Samstag, 20. August 2005

Kassenzettel

Herr Tobler sammelt fremde Kassenzettel. Betritt er ein Café, und das tut er oft, so spüren seine Augen rasch einen Tisch auf, der erst kurz vordem verlassen wurde. Er setzt sich hin, zu den zurückgelassenen Tassen mit dem angeklebten Milchschaum, zu den aufgerissenen Zuckerbriefchen, die zusammengeknüllt auf dem Tassenboden liegen und die Kaffeereste in sich aufsaugen. Zuoberst auf dieser Anhäufung von Überresten flüchtiger Ruhe liegt der Kassenzettel, bis zur Mitte durchtrennt von einem Riss, der die Bezahlung quittiert. Beiläufig klemmt Herr Tobler dann den Zettel zwischen Zeige- und Mittelfinger, mustert ihn kurz, ohne den Kopf zu senken, führt die Hand unter den Tisch und faltet das geschmeidige Plastikpapier sorgfältig zusammen. Wieder eines, das in der Tasche verstaut wird.

Zuhause studiert Herr Tobler alle Kleinigkeiten, die die Quittung von sich gibt: Die Mehrwertsteuernummer, die Nummer, manchmal den Namen, der kassierenden Person, die Konsumationen, die Zeit, das Datum. Champagner zum Frühstück, Espresso zur Nacht, Hanspeter, Sunila, Sandra, Mahmoud. Manche Kassenzettel sind sehr lakonisch, tragen kaum mehr als die Zahlen von Preisen und Kategorien auf sich, andere sind gesprächig, machen Reklame und sagen danke. Herr Tobler klebt sie auf Zeitungspapier, immer vier auf eine geviertelte Zeitungsseite, und flicht die Seite in eine Zeigetasche aus Plastikfolie. Er weiss nicht mehr genau, wie viele Ordner er damit schon gefüllt hat.

Aber voller Unrast sammelt er weiter, und so kommt es vor, dass er im Supermarkt nicht nur die liegengebliebenen Zettel aus den Einkaufswagen und vom Laufband klaubt, sondern dass er, so unauffällig wie möglich, in fremde Einkaufstaschen greift und dort den Zettel entwendet, währenddem sein Nachfolger aus der Kassenwarteschlange am Bezahlen ist. Solche Zettel packt er gesondert in seine Tasche, und zuhause klebt er sie alleine auf. Genauso wie jene, die er einmal in den Abfallkörben am Busbahnhof fand. In ganz Europa musste jemand umhergereist sein, Souvenirs gekauft haben. Und hier auf diesem Busbahnhof musste er sich seines ganzen Reiseabfalls entledigt haben.

Herr Tobler ist zufrieden in seiner Beschäftigung. Er kann in seinem Schatz blättern, wann immer er will, er kann die Zettel bewundern und jene hervorholen, die von den besonderen Tagen zeugen. Die wenigen, die von alledem wissen, sprechen ihn nicht darauf an.

Vor ein paar Jahren, als er schon eine ganze Weile am Sammeln war, hielt er beim Einkleben einmal plötzlich inne und stoppte seine mechanisch gewordenen und in der Radiomusik aufgelösten Bewegungen abrupt. Wochenlang war der Küchentisch mit der unfertigen Arbeit und den Utensilien überdeckt, und Herr Tobler ass in dieser Zeit nur noch am Schreibtisch. Er mochte nicht hinblicken, verstand nicht mehr, was er da tat. Er verurteilte sein eitles Tun, seinen Götzendienst für die Leere. Er verdammte seinen Wahn, in all den Zetteln einen Zusammenhang zu finden, ihren gemeinsamen Sinn zu entdecken, aus ihrer Gesamtheit etwas herauslesen zu können, das sie allein nicht enthielten. Er wurde traurig bei dem Verdacht, dass er von seinem Sammeln etwas erwarten könnte, was nicht käme.

Eigentlich hatte er damals alles verbrennen wollen. Weitere Wochen verstrichen nach dem Entschluss, ohne dass er den Küchentisch geräumt hätte, und irgendeinmal fand er, dass er lieber weitermachte, als über das Ganze weiter nachzudenken.

Unpassend

„Das ist jetzt vielleicht unpassend … darf ich dich etwas ganz Persönliches fragen? … ich meine, ich würde ja nicht, das passt ja gar nicht zu mir, du kennst mich ja … aber ich kenne niemand ausser dir, der sich mit sowas auskennen würde … hast du auch manchmal diesen Schreibstau? Die Finger verkrampft in der Bewegungslosigkeit, der Kopf ein einziger trockener Klumpen, das Gehirn verkantet zwischen den Schädelknochen? Wenn nichts kommt, und die Gegenstände nicht mehr sprechen? Ich weiss, ich weiss, wie dumm von mir, du hast das wohl nicht, du bist immer so zwanglos. Ich dachte nur …“ – „Du hast keinen Stau und keine Blockade, du magst nur deine Gedanken nicht leiden. Komm, gehen wir, die Ampel ist grün.“

Auf Sand

Du stehst am Meer. Siehst du nicht, dass es Platz genug hat? Fünf oder zehn Minuten kannst du über den Sand gehen, ohne die Augen auch nur einmal zu öffnen, und es kommt kein Baum, in den du stossen könntest. Du kannst ruhig springen, tu es, doch in dieser Weite änderst du nichts damit, du schiebst den Horizont bloss um ein Zehntelhaar nach unten, dein Sprung ist lächerlich, verglichen mit der Breite, die hier herrscht.

Du ängstigst dich vor den Wellen, sie wollen dich hinaustragen, sagst du, aber sieh doch hin, du siehst ihre geheime Linie, sie kommen nicht näher, sie kümmern sich nicht um dich. Und warum rennst du umher, was suchst du denn, diese Landschaft hat kein Ende, keinen Fixpunkt, du kannst hier genausogut bleiben wie da drüben. Ja, man sieht dich von weither, doch von so weit auch nicht, schon von da aus, wo ein Punkt vor dem Himmel für das Strandhaus steht, unterscheidet nichts mehr dich vom Sand.

Es ist nirgends anders, und das weisst du, auch wenn du nicht willst. Dem Wind kann keiner entfliehen.

Setz dich hin, genau hier ist dein Ort. Und schreibe in den Sand.

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nuusche

 

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