nicht mehr lange

Der Zug steht immer schon da, wenn ich zum Geleise komme, er wartet lange und geduldig auf seine Pendlerschäfchen. Er lässt sich nie hetzen, er hat Stolz und Eleganz. Er gehörte in den Siebzigern zur ersten Serie der neuen Städteschnellzüge – wie die Intercitys damals hiessen. Seine angewinkelten Seitenwände blieben unerreicht, seine automatischen Schiebetüren sind Legende. Heute jedoch darf er nur noch auf den hinteren Bahnsteigen verkehren, er ist nur noch ein Schatten seiner ehemaligen Grösse und verbringt zwischen der grossen Stadt und ein paar Provinznestern den bitteren Herbst einer langen Karriere. Die Teppiche riechen unangenehm nach tausend Regen und Hunden, die ehedem edlen Sitzpolster sind von schwarzen Schweissspuren unzähliger Sommerpassagiere gezeichnet, und die Schiebetüren haben in letzter Zeit auch schon Kinder eingeklemmt, weil ihre Sensoren unwillkürlich erblinden können. Über den Sitzen sind Kartonreklamen aufgehängt worden, die verheissen: „Bald wird auch dieser Wagen renoviert sein!“

Jeweils eine halbe Stunde habe ich nun zweimal täglich in diesem Zug verbracht; einmal morgens und einmal abends, und jedes einzelne Mal genoss ich die Fahrt. Es mochte am Sommer liegen, an der Zeit, die mir zum Lesen oder Schlafen geschenkt war, oder an der sanften Hügellandschaft, die ich mit meinem Zug durchschoss. Vielleicht auch am Platz, den ich auf dieser schwach benutzten Linie zur Verfügung hatte. Es konnten auch die immer gleichen Wenigen, die mit mir fuhren, gewesen sein. Bald waren sie mir vertraut, und nun erzählten mir die kleinsten Veränderungen ihrer Gesichter Geschichten.

Da, wo ich jeden Morgen hinfuhr, hatte ich niemals dazugehört. Ich wuchs auf dem Land und unter seinen Menschen wie ein Fremder auf. Einer allerdings, der gerne dazugehört hätte, der das Land schätzt und dessen Leute doch nicht aushält. Einer, der immer wieder hingeht und schnuppert, weil er auch in der Stadt keine Heimat fand.

Heute jedoch war kein Zug da, er fuhr verspätet und auf einem anderen Bahnsteig. Noch stärker als sonst dünsteten die Teppiche, Polster und Metalllehnen den Geruch geheizter Feuchtigkeit. Im Eingangsbereich rann Wasser vom Fenster hinunter und dann hinüber in die Ecke beim Abfallkorb; auf seinem Lauf überpinselte das Rinnsal dabei nasse Schuhabdrücke. Ich setzte mich gleich zum Eingang.

Draussen vor dem Bahnhof war es gar nicht hell, und auch nicht weiter draussen, als der Zug durch die Industrie in die Landschaft hinausfuhr. Durch die angelaufene Scheibe, auf der sich Regentropfen und Wasserströme wild zuckend schräg nach unten bewegten, sah ich nur Grau. Es regnete nicht - der Regen hatte sich die Welt geklammert und zutiefst in seiner Hand begraben. Seit zwei Tagen schon liess er sie nicht mehr los, verdeckte alles Licht und alles Warme, überdeckte sie mit seinen unendlichen Vorräten an Wasser. Alles war eingehüllt in die peitschenden Wolken, abgeschnitten vom nächstgelegenen Ort schon, und ich sah nichts von der Landschaft, die mich jeden Morgen so gefreut hatte.

