen sind Kartonreklamen aufgehängt worden, die verheissen: „Bald wird auch dieser Wagen renoviert sein!“

Jeweils eine halbe Stunde habe ich nun zweimal täglich in diesem Zug verbracht; einmal morgens und einmal abends, und jedes einzelne Mal genoss ich die Fahrt. Es mochte am Sommer liegen, an der Zeit, die mir zum Lesen oder Schlafen geschenkt war, oder an der sanften Hügellandschaft, die ich mit meinem Zug durchschoss. Vielleicht auch am Platz, den ich auf dieser schwach benutzten Linie zur Verfügung hatte. Es konnten auch die immer gleichen Wenigen, die mit mir fuhren, gewesen sein. Bald waren sie mir vertraut, und nun erzählten mir die kleinsten Veränderungen ihrer Gesichter Geschichten.

Da, wo ich jeden Morgen hinfuhr, hatte ich niemals dazugehört. Ich wuchs auf dem Land und unter seinen Menschen wie ein Fremder auf. Einer allerdings, der gerne dazugehört hätte, der das Land schätzt und dessen Leute doch nicht aushält. Einer, der immer wieder hingeht und schnuppert, weil er auch in der Stadt keine Heimat fand.

Heute jedoch war kein Zug da, er fuhr verspätet und auf einem anderen Bahnsteig. Noch stärker als sonst dünsteten die Teppiche, Polster und Metalllehnen den Geruch geheizter Feuchtigkeit. Im Eingangsbereich rann Wasser vom Fenster hinunter und dann hinüber in die Ecke beim Abfallkorb; auf seinem Lauf überpinselte das Rinnsal dabei nasse Schuhabdrücke. Ich setzte mich gleich zum Eingang.

Draussen vor dem Bahnhof war es gar nicht hell, und auch nicht weiter draussen, als der Zug durch die Industrie in die Landschaft hinausfuhr. Durch die angelaufene Scheibe, auf der sich Regentropfen und Wasserströme wild zuckend schräg nach unten bewegten, sah ich nur Grau. Es regnete nicht - der Regen hatte sich die Welt geklammert und zutiefst in seiner Hand begraben. Seit zwei Tagen schon liess er sie nicht mehr los, verdeckte alles Licht und alles Warme, überdeckte sie mit seinen unendlichen Vorräten an Wasser. Alles war eingehüllt in die peitschenden Wolken, abgeschnitten vom nächstgelegenen Ort schon, und ich sah nichts von der Landschaft, die mich jeden Morgen so gefreut hatte.

Ich sah nur ertrunkene Felder, düstere Lachen auf den Strassen, um sich schlagende Wellen in früher so ruhigen Bächlein. Ich sah reissende Flüsse von milchkaffeebrauner Brühe, die Äste und Stämme mit sich führten und damit spielten. Die Höhen der Hügel waren weit oben in den Wolken, und wo noch ein wenig vom Wald zu sehen war, da trug er Nebelfetzen in seinen Spitzen wie Watte in Bartstoppeln. Der Himmel drückte auf die Welt herunter, nahm sie mit, in sein grausames Spiel, liess die Hänge in Schlamm zergehen und riss die Erde herunter. Hellbraun floss alles herunter, zu Tale, mal zähflüssig, wie das durchnässte Erdreich, und mal entfesselt, wie die übermütigen Bäche.

Da, wo ich sonst auf das grosse Tal hinunterblicken konnte, auf den absurden Hügelzug, der das Tal mit der Form einer kauernden Ente zweiteilte und meist stoisch im Nebel lag, da waren jetzt bloss Wolken, die noch mehr Wasser an die Zugswand schlugen. Ich mochte den Regen, seine Gewalt; aber ich fürchtete seine Taten, die ich sah. Alles floss zu Tale. Auch mein Bild, das sich in den vergangenen Monaten von der schönen Sicht gerne hatte bestechen lassen.

