Naechtlichtaeglich

Freitag, 4. November 2005

feierabendverkehr

Er dreht sich eine Zigarette, öffnet das Fenster und stützt seine Unterarme auf den Sims. Die metallene Verschlusskante des Fensterrahmens drückt in seinen Bauch. Er blickt auf die volle Strasse hinunter; es ist schon fast dunkel und es regnet stark. Der schwarze Teerbelag spiegelt jedes Licht, das ihn erreicht. Die orangenen Strassenlampen, die an Stahlseilen angemacht im Wind zwischen den Häusern baumeln; die roten, gelben und grünen Ampeln, die an den Wegweisertafeln über der Kreuzung konzertiert ihr Leuchten ändern; die Xenonscheinwerfer der Autos, welche die Spritzbögen ihrer Vorderfahrzeuge bläulich weiss erglühen lassen; die gelblich erhellten Zugfenster, die vorbeihuschen und die Reisenden im Daumenkino vorführen - all ihr Licht trifft sich im Schwarz des nassen Asphaltes.

Er bestaunt diese bunte Farbenwelt im Dunkel, die ihm wegen der im Kreise kurvenden Autokolonnen wie ein Jahrmarktkarussell vorkommt. Über die Brücke hört man Sirenen herannahen; hinter den Hochhäusern werden die Regenwolken von grünlichen Stadionflutlichtern beschienen. Der schönste aller Scheine aber kommt von den gelben Ahornblättern, die zu Tausenden im Regenwasser auf der Strasse, dem Spiegel dieser Verkehrsleuchtwelt, liegen. Noch, so denkt er, noch gebt ihr euer Letztes, um mich zu freuen; und ob all eurer Anstrengung selbst in eurem Sterben kann ich es euch nicht verdenken, dass ihr mich den ganzen Winter über alleine lasst, erst im Mai eure Nachkommen schickt.

Beim Fenster nebenan kommt kein Licht heraus. Der ist nun ausgezogen. Der andere feiert mit seiner Familie. Sie haben nun beide das Examen geschafft, das zum Leitmotiv seines nächsten Jahres werden wird. Er hat sich ein bisschen mit ihnen gefreut, aber vor allem sich zurückgelassen gefühlt. Welcher Egoismus sich offenbaren kann, wenn die Welt einem die Schultern ein wenig niederdrückt. Das kalte Discounterdosenbier, das er in seine Kehle schüttet, lässt ihn kurz schaudern und seinen Brustkorb verkrampfen. Und aus dem Bauch steigt langsam eine Wärme zurück zum Kopf; der Feierabend kommt an. Schöner, guter Feierabend, so sollst du sein, murmelt er, und zugleich denkt er daran, dass das nicht immer so sein kann, dass er doch alles einmal ändern wollte.

rückblick

Hatte moccalover vergessen, oder hatte er noch gar nie bemerkt, wie laut ein verdorrtes Blatt klingen kann, das in der Stille dem Stamm entlang zu Boden fällt und gegen Äste prallt? Hatte er wirklich gemeint, keinen Stich im Magen mehr zu spüren, wenn er im klaren Himmel eine Sternschnuppe bis zum Horizont hinunterziehen sieht? Hatte er gedacht, dass der grosse Berg ihm zuzwinkern würde, nur weil er zu seinem vereisten Fusse gekrochen war? War er sich nicht mehr bewusst gewesen, wie warm trockene Lärchennadeln riechen, die aus dem Haar aufs Kopfkissen gefallen sind?

Welche war die wahre Welt – die im glasklaren oder die im dunstigen Licht? Die beiden Welten waren sich beide in den Formen sehr ähnlich, doch überhaupt nicht so in den Gefühlen, die sie in ihm erweckten. Er war sich sicher, dass nur eine die richtige, und die andere bloss eine verfälschte Abbildung sein konnte, doch er vermochte nicht zu entscheiden.