Ich sah nur ertrunkene Felder, düstere Lachen auf den Strassen, um sich schlagende Wellen in früher so ruhigen Bächlein. Ich sah reissende Flüsse von milchkaffeebrauner Brühe, die Äste und Stämme mit sich führten und damit spielten. Die Höhen der Hügel waren weit oben in den Wolken, und wo noch ein wenig vom Wald zu sehen war, da trug er Nebelfetzen in seinen Spitzen wie Watte in Bartstoppeln. Der Himmel drückte auf die Welt herunter, nahm sie mit, in sein grausames Spiel, liess die Hänge in Schlamm zergehen und riss die Erde herunter. Hellbraun floss alles herunter, zu Tale, mal zähflüssig, wie das durchnässte Erdreich, und mal entfesselt, wie die übermütigen Bäche.

Da, wo ich sonst auf das grosse Tal hinunterblicken konnte, auf den absurden Hügelzug, der das Tal mit der Form einer kauernden Ente zweiteilte und meist stoisch im Nebel lag, da waren jetzt bloss Wolken, die noch mehr Wasser an die Zugswand schlugen. Ich mochte den Regen, seine Gewalt; aber ich fürchtete seine Taten, die ich sah. Alles floss zu Tale. Auch mein Bild, das sich in den vergangenen Monaten von der schönen Sicht gerne hatte bestechen lassen.

Eine starke Verunsicherung beschlich mich, und sie erwuchs rasch zu einem schwermütigen Drang zur Flucht, als ich den Bahnhofplatz betrat und meinen Weg zum Büro einschlug. Zwischen den stolzen Holzhäusern, deren Blumengestecke im Grau untergingen, flackerten Blaulichter, Schläuche lagen herum, Menschen gingen hin und her. Es war Tag und doch dunkel. Nirgendwo ein Licht, das Gewalt gehabt, das sich durchgesetzt hätte. Alles kam nun herunter, weggewaschen vom Unwetter, und ich wusste, dass ich fremd geblieben war. Ein Gast, ein Gast nur.

Und plötzlich durchquerte der Gedanke meinen Kopf, nicht mehr lange werde ich hier sein, bald ist die Zeit um.
spurlos - 24. Aug, 00:46

Das ist die Zeit für Helden. Ein FIlm darüber: Er gehörte nie dazu - aber auf einmal war er da - er sprang in die düsteren Fluten, rettete die Verzweifelten. Alle Jubeln. Er geht. Einsam wie er kam.

moccalover - 24. Aug, 00:57

Habe ich da vielleicht eine Gelegenheit verpasst?
chaetzle - 24. Aug, 08:08

ein Fremder, ein Gast ist man doch überall- auch in seinem eigenen vergänglichen Körper. Egal wo man lebt- hauptsache, man hat sich und ist bei sich.

moccalover - 24. Aug, 23:22

da strenge ich mich auch ganz doll an, bei mir zu sein... :-) Und Gäste sind wir alle, das stimmt, trotzdem haben wir doch alle auch das Bedürfnis nach Verwurzelung. Wenn ich wandere, möchte ich mich manchmal am liebsten in die Bäume einreihen ...
chaetzle - 25. Aug, 09:43

aber verwurzelt sind wir doch. in der Erde. Und die ist überall. Ein Baum ist für sich auch alleine- unter vielen. Und es gibt auch unter den Bäumen tief verwurzelte und flach verwurzelte. Solche, die ein Windstoss entwurzelt,und solche, denen Stürme des Lebens nichts anhaben können. Sie kommunizieren untereinander wie auch die Menschen. (ich "arbeite" gerne mit Bäumen. Geh einmal zu einem Baum und umarme ihn- er wird dir viel geben und sagen können...)
Aber ich weiss ja, was du meinst. Das kleine Stück Heimat, das Vertraute. Wenn ich zu meiner Mutter gehe, in mein Heimatdorf, dann empfinde ich das "Zuhause sein" auch sehr stark.
moccalover - 25. Aug, 22:49

Nun... selbst wenn ich die Bäume umarme, bin ich ja noch nicht sie! Nein, im Ernst jetzt. Ich persönlich rieche am liebsten an Bäumen, das ist auch eine Kommunikation. Ich glaube einfach, dass es für uns Menschen ungleich viel schwieriger ist, die Wurzeln, die man sicherlich hat, zu finden und richtig zu behandeln.
nah - 24. Aug, 09:07

Nah.

moccalover - 24. Aug, 14:36

nah - wie "nicht fern" oder
nah - wie "Nein" auf Wienerisch?
nah - 24. Aug, 15:19

Nah wie "zum Greifen nah". Nahe Momente, (glaub ich), dort, nah am Wasser, nah am Leben.
moccalover - 24. Aug, 20:14

Oh, ja, jetzt verstehe ich. Die Identität von Name und Kommentar verwirrte mich...

