Zwischen-Zeit

Keine Geschichten heute. Ein Tag im Niemandsland von Wetter und Kalender. Hier ist nichts, das sich hingäbe, um erzählt zu werden. Der Stillstand lässt sich nicht umschreiben, er ist ein einziger Punkt.

Vor kurzem erst war das neue Stationshäuschen neben den alten Bahnhof gestellt worden. Ein Würfel aus Glas, das feine weisse Nadelstreifen trägt, für die Wartenden, ein Automat mit Touchscreen für die Fahrscheine und ein paar blaue Schilder für die nötigsten Erklärungen. In allem klare Formen, die die neue Vernunft der Welt ausatmen. Eine Normstation aus dem Baukasten der Jahrtausendwendträume, die neben dem verhalten schmucken Holzbau des alten Bahnhofshäuschens steht.

Weit ab von seinem Dorf liegt dieser Bahnhof; an einer einsamen Landstrasse, die Maisfelder und Wälder durchquert. Der Ort ist historisch bedingt, die Fernstrecke konnte nicht näher zum Dorf, und so baute man den Halt hier draussen ein. Früher ging man gerne eine halbe Stunde, um Zug fahren zu können.

Durch die grünlich schimmernde Scheibe mit den Streifen sehe ich zum Parkplatz, der schon von hohen Lampen beleuchtet wird, doch die graue Dämmerung schluckt selbst dieses Licht. Die Pendler sind schon weggefahren, der Platz ist fast leer.

Durch die gegenüberliegende Glaswand leuchten die Fenster des Zuges, der nicht mehr weiterfahren kann; eine Stunde lang bereits steht er da. Kein Bus kommt vorbei, zu siebzehnt sitzt man hier fest. Alle schweigen. Ein alter Bauer, der ab und an aus gespitzten Lippen feine Tropfen auf den Steinboden spuckt, fällt mir auf - und auch die fünf Burschen, die im Regen stehen und unter ihren über den Köpfen gehaltenen Markenjacken einen Joint drehen; ihn rauchen und dann mit den Händen in den Hosentaschen weiter herumstehen.

Keine Gefühle heute; die Sinne verlegt, wie man seine Brille oder das Feuerzeug verlegt. Hier, aber unauffindbar. Keine Wut über die Blockierung hier zwischen den Welten, völliger Gleichlauf meiner selbst. Nur matt der Wunsch, nochmals scheu das Mädchen auf dem Sitz gegenüber zu mustern; mir vorzustellen, ihre Wangen zu streicheln. Der Geruch wird mir zu viel, der angenehme, der von ihr ausgeht. Lesen geht auch nicht; immer nach vier Zeilen richte ich mich auf und blicke langsam nach oben, als müsste ich gerade einem wichtigen Gedanken den Vorrang vor dem Text geben und ihm nachgehen. Ernst knabbere ich meine Lippen von innen. Doch da ist nichts, ich erschrecke nur ob der Leere.

Dieser Ort befindet sich in einem bleischweren Zwischenstadium, dem man sofort zutraut, dass es ewig dauere. Es scheint mir, diese Station wolle sich bei mir rächen, mich herausreissen, aus meinem modernen und achtlosen Leben. Weil ich sie bis jetzt aus dem Schnellzug heraus und in den wenigen Sekunden, in denen ich sie in voller Fahrt jeweils sehen konnte, kaum beachtet hatte. Wenn ich überhaupt mal hinblickte, fragte ich mich höchstens, wer da wohl auf dem kahlen Teerplatz auf die Bummelzüge warten würde. Schüler vielleicht, Junge mit Ausweisentzug und Alte mit dem Auto in der Garage; und ich fragte mich manchmal, welchen Morgens wohl die Nadelstreifenscheibe endlich versprayt sein würde. Nun war ich selber da und fand nicht einmal für mein eigenes Dasein eine Geschichte.

Schon der ganze Tag schien schummrig und verschwommen; noch unvorbereitet, als er schon anbrach. Ich schlafwandelte mich durch meine Arbeit, freute mich auf einen bedeutungslosen Feierabend. Mit dem Verstreichen der ersten Minuten hier aber offenbarte sich auf einmal die ganze Einöde meiner Gefühle und Gedanken. Und hier gibt es nichts zum Greifen oder Halten, nichts zum sehen oder riechen, keine Unregelmässigkeit, die mir ein Geheimnis verriete. Nichts als Zweck aus Glas und Glanz aus Chrom.

Keine Freude heute; kein Mut, die Leute hier zu studieren oder sie anzusprechen. Keine Lust, der alten Dame neben mir beim Kreuzworträtsel zu helfen, obschon sie mich stets lange ansieht, wenn sie nicht weiter weiss. Nur das Suchen nach der Frage, die mich beherrscht wie ein Traumbild, dessen Existenz ich fühle, an das ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Alles Durchgehen des Erlebten, alles Abhorchen des Gedachten, es führt zu nichts. In diesem zeit- und gehaltlosen Warten in dem fehlerfrei kalt geformten Häuschen scheint jeder fortgesetzte Gedanke, scheinen Liebe wie Trauer lächerlich, ja überflüssig. Hier spielt nichts eine Rolle. Von hier muss man nicht mehr weg, muss man nirgends mehr hin.

Als der Bahnersatzbus uns schliesslich aufnimmt, ist mir sogleich, als hätte ich die ganze Reise darin verbracht. Die Erinnerung an den Glaswürfel rinnt im Regen davon, und ich döse im wippenden Sessel, bis in der Stadt mich die Fahrerin weckt.
sravana - 26. Aug, 10:12

bei

uns, ist auch noch ein solcher Bahnhof. Nur steht das alte Häuschen noch.
Halt auf verlangen und eine Gegensprechanlage! Wie lange wohl noch?

moccalover - 26. Aug, 10:38

Noch lange, hoffentlich! Mittlerweilen sind ja oft Wohnungen oder kleine Betriebe, Restpostenläden und Armyshops in diesen Häuschen. Ich bin kein Chalet-Fan, aber diese immer ähnlichen Bahnhofs-Häuschen habe ich in mein Herz geschlossen. Ja, die Gegensprechanlage für Verspätungsauskünfte, dieses Sinnbild der Einsamkeit, des Weit-ab-seins...
sravana - 26. Aug, 19:42

Falls

es dir nichts ausmacht, würde ich nächste Woche gerne unser "Bahnhöfli"
in meinem Blog zeigen, mit einem Link auf deine nachdenkliche und schöne Geschichte.
moccalover - 27. Aug, 15:15

das macht mir überhaupt nichts aus, im Gegenteil: es würde mich freuen! Bin gespannt auf das Bild vom Häuschen...

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