Das Holz roch nach süssem Harz mit Himbeere und manchmal Ananas, wenn er es gerade gespalten hatte und an den freigelegten Fasern roch. Seine Hände schonte er nicht; er ergriff die Scheiter und warf sie sich durch die Luft zu, als trüge er Handschuhe, und bald trugen die Hände viele Holzsplitter und kleine Schrammen in sich. Erst nach und nach drang wieder in sein Bewusstsein, wie wichtig seine Hände ihm, wie verletzlich sie waren. Am Abend im Bett, nachdem er mit ihnen auch im heissen Ofen herumgestochert hatte, bis alle schwarzen Härchen verbrannt waren, glühten die Hände. Und sie flüsterten in sein Einschlafen. Wir wussten gar nicht mehr, wie das ist, und nun schmerzt uns auch alles ein wenig; aber danke dafür, dass du uns gebraucht hast. Brauche uns wieder.

Und am nächsten Morgen hatte er alles wieder vergessen. Oder er erinnerte sich noch nicht daran, als er sein T-Shirt in gewohnter Hast über den Kopf zog und den linken Handrücken gegen den messerscharfen Glaslampenschirm schlug. Es klang bloss dumpf und schmerzte nicht besonders, und so war er beim Anblick seiner Hand umso erstaunter. Er musste genau das gefühlt haben, was er gefühlt hätte, wenn er gerade seine Lieblingstasse zerschlagen und dabei trocken gedacht hätte: kaputt. Er begriff noch nicht, doch beim Nähen wurde ihm dann doch recht übel. Weil seine Sinne nicht mehr übereinstimmten. Weil er dank der Wundanästhesie zwar nichts mehr spürte, der Arzt in seinem Blickfeld jedoch grausame Arbeit an seinem eigenen Körper verrichtete.

Und so schlug er sich in Kürze halb tippunfähig, und er dachte sich, dass das eine gute Ausrede dafür sei, dass er schon seit Wochen auf der Suche nach seinem Kopf war.

Sonntag, 23. Oktober 2005

holpern

Wenn die Züge hier durchholpern, dann zittert mein Stuhl manchmal. So bleibe ich im Rhythmus der Welt.

Sonntag, 16. Oktober 2005

vertraut

‚Tue nid z’wüescht’ – Treib’s nicht zu wüst, so hatte sie ihre SMS an ihn abgeschlossen, und er erschrak ein wenig; er wunderte sich über diese für ihn geschmacklose Formulierung einer Anspielung ohne Zusammenhang. Bis er sich entsann, dass es sich dabei um eine durchaus respektvolle und freundlich gemeinte Zuruffloskel wie ‚Mach’s gut’ handelte, die im ländlichen Sprachgebrauch unter vertrauten jungen Menschen sehr gebräuchlich war. Also waren sie vertraut.

Dienstag, 11. Oktober 2005

mittendrin

Manche wagen sich noch im T-Shirt auf die Strasse. Manche haben sich schon in warme Tücher gehüllt. Die Strassenplätze der Restaurants sind gut besetzt. Niemand weiss, ob das der letzte warme Abend sein wird. Oranges Sonnenlicht schiesst waagerecht durch die Gassen und prallt auf Wände, Fensterglas und Werbeschilder. Ich war im Photogeschäft, im Tabak- und im Plattenladen. Habe fünf Filme und meine Adresse hinterlassen, habe beteuert, dass ich die schwarzumrandeten Aufschriften nicht mehr wahrnehme, habe ein paar Megabytes warmer Klänge gekauft. Nun schlecke ich Reste aus Satz und kaffeegetränktem Zucker vom Löffel.