Ich habe heute überlegt, ob es wohl zynisch war, den Text zu posten, da mehrere Menschen gestorben und die Schäden wirklich gross sind. Der Text ist ja sehr egozentriert und kümmert sich nur ums Leid der Ich-Person. Aber ich fand, dass das in einem Blog, das ja nicht einszueins von der Welt berichten will, möglich ist.

Und darum kann ich auch sagen, ohne die Tragik der Ereignisse zu verhöhnen (von dieser Tragik berichten eben andere schon hinreichend): Ja, solche Erlebnisse sind absolut nah, dieses Herausgerrissenwerden aus dem langweilig gewordenen, sicheren und bequemen Alltag und die Erfahrung der bösen Gewalten der geliebten Natur gehören zu den eingängigsten Erlebnissen überhaupt. Und ich gebe zu, dass ich in der Mittagspause zum Fluss ging und diese Gewalt still bewunderte.
nah - 25. Aug, 23:19

(Ich wollte nicht verwirren.)
Manchmal hilft die Welt dem Ich auf die Sprünge.
moccalover - 25. Aug, 23:26

(ist ja jetzt zum Glück verflogen, die Verwirrung.)
Allerdings, die Welt kann wachrütteln.
Modeste - 25. Aug, 00:49

Angesichts solcher Katstrophen, wenn Wasser oder Erdstöße die Schutzhülle der Welt wegreißen, fragt man sich stets, ob das Chaos, das Nackte, Wütende eigentlich nicht immer vorhanden ist, nur verborgen unter Schichten, die etwas suggerieren, was es nicht gibt.

moccalover - 25. Aug, 22:45

Da lobe ich mir die Torten, Frau Modeste, da lauert weitaus seltener das Chaos denn die feine Crème unter den Schichten. Verzeihen Sie mir diesen Kalauer. Nicht böse gemeint, ich konnte mich der Assoziation nur nicht entziehen :-)

Das Böse, Gewaltsame, aus dem die schöne Natur auch besteht, erschreckt einen, wenn es sich plötzlich offenbart. Diese Urkräfte erheischen absoluten Gehorsam, machen uns auch heute noch hilf- und ratlos. Ich finde, es ist ganz menschlich und nicht unethisch, dass der Mensch danach strebt, Sicherheit zu empfinden, diese Dinge zu vergessen oder zumindest zu verdrängen. Wir tun doch heute alles, damit wir ein bequemes Leben haben, und vergessen, dass wir uns das auch heute noch in einem gewissen Sinne erkämpfen müssen. Fallen ein paar Schichten der Versorgung weg, sehen wir sogleich, dass wir nicht einfach im Frieden mit der Natur leben, sondern sie mit mannigfachem Instrumentarium für uns zurechtmachen. Beherrschbar wird sie aber nicht ganz.

Unethisch fände ich es im Übrigen nur, wenn man in Zeiten, die gerade keine solchen Katastrophen hervorbringen, das Gefühl hätte, es gebe weder dieses Böse noch die Härten und das Leid.

Und Ihr Kommentar hat mich daran erinnert, dass diese suggerierenden Schichten nicht bloss auf der Natur liegen, sondern auch auf uns, als Wesen in der Gesellschaft. Auch da gibt es Erdstösse, die Schichten abblättern und herunterfallen lassen. Und dann kann dem friedlichsten Nachbar ein Monster entsteigen.

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