Samstag, 13. August 2005

smalltree

Der kleine Junge streift die sensorischen Handschuhe ab, legt die Stereobrille auf den Tisch und entfernt sich vom Computerterminal. Er geht auf den alten Mann zu, der im alten Ledersessel liegt, schläft und Fleckchen alten Speichels in den Mundecken hat. Er ergreift und schüttelt die Hand des Schlafenden, setzt sich auf dessen Schoss und legt ihm seine Arme über die Schultern.

"Grosspapa moccalover - aufwachen!" - "Oh, Erwin... warte, wo ist denn meine Brille, ich kann Dich ja gar nicht sehen!" -"Im Internet haben sie gerade was von smalltree erzählt, der soll einer der ersten Blogger überhaupt gewesen sein. Grosspapa, gell, Du warst auch einer der ersten Blogger überhaupt!" - "Oh, nein, das stimmt nicht, ich habe ungefähr die ersten fünf Jahre verschlafen.“ – der Junge zieht die Augenbrauen hinunter. „Aber, naja, von heute aus betrachtet, wenn Du so willst, war ich einer der ersten. Sechzig Jahre später sind fünf Jährchen nicht mehr so entscheidend." - "Grosspapa, was ist denn mit diesem smalltree, hast Du den gekannt?" - "Gekannt? Nun ja, ich habe ihn nie getroffen, und er las mich kaum. Aber gekannt haben wir ihn alle, wir haben ihn täglich gelesen, haben mitgelitten, mitgedacht und mitgefeiert. Er war der beste, und alle wussten das, und er wusste es auch, aber er blieb der beste." - "Und?" - "Dann... dann auf einmal, in einer Diskussion über den amerikanischen Bombenangriff auf den Iran, verschwand er. Mitten drin, er schrieb, dass er sich noch klarer äussern werde, dass er aber erst einmal ein Bier brauche. Nie mehr hinterliess seine IP-Adresse danach wieder eine Spur im Netz. Sonst hatte er sich immer wieder gemeldet, war immer da, liess niemanden hängen. Die Gemeinschaft der Blogger rätselte, suchte, fluchte, strickte Theorien und stiess Gebete aus. Nichts geschah, man fand den User hinter dem Namen nicht, weil er sich so gut getarnt hatte. Mit der Zeit fand man sich ein wenig damit ab, aber der Verlust und die Konfusion, die Belastung der Emotionen waren so gross, dass niemand umhin kam, eine Einstellung, eine Meinung über das Geschehene zu wählen. Manche glaubten an Verschwörungen und Todeskommandos irgendwelcher Provenienz, andere glaubten an Aliens und wieder andere an göttliche Einmischung. Und hinter jedem neuen Blog wurde schnell einmal der vermisste smalltree vermutet, und auch hierüber diskutierte und theoretisierte man sogleich."

"Und nun? Was ist passiert?" - "Jahre später stellte sich heraus, dass smalltree an jenem Abend sturzbetrunken in der Küche unglücklich ausgerutscht sein und den Kopf tödlich aufgeschlagen haben muss." - "Aber die haben gesagt, er sei kürzlich in einem Supermarkt von Jollyville in Oklahoma gesehen worden?"

Gartenschlauch

Das Wetter wollte nicht so recht heute, "aber morgen will er wieder besser, ich habe's im Meteo gesehen", sagt die Frau an der Kasse, der ganze Kühlschrankinhalt der nächsten Woche liegt stellvertretend für meinen Willen, diese Woche zu überleben, auf dem schwarzen Laufband, das die Waren unentwegt nach unten drückt, obschon sie schon lange aneinander festgestossen sind, Mehl klebt auf dem Band, weil das Fensterchen der Brottüte fein perforiert ist, und ich schleppe drei gefüllte Taschen nach oben, ans Licht, mache meine Hand frei und werfe die bereitgehaltenen zwei Franken in die hingestreckte Baseballmütze, gehe die Strasse hinunter, erneuere immer wieder den Griff meiner Hände an den Taschen, weil die so schwer sind, gehe durch den Hof und treffe im Korridor Rob, der den Gartenschlauch bereitmacht, ich stelle die Taschen hin und spreche mit ihm, jemand hat des Nachts vor die Hintertüre in den Hof gekotet, ein respektabler Haufen, und Rob muss es wegwischen, er verflucht die Junkies und riecht nach Alkohol, wir lächeln beim Auseinandergehen und wünschen uns ein schönes Wochenende; Rob hat's nicht leicht.

Read da Blog!

Wer sich ab und an das Vergnügen machen möchte, Blog- und übrige Internet-Texte nicht zu lesen, sondern sich von einem sympathischen, kultivierten Herrn mit süssem französischem Akzent vorlesen zu lassen, der möge sich nun umgehendst dies beschaffen (leider IE only, wer kennt's für andere Browser?).

Ein ROFL von meiner Seite kann ich da nun wirklich nicht verkneifen.

[Edit: Wer Popup-Blocker wie den von der Google-Toolbar benutzt, sollte das ausschalten, sonst bleibt das Männchen stumm.]

[Edit II: Das Zeugs hat Tücken. Siehe die Kommentare und dies:
"Weiss nicht warum, aber ein Link ist tatsächlich defekt, und zwar jener, der auf die Datei "AgtX0407.exe" verweist. Das macht aber nichts, da hat nur der Programmierer geschlampt: Mit der rechten Maustaste auf den Link klicken, "Verknüpfung kopieren" wählen, neues Browserfenster öffnen, in die (leere) Adresszeile klicken und den kopierten Link hineinpasten (ctrl-v), am Ende der Adresse das unnütze "%20" löschen, und schon klappts. Oder noch einfacher: hier klicken, ich habe den Link bereinigt. Aber immer schön an die Reihenfolge denken!"]