Ich sitze nicht alleine am Tisch, er war vor mir schon besetzt. Die Frau ist aufgebracht, lacht aber viel und gequält, um das zu verbergen. Seine Stimme verstehe ich nicht, sie ist tief und geht im Verkehrslärm auf. Sie erzählt von einem, der nicht da ist, der vielleicht nicht mehr da sein wird für sie. Der war zusammengezuckt und hatte schwer traurig, schwer beleidigt betont, dass sie genau wisse, dass er sich in keine Ecke drängen lasse. Dabei hatte sie bloss wissen wollen, was sie denn hätten; ob vielleicht eine Affäre, und was er unter sowas genau verstehe. Das war fällig, und zumutbar, schliesslich sind sie beide bald vierzig, und das läuft nun seit zwei Jahren schon in der Weise. Überhaupt kann sie sein Verdrängen nicht mehr ertragen, fast jeden Abend haut er sich den Kopf weg.

Ich folge noch ein wenig; es kostet die Frau viel Kraft, sich von ihm abzuschichten. Sie versucht es, indem sie vorgibt, längst schon so weit zu sein. Dann verliere ich mich wieder, weil mich das geheimnisvoll abendbeleuchtete Menschengewühl fesselt, das sich in rhythmischer Periodik unter der Ampel versammelt und über die Strasse fliesst. Ich sitze verdattert in dieser Überfülle von Beziehungen, Bewegungen, Lauten, Farben und Zeichen, und für mich selber werde ich hierin eine Weile lang ein einziger körperloser Punkt.

Dienstag, 4. Oktober 2005

am Knotenpunkt

Der Intercityexpress ist mehrmals täglich zu Gast auf schweizerischen Schienen; und jedes Mal ärgern sich die Kellner des Bordbistros über die fremde Währung, die nicht in der Kasse, sondern im speziellen Geldbeutel lagert, und die sie hier umständlicherweise benützen müssen. Heute scheint es noch mehr Ärger zu geben, der Raum ist ausser mir nur noch erfüllt mit Anhängern eines Fussballvereins aus der Provinz, der im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit neuerdings an den edelsten europäischen Adressen antritt. Es ist die Zeit, in der alle Fussballmatches zu Ende sind, und in der noch eins getrunken wird, weil eines noch immer genommen ward. Trotz allem kaufe ich mir eine Flasche mit Bier und setze mich nach höflichem Fragen an einen besetzten Tisch. Die jungen Männer singen, rufen einander zu und telefonieren ebenso laut; die Trikotträger ihrer Embleme haben heute hoch verloren, doch das scheint niemand zu verdriessen. Immer wieder ergreift einer grundlos die Initiative, schreit dreimal rhythmisch wiederholt eine Anfangssilbe, und ganz gleichgültig, woran sie gerade sind, stimmen alle anderen in den Chor dieser eingeübten Gesänge von Identifikation und Abgrenzung mit ein. Der Kellner wird verspottet und verhöhnt, weil er sich gegen die mitgebrachten Bierdosen aussprach und sich weigerte, die Getränke am Platz zu servieren. Eine in ganz in Denimstoff gekleidete, elegante Frau mit langen Beinen und müdem Gesicht, die von der ersten Klasse her in den Raum gekommen ist, steht an einem der hohen Tische, raucht eine Zigarette und erzählt einem der Fans, wie sie in Mannheim eine schreckliche Stunde lang stecken geblieben ist. Er dafür erklärt ihr, wie seine Mannschaft, ohne die Meisterschaft gewonnen zu haben, nun in der Champions League spiele. Dazu trinken sie das zweite Fläschchen Weissen, den sie vereinbarungsgemäss gemeinsam bezahlen werden. Ich bewundere die dicke Haut dieser Frau, lese noch ein wenig in meiner riesigen Wochenzeitung und diskutiere mit dem Mann neben mir über die Verschlossenheit und Treue der Bergbevölkerung. Meine Mutter hat keine Katzen mehr, dafür nun ein Igelasyl, wo sie diese kleinen Kerle aufpäppelt, bis sie überwintern können. Nichts erzeugte mehr Sehnsucht nach Streicheln als ein Igel. Der Trainingsanzug eines neu eingetretenen Gastes erregt sogleich alle Aufmerksamkeit, er repräsentiert den Club von Anderlecht. Man fragt den Mann, ob er denn da spiele, doch der erwidert, nachdem die Sprache festgelegt wurde, auf Englisch, dass Fussball nur sein Hobby sei und er aus Korea stamme. Er ist sichtlich irritiert ob all des fremden Betriebes; und ich weiss nicht, ob er im Weggehen noch hört, wie der telefonierende Fan jauchzt, er habe mit einem Koreaner gesprochen. Ich fühle mich wohl, an dieser Kreuzung aller Leben. So trägt mich der Lärm und die Bewegung, bis wir einfahren im Bahnhof und die Lautsprecherstimme die Gemeinschaft säuselnd, und doch gewaltsam, aufhebt. Man klopft dem Kellner auf die Schultern, und dieser klopft erleichtert lachend zurück; er hat nun alles überstanden und ja doch viel verkauft. Die Frau verabschiedet sich unverbindlich. Und ich höre mich noch antworten, als ich gefragt wurde, wessen Fan ich denn sei: der Fan von niemand und von friedlichen Fans.