Eine starke Verunsicherung beschlich mich, und sie erwuchs rasch zu einem schwermütigen Drang zur Flucht, als ich den Bahnhofplatz betrat und meinen Weg zum Büro einschlug. Zwischen den stolzen Holzhäusern, deren Blumengestecke im Grau untergingen, flackerten Blaulichter, Schläuche lagen herum, Menschen gingen hin und her. Es war Tag und doch dunkel. Nirgendwo ein Licht, das Gewalt gehabt, das sich durchgesetzt hätte. Alles kam nun herunter, weggewaschen vom Unwetter, und ich wusste, dass ich fremd geblieben war. Ein Gast, ein Gast nur.

Und plötzlich durchquerte der Gedanke meinen Kopf, nicht mehr lange werde ich hier sein, bald ist die Zeit um.

Samstag, 20. August 2005

Unpassend

„Das ist jetzt vielleicht unpassend … darf ich dich etwas ganz Persönliches fragen? … ich meine, ich würde ja nicht, das passt ja gar nicht zu mir, du kennst mich ja … aber ich kenne niemand ausser dir, der sich mit sowas auskennen würde … hast du auch manchmal diesen Schreibstau? Die Finger verkrampft in der Bewegungslosigkeit, der Kopf ein einziger trockener Klumpen, das Gehirn verkantet zwischen den Schädelknochen? Wenn nichts kommt, und die Gegenstände nicht mehr sprechen? Ich weiss, ich weiss, wie dumm von mir, du hast das wohl nicht, du bist immer so zwanglos. Ich dachte nur …“ – „Du hast keinen Stau und keine Blockade, du magst nur deine Gedanken nicht leiden. Komm, gehen wir, die Ampel ist grün.“

Montag, 15. August 2005

einmal draussen

Graues Regenwetter, Kälte, Müdigkeit, da tröstet mich wenigstens, dass ich nicht im geringsten ein schlechtes Gewissen zu haben brauche, nicht hinaus zu gehen, nicht einen Schritt, nicht eine Nase voll. Doch das weckt Unrast, und am Abend, als die Wolken sich am einen Ort teilen und am anderen Ende des Himmels zu schwarzen Wänden zusammenrotteten, als die Blitze mich von der Ferne her aufscheuchten, als dann Platzregen einsetzte und bis auf meinen Boden spritzte, da war es klar, ganz ohne war unmöglich. In der Badehose, auf der Terasse draussen, dem Wind und dem eigenen Zittern getrotzt, den Regen gespürt, den Zügen vor dem Horizont gewinkt und, die Lichtspiele bewundert, die Arme verschränkt, die Oberschenkel gerieben, schliesslich hinunter, in die Dusche. Ein bisschen Sonne aus dem Boiler.

Samstag, 13. August 2005

Gartenschlauch

Das Wetter wollte nicht so recht heute, "aber morgen will er wieder besser, ich habe's im Meteo gesehen", sagt die Frau an der Kasse, der ganze Kühlschrankinhalt der nächsten Woche liegt stellvertretend für meinen Willen, diese Woche zu überleben, auf dem schwarzen Laufband, das die Waren unentwegt nach unten drückt, obschon sie schon lange aneinander festgestossen sind, Mehl klebt auf dem Band, weil das Fensterchen der Brottüte fein perforiert ist, und ich schleppe drei gefüllte Taschen nach oben, ans Licht, mache meine Hand frei und werfe die bereitgehaltenen zwei Franken in die hingestreckte Baseballmütze, gehe die Strasse hinunter, erneuere immer wieder den Griff meiner Hände an den Taschen, weil die so schwer sind, gehe durch den Hof und treffe im Korridor Rob, der den Gartenschlauch bereitmacht, ich stelle die Taschen hin und spreche mit ihm, jemand hat des Nachts vor die Hintertüre in den Hof gekotet, ein respektabler Haufen, und Rob muss es wegwischen, er verflucht die Junkies und riecht nach Alkohol, wir lächeln beim Auseinandergehen und wünschen uns ein schönes Wochenende; Rob hat's nicht leicht.