Frau, ansprechend

Heute ist mir widerfahren, was auf dieser Welt selten genug passiert. Eine Frau hat sich draussen vor dem Restaurant mir gegenüber an den Tisch gesetzt. Und sie hat bald begonnen, mit mir ein Gespräch zu führen. Jedenfalls, mich auszufragen, denn ich war zunächst noch in meine Arbeit versunken. Sie war ein bisschen extrovertiert - mitteilsam, weil sie gerade aus der schriftlichen Abschlussprüfung einer PR-Ausbildung kam. Als ihre Freundin mit den zwei Gläsern Prosecco von der Theke nach draussen kam, war der Spuk vorbei, ich war nicht mehr interessant, konnte mich noch ein bisschen konzentrieren, und kurz darauf ging ich.

Das erinnerte mich an einen Abend im letzten Sommer, als ich Ähnliches erlebte. Ich sass auch draussen, trank auch doppelten Espresso, nur damals schaute ich den Leuten nach, die sich zwischen den Tischen des Restaurants und den Marktständen mit Plüschtieren, Handmachschmuck und Jägerhüten drängten. Auf einmal stand eine hübsche Frau vor meinem Tisch und fragte etwas scheu, ob sie sich zu mir setzen dürfe. Sie war etwa acht Jahre älter als ich, und darum erstaunte mich das Ganze noch mehr als wegen des Umstands, dass ich fest glaubte, dass weiter hinter mir noch mindestens ein Tisch frei sein müsste. Frauen in ihrem Alter haben mit Männern aus meinem Alter nichts zu tun, sie haben entweder den Mann fürs Leben, das erste oder zweite Kind, oder sie haben das gerade hinter sich und suchen sich selber - weit weg von Leuten wie mir.

Ich hatte kaum zwei Zeitungsartikel überflogen (das Zeitunglesen schien mir unverfänglicher, als wenn sie mich beim Studium der Passanten beobachtet hätte), da sprach sie mich mit einem fragenden Lächeln an, und es entwickelte sich ein wunderbares Gespräch über den Markt, die Demonstration, die dahinter durchzog und sie am Weitergehen hinderte, und über das heutige Gemüseangebot in den verschiedenen Läden (Steinpilze kriegen Sie nur noch bei Globus, alles andere ist leergekauft). Fast vergass ich mein Erstaunen über diese für mich nicht ganz einsichtige Situation. Man denkt ja schnell daran, dass man eine oder einen von diesen übermässig leutseeligen, aufdringlichen Menschen getroffen hat, die hinterher nicht einmal wüssten, wie man ausgesehen hat. Oder die in völligem Aussetzen jeglicher sozialer Hemmung sich an einen klammern, ohne dass man sich einander schon vorgestellt hätte. Diese Dame aber war ein Genuss; sie war gebildet, stellte interessante Fragen und blieb doch äusserst diskret und zurückhaltend. Dazu konnte ich bei einer gelegentlichen Betrachtung auch feststellen, dass ich sie sofort attraktiv gefunden hätte. Vielleicht hatte ich eine Vorahnung und erwog es auch deshalb nicht.

Nachdem sie ihren Double-latte-qualsiasi in kleinen Schlücken immer zwischen fünf Sätzen ausgetrunken hatte, traf sie erste Vorkehrungen zum Aufbruch, blickte zur Strasse hinüber, auf der vor kurzem noch Fahnen getragen und Parolen durchs Megaphon gepeitscht wurden, und meinte: "Nun ist die Strasse wieder frei, und ich muss leider noch weiter. Aber es war sehr angenehm, mit Ihnen zu schwatzen! Haben Sie vielen Dank dafür!" - Ich nickte sogleich mehrmals heftig und stimmte ihr zu, wusste aber nicht recht, was ich überhaupt von alledem halten sollte: "Ja, klar doch, ich hab's auch genossen! ..." Der Mund blieb mir noch eine Weile offen. Sie sagte: "Ich wollte Ihnen nur noch sagen, dass ich nicht ganz zufälligerweise zu Ihnen gesessen bin!" Oh, was verbarg sich denn hinter den scheuen Augen? - "Ich bin Psychologin und mache dieses Wochenende eine Weiterbildung für die Therapie von Menschen mit Sozialängsten. Und dazu gehörte, dass jede Frau von uns die Aufgabe erhielt, sich über Mittag in der Stadt zu einem jungen, hübschen - " da wurde ich ein wenig verlegen - "Herren an den Tisch zu setzen und mit ihm ein längeres Gespräch zu führen." ... "Verstehen Sie, ich habe das einfach gemacht, um meine eigenen Sozialängste kennenzulernen und besser zu verstehen, wie ich damit umgehen würde, wenn ich mich vor Angst nicht einmal auf die Strasse traute!" Ich verstand.

Einen besseren Grund hätte ich mir allerdings gerne gewünscht. Ich signalisierte ihr durch Interesse und ein breites Schmunzeln, dass ich gerne mitspielte und ihr die versteckte Kamera nicht übelnahm. Bald darauf liess sie mich an meinem Tisch zurück und ging in das Kursgebäude am Ende des Platzes.

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danke. wenn nur die umsetzung...
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Reh Volution - 10. Nov, 07:32
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