Sonntag, 2. Oktober 2005

Grossvater werden

Mein ganzes Leben lang wollte ich nur Grossvater sein, und in all diesem Wunsch habe ich bis jetzt noch nicht einmal ein Kind hingekriegt.

Sonntag, 25. September 2005

Leichtigkeit, Freizügigkeit

Fast den ganzen Nachmittag über habe ich hier auf dem wetterverwaschenen Klappstuhl gesessen und habe nach einem Waldspaziergang geruht, der nicht anstrengend war. Föhnzirren verzerrten sich im hellblauen Himmel, der in regelmässigen Abständen vom beruhigend tiefen, typisch sonntäglichen Brummen der sinkfliegenden Propellermaschinen durchdrungen wurde. Jetzt im Herbst wärmte die Sonne milde und aus halber Höhe. Es ist dies vielleicht der letzte Tag gewesen, an dem ich noch ohne Mühe schwitzen konnte.

Man sitzt hier an dunkelblauen Tischen am Waldrand, und weiter unten liegt gleich der Fluss, der vor kurzem noch bis hierher gereicht und in allem trüben Tosen seinen Schlamm auf dem Waldboden niedergelegt hat. Der Schlamm ist längst zu Sand getrocknet, den der Wind Stoss für Stoss wegträgt. Nun schiebt sich das Wasser wieder ganz geräuschlos durch die Kurven des Bettes.

Es war still hier, sehr still, trotz der kleinen Dessertgabeln, die Schokokuchenstücke zerteilten und danach wieder in den Teller gelegt wurden; trotz aller Kaffeelöffel, die beim Verrühren von Zucker und Milch gegen die Tassenwand schlugen; trotz all der Kinder, die sich spielend im Wald vergnügten und ab und an schrieen, weil sie über Wurzeln gestolpert waren. Es war trotz alledem ganz ruhig hier; die Weite des Himmels, der Wald und der Fluss verschluckten den Lärm, bevor er sich verbreitete. Die Welt spuckte dafür ein Rauschen aus, das die Geräusche von weit her, verschoben und verwässert in meine Ohren trug. Wie die Geräusche der Welt, die wir im Halbschlaf nur als fernes Hallen wahrnehmen und in unsere wirren Traumbilder einbauen. Scharf klang nicht das Gelächter der Gruppe am Nebentisch, laut waren auch die lebhaften Gespräche dort drüben nicht; allein die Schritte im Kies, das hier den Boden bedeckt, erzeugten Töne, denen noch Unmittelbarkeit anhaftete.

Schräg links, da weiter hinten, da sass ein Paar, das seinen Kaffee nicht anrührte; zu ernst schien ihr Thema. Rechts davon die zwei modernen Kinderwagen mit geländegängigen Noppenreifen und die beiden frischen Familien; ihr Gespräch beschäftigte sich mit der Organisation eines Sonntagabends, der gemeinsames Einkaufen und Nachtessen und den Genuss einer beliebten Telenovela mit den Notwendigkeiten der Kindererziehung versöhnen musste. Ein kleiner Junge stolzierte ernsthaft durch Tische und Stühle und blickte nur auf seine gerollte Waffel, in der drei Riesenkugeln Stracciatella-Eis lagen; eine Kugel ist zu Boden geflogen, als er kurz wegblickte, und sogleich ist seine ganze Glückseligkeit in einem schmerzvollen Wutschrei zerfallen.

Dass ich die Füsse auf einen der Stühle meines Tisches gelegt hatte, schien das alte Paar nicht zu stören; sie sind langsam hergekommen, haben freundlich gefragt und sich mir gegenüber hingesetzt. Seine Brillengläser waren von der Sonneneinstrahlung verdunkelt, sein weiches Hemd, dessen Knöpfe von einem Stoffband überdeckt wurden, war frisch gebügelt, und seine Gürtelschnalle glänzte. Seine rote Stirn übersäte sich mehr und mehr mit feinsten Schweisströpfchen, die er ab und zu ins Haar strich. All seine Bewegungen waren langsam und bedächtig; seine Worte waren nur ganz wenige. Sie trug ein blumiges Sommerkleid in braungelblichen Tönen, das in der Taille durch ein Gürtelchen gleichen Stoffs geschnürt wurde. Häufig, auch im Gespräch, lächelte sie mit geschlossenen Augen die Sonne an. Ihren Gehstock hatte sie vor ihre Trinkschokolade auf den Tisch gelegt; der Knauf war silbern und mit kunstvollen Gravuren verziert. Um ihren Hals herum eine Kette aus messinggefassten Bernsteinen, die auf dem braungebrannten und tief zerfurchten, wunderschönen Dekolletee lag und funkelte. Jeden zweiten Satz sprach sie französisch.

Sie hätten schon nach Mittag ferngesehen, hat sie mir später in dem Gespräch gesagt, das unserer räumlichen Nähe entsprungen war. Sie hat es gesagt, als sei das für sie ein peinliches Geständnis, es sei ja bloss der Volksabstimmung wegen gewesen, sonst hätte man das nicht getan. Ich habe mich langsam der Plakate in der ganzen Stadt erinnert, die mich bei jedem Besehen würgen und mir sagen: Ost-Zuwanderung - Nein. Als stände da: Realität und Zukunft - Nein. Ich habe wieder an den Brief mit der Stimmkarte gedacht, den ich vor Wochen schon dem Kasten übergeben habe. Heute war der Abstimmungstag, das war mir ganz entgangen. „Ig gloube, es chunnt föör“, hat sie das in einen einzigen Satz zusammengefasst, was sie aus den Mittagsnachrichten über die Abstimmung erfahren konnte; sie hat diese Dialektredewendung gebraucht, die gemeinhin in trockenem Sinne für Tiere, Pflanzen und schlimmstenfalls Menschen verwendet wird, die sich nach Unbill oder langer Krankheit wider Erwarten, aber erfreulicherweise, erholen. Ich weiss nicht, ob mich mehr erstaunt hat, dass die längst verloren geglaubte Vorlage doch noch durchkommen sollte, oder, dass den beiden Alten – genau wie mir - offenbar so viel an einem positiven Ausgang lag.