Frau, ansprechend

Heute ist mir widerfahren, was auf dieser Welt selten genug passiert. Eine Frau hat sich draussen vor dem Restaurant mir gegenüber an den Tisch gesetzt. Und sie hat bald begonnen, mit mir ein Gespräch zu führen. Jedenfalls, mich auszufragen, denn ich war zunächst noch in meine Arbeit versunken. Sie war ein bisschen extrovertiert - mitteilsam, weil sie gerade aus der schriftlichen Abschlussprüfung einer PR-Ausbildung kam. Als ihre Freundin mit den zwei Gläsern Prosecco von der Theke nach draussen kam, war der Spuk vorbei, ich war nicht mehr interessant, konnte mich noch ein bisschen konzentrieren, und kurz darauf ging ich.

Das erinnerte mich an einen Abend im letzten Sommer, als ich Ähnliches erlebte. Ich sass auch draussen, trank auch doppelten Espresso, nur damals schaute ich den Leuten nach, die sich zwischen den Tischen des Restaurants und den Marktständen mit Plüschtieren, Handmachschmuck und Jägerhüten drängten. Auf einmal stand eine hübsche Frau vor meinem Tisch und fragte etwas scheu, ob sie sich zu mir setzen dürfe. Sie war etwa acht Jahre älter als ich, und darum erstaunte mich das Ganze noch mehr als wegen des Umstands, dass ich fest glaubte, dass weiter hinter mir noch mindestens ein Tisch frei sein müsste. Frauen in ihrem Alter haben mit Männern aus meinem Alter nichts zu tun, sie haben entweder den Mann fürs Leben, das erste oder zweite Kind, oder sie haben das gerade hinter sich und suchen sich selber - weit weg von Leuten wie mir.

Ich hatte kaum zwei Zeitungsartikel überflogen (das Zeitunglesen schien mir unverfänglicher, als wenn sie mich beim Studium der Passanten beobachtet hätte), da sprach sie mich mit einem fragenden Lächeln an, und es entwickelte sich ein wunderbares Gespräch über den Markt, die Demonstration, die dahinter durchzog und sie am Weitergehen hinderte, und über das heutige Gemüseangebot in den verschiedenen Läden (Steinpilze kriegen Sie nur noch bei Globus, alles andere ist leergekauft). Fast vergass ich mein Erstaunen über diese für mich nicht ganz einsichtige Situation. Man denkt ja schnell daran, dass man eine oder einen von diesen übermässig leutseeligen, aufdringlichen Menschen getroffen hat, die hinterher nicht einmal wüssten, wie man ausgesehen hat. Oder die in völligem Aussetzen jeglicher sozialer Hemmung sich an einen klammern, ohne dass man sich einander schon vorgestellt hätte. Diese Dame aber war ein Genuss; sie war gebildet, stellte interessante Fragen und blieb doch äusserst diskret und zurückhaltend. Dazu konnte ich bei einer gelegentlichen Betrachtung auch feststellen, dass ich sie sofort attraktiv gefunden hätte. Vielleicht hatte ich eine Vorahnung und erwog es auch deshalb nicht.

Nachdem sie ihren Double-latte-qualsiasi in kleinen Schlücken immer zwischen fünf Sätzen ausgetrunken hatte, traf sie erste Vorkehrungen zum Aufbruch, blickte zur Strasse hinüber, auf der vor kurzem noch Fahnen getragen und Parolen durchs Megaphon gepeitscht wurden, und meinte: "Nun ist die Strasse wieder frei, und ich muss leider noch weiter. Aber es war sehr angenehm, mit Ihnen zu schwatzen! Haben Sie vielen Dank dafür!" - Ich nickte sogleich mehrmals heftig und stimmte ihr zu, wusste aber nicht recht, was ich überhaupt von alledem halten sollte: "Ja, klar doch, ich hab's auch genossen! ..." Der Mund blieb mir noch eine Weile offen. Sie sagte: "Ich wollte Ihnen nur noch sagen, dass ich nicht ganz zufälligerweise zu Ihnen gesessen bin!" Oh, was verbarg sich denn hinter den scheuen Augen? - "Ich bin Psychologin und mache dieses Wochenende eine Weiterbildung für die Therapie von Menschen mit Sozialängsten. Und dazu gehörte, dass jede Frau von uns die Aufgabe erhielt, sich über Mittag in der Stadt zu einem jungen, hübschen - " da wurde ich ein wenig verlegen - "Herren an den Tisch zu setzen und mit ihm ein längeres Gespräch zu führen." ... "Verstehen Sie, ich habe das einfach gemacht, um meine eigenen Sozialängste kennenzulernen und besser zu verstehen, wie ich damit umgehen würde, wenn ich mich vor Angst nicht einmal auf die Strasse traute!" Ich verstand.