„Ja“, hat sie mit träumerischem Blick in die Ferne gesagt, „ich komme aus dem Welschland, doch jetzt möchte ich nicht mehr von hier weg. Im Fernsehen haben sie gesagt, dass die Polen gar nicht alle kommen wollen, die haben auch ein paar Fabriken. Wir brauchen die Leute für unser Land. Wissen Sie, mein Grossvater kam damals aus Gallarate bei Mailand in den Kanton Jura, der damals dem Kanton Bern gehörte. Mit der Schule sind wir häufig wieder zu diesem Krieger gewandert, dem Denkmal vom ersten Weltkrieg, das war immer eine schöne Reise. Das Denkmal wurde wegen der Separatisten dann weggeräumt, die haben es ja immer wieder zerstört, und heute geht da die Autobahn durch. Nein, als wir jung waren, gab es diese Probleme noch nicht; sicher war aber nicht alles recht, was die Berner da taten. Mein Grossvater konnte sich noch gerade rechtzeitig einbürgern lassen, sonst hätte er in den zweiten Weltkrieg gemusst; und seine Brüder, die sich da oben versteckten, durften noch jahrelang nach Kriegsende nicht zurück nach Italien, weil sie als Deserteure galten.“

Wir haben weitergeplaudert, und ich habe vernommen, dass der letzte Laden in ihrem abseitigen Stadtquartier geschlossen worden sei, und dass sie seit ihrer Hüftoperation nur noch mit Schmerzen zur Busstation gehen könne; nach acht Uhr abends fahren überhaupt keine Busse mehr, hat sie dann noch angefügt. Die Poststelle aber, ja, die sei noch offen, das immerhin; sie hätten sich übrigens bei der Arbeit auf der Hauptpost der Stadt kennengelernt, damals. Und von ihrem Balkon aus könnten sie in der Nacht sehen, wie die Flugzeuge auf dem Weg zur Landung die Waldhügel mit ihren Scheinwerfern ableuchten.

Irgendwann haben sie mich dann verlassen, und sie wollten auch nicht, dass ich ihnen nochmals ein Getränk oder ein Stück Kuchen herbringen würde. Sie haben sich für das Gespräch bedankt; mit der Entschuldigung, mich vom Lesen des Buches auf meiner Tasche abgehalten zu haben, und in der Hoffnung, mich im nächsten Frühling vielleicht wieder hier anzutreffen. Wie lange ich seitdem noch dagesessen habe, weiss ich nicht mehr. Die unerhoffte Nachricht über die Freizügigkeit hat mich an diesem Ort derart erleichtert, dass ich all meine Unrast verlor.

Aus den Zirren sind irgendeinmal Schäfchen geworden, und diese haben sich schliesslich zu Wolken verdichtet, die den Himmel verdunkeln. Die Sonne ist hinter den Bäumen verschwunden, und ich hole mir den letzten Espresso; an der Theke bei der Frau im grünen T-Shirt, deren Gesicht im Spiegel des meinen immer ein Lächeln entfaltet, das noch viel schöner und leichter ist als die ganze Leichtigkeit und Geborgenheit dieses Sonntagnachmittags es war. Fast hätte ich geglaubt, es sei gar wegen mir so froh. Doch bald schon wird das Bild von ihren leuchtenden, gewissenhaften und von einer feinen Hautfalte sorgsam umrundeten Augen in mir verblichen sein; vergeblich wird jede Suche danach dann sein. Nie, nie mehr nach Hause will ich gehen.

Samstag, 24. September 2005

versichert

In einer glänzenden und hell ausgeleuchteten Tiefgarage gleitet eine strahlend silbern polierte, moderne Familienkutsche mit drei Sitzreihen in Zeitlupe und unterlegt mit Chill-out um eine gelbschwarz als Gefahrenherd gekennzeichnete Stützsäule herum. Der Kurvenradius, den der Fahrer gewählt hat, erweist sich nach Sekunden als zu eng, so dass die bevorstehenden Folgen für die edle Seitenschiebtüre des Wagens offensichtlich sind – doch noch bevor man das Unabwendbare miterleben könnte, wird der Fernsehschirm schwarz und alsdann vom Logo einer Versicherungsunternehmung ausgefüllt, unterlegt mit einem lockeren Spruch. Wer von den Versicherungen beklagt sich über Moral Hasard?

Freitag, 23. September 2005

Optische Rückkopplung

Ich wiege das Plastikbecken in meinen Händen, und die Entwicklerflüssigkeit wellt sich leicht im gelben Licht. Ich lege das Becken ab und beuge mich dicht über die Wasseroberfläche, sehe den Blasen zu, wie sie platzen, und warte auf die ersten Spuren, die sich schwachgrau auf dem Papier abzeichnen. Nie erhascht man genau den Moment, in dem aus dem Nichts ein Punkt aufscheint, plötzlich ahnt man einen Schatten, der, wenn man ihn bemerkt, schon wirkliche Zeichnung geworden ist. Schon wird der erste Strich sichtbar, der das glänzende Weiss besetzt und ein Schauspiel ankündigt, eine Schöpfung . Der Übergang ist so fliessend, dass er einen mehr überrascht, als wenn das Bild abrupt erschiene. Überall ziehen sich jetzt Linien; und die Formen beginnen, einander zu umranken und zu überfliessen. Immer nach ein paar Augenblicken wieder muss das Auge sich neu einfinden, die Veränderungen wahrnehmen und sie sich merken; bis am Schluss das Schauspiel langsam erstarrt und das Blatt ins Stoppbad wechselt.

Die Photographie wird sich selber abschaffen. Die Welt ist gerade dabei, die chemische Photographie in ihrer Geschichtsschublade zu versorgen; und die digitale Photographie geht erst in kleinen Schuhen. Doch schon heute haben all die Dinge Kameras, die Handys, die Memory-Sticks, die Schlüsselanhänger und Manschettenknöpfe; bald auch die i-Pods, die Klobürsten, die Winterkleider und die Sonnenbrillen. Früher oder später werden wichtige Häuser tausende Digitalkameras dazu verwenden, sich selber abzulichten und ein algorithmisches Potpourri davon auf flächendeckenden Fassadenmonitoren wiederzugeben. Bäume werden das Wachsen ihrer Blätter festhalten, und schliesslich werden sensorische Bluetooth-Kontaktlinsen jeden Blick auf Festplatte übertragen. Überall will alles festgehalten sein von dieser optischen Wirklichkeit; und wenn bald alles voller Kameras ist, photographieren lauter Kameras andere Kameras.

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wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
dem gedanken folgen.
sobald ich versuche, alles in mehr oder minder stummes...
moccalover - 19. Nov, 22:36
unternehmensethik.
es ist doch nicht das unternehmen, das ethisch sein...
moccalover - 19. Nov, 22:34
und was das heisse, wenn...
und was das heisse, wenn jemand jemand sei.
moccalover - 19. Nov, 22:33
danke. wenn nur die umsetzung...
danke. wenn nur die umsetzung so einfach wie die erkenntnis...
moccalover - 19. Nov, 22:31
wer das eigentlich sei
wer das eigentlich sei
Reh Volution - 10. Nov, 07:32
da steckt viel wahrheit...
da steckt viel wahrheit drin.
me. (Gast) - 7. Nov, 21:10
danke!
danke!
moccalover - 6. Nov, 00:20
das verbrechen.
Das grösste, das ursprünglichste und verheerendste...
moccalover - 6. Nov, 00:05
nah und fern.
Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
moccalover - 6. Nov, 00:05
selbstbewusst.
selbstbewusstsein heisst nicht, sich überlegen zu fühlen nicht,...
moccalover - 6. Nov, 00:04
die vorstellung und das...
gibt es etwas Schöneres, als etwas unvermittelt zu...
moccalover - 6. Nov, 00:02
um zu
um zu
Reh Volution - 12. Okt, 08:12
um mich herum.
Das Leben. Ein Schlüssel, der mir Haus und Wohnung...
moccalover - 12. Okt, 00:43
Sandwichs.
Du hast jemand, der für dich Sandwichs streicht. Da...
moccalover - 2. Sep, 22:53

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