Einen besseren Grund hätte ich mir allerdings gerne gewünscht. Ich signalisierte ihr durch Interesse und ein breites Schmunzeln, dass ich gerne mitspielte und ihr die versteckte Kamera nicht übelnahm. Bald darauf liess sie mich an meinem Tisch zurück und ging in das Kursgebäude am Ende des Platzes.

Mittwoch, 10. August 2005

Vor dem Fernseher

Der Schiedsrichter der Partie Malmö-Thun pfeift einen Freistoss für die Thuner, nachdem deren Torwart - den Ball schon mit der Fanghand berührend - von einem gegnerischen Stürmer aus der Luft angerempelt wurde. Uns fussballerisch nicht so gebildeten Zuschauern erklärt der Kommentator, das sei nun ungeachtet der schwedischen Buhrufe ein klarer Fall für Freistoss - wenn der Torwart den Ball im Fünfmeterraum nur schon berühre, dann sei er physich tabu für den Gegner. - Wir diskutieren den Fall eingehend, weil die Partie ohnehin sehr öde verläuft, und ich komme irgendwann zum Schluss, dass den Stürmer keine Schuld treffe, weil er in die Luft gesprungen sei, bevor der Torwart den Ball berührte, und weil er danach seinen Flug und den daraus resultierenden Rempler nicht mehr aufhalten konnte. -- "Der Mensch hat eh keinen freien Willen", sagt Pi nach einer kurzen Pause.

status checken

Du bist nicht angemeldet.

nuusche

 

erinnern

Mai 2024
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 

beobachten

wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
dem gedanken folgen.
sobald ich versuche, alles in mehr oder minder stummes...
moccalover - 19. Nov, 22:36
unternehmensethik.
es ist doch nicht das unternehmen, das ethisch sein...
moccalover - 19. Nov, 22:34
und was das heisse, wenn...
und was das heisse, wenn jemand jemand sei.
moccalover - 19. Nov, 22:33
danke. wenn nur die umsetzung...
danke. wenn nur die umsetzung so einfach wie die erkenntnis...
moccalover - 19. Nov, 22:31
wer das eigentlich sei
wer das eigentlich sei
Reh Volution - 10. Nov, 07:32
da steckt viel wahrheit...
da steckt viel wahrheit drin.
me. (Gast) - 7. Nov, 21:10
danke!
danke!
moccalover - 6. Nov, 00:20
das verbrechen.
Das grösste, das ursprünglichste und verheerendste...
moccalover - 6. Nov, 00:05
nah und fern.
Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
moccalover - 6. Nov, 00:05
selbstbewusst.
selbstbewusstsein heisst nicht, sich überlegen zu fühlen nicht,...
moccalover - 6. Nov, 00:04
die vorstellung und das...
gibt es etwas Schöneres, als etwas unvermittelt zu...
moccalover - 6. Nov, 00:02
um zu
um zu
Reh Volution - 12. Okt, 08:12
um mich herum.
Das Leben. Ein Schlüssel, der mir Haus und Wohnung...
moccalover - 12. Okt, 00:43
Sandwichs.
Du hast jemand, der für dich Sandwichs streicht. Da...
moccalover - 2. Sep, 22:53

blogleben

Online seit 6889 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

ehrerweisen


Bilder im Kopf
Faul
Grundlegendes
kieselsteingeraeusche
Kreativ
Naechtlichtaeglich
Offene Fragen
oTon
Personen
Politik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren