Hein

Neulich, ich glaube letzten Freitag, hatte Hein Geburtstag. Hein Simons, der teddyäugige Sängerknabe von den Plattencovern, die ich schon als Kind beschämend altmodisch fand, wenn ich durch die Plattensammlung meiner Halbschwester blätterte und die Freiheit genoss, in ihrer kleinen Wohnung zu sein, in der nicht die Eltern, sondern nur sie herrschte.

Heintje ist der Diminutiv von Hein und war des Knaben Künstlername; so nannte ihn auch der Radiosprecher, da er für die Frühaufsteher alles Wesentliche in kurzen Worten zusammenfassen musste. Aber mit seinen fünfzig Jahren wollte die holländische Verzärtelung nicht mehr passen. Ich musste es schon um sechs Uhr gehört haben, als mich der Radiowecker zum ersten Mal störte, doch das war nicht wirklicher als jedwede Erinnerung an einen Traum aus seichtem Schlaf. Und ich hörte es wieder um halbsieben und um sieben. Heintje war 50 und damit nicht mehr Heintje.

Ich beschloss, das zu feiern, nachdem die Nachricht schon zum vierten Mal wiederholt worden war; und als ich noch den Rauch sah, und bemerkte, dass ich meinen Kaffeekocher ohne Wasser auf die Flamme gestellt hatte, war mir klar, dass dieser Beschluss keine Ironie bleiben dürfe. Ich setzte eine Mail auf, doch das Modem wollte noch nicht wach sein, die Verbindung schlug wieder und wieder fehl. Ich würgte den Computer ab, verfluchte meinen Beruf und rief auch nicht an.

Ohne ein einziges Mal in den Spiegel geblickt zu haben, ging ich bald darauf die Treppe hinunter und versuchte, die Asche meiner Zigarette möglichst geschickt durch den Schlund zwischen den Treppen und ihren Geländern zu werfen. Ich musste nicht weit gehen, am Bahnhof war ich rasch, und dort gibt es diese Ansammlung von Wokküchen, Sandwichständen, Bratereien und Fischbrötchenverkäufern mit ihrer gemeinsamen Bahngastraststätte, diese Tische aus Chrom mit den runden Mustern auf der Fläche und den Aschenbechern aus Aluminium. Gleich gegenüber sind die weitaus provisorischer eingerichteten Schmuck- und Bonbonverkäufer. Hier ist jeder geduldet, hier herrscht wahre Freiheit.

Nirgends konnte mir für meine Feier mit Hein so wohl sein, nirgends hätte ich mehr Ruhe gefunden als hier, inmitten des unerschöpflichen Pendler- und Ausflüglergewühls, das an mir vorüberströmte; manche blickten mich lange an. Aber ich feierte, und das war für mich ein wichtiger Grund, warum ich mich nicht über ihre fragenden Blicke ausfragte. Ich wollte bei Hein sein, den ich nie gekannt hatte, und der vielleicht auch nie jemand nahe hatte. Und der nie mehr Heintje sein würde.

Ich hatte es gar nicht versucht, einen Kaffee zu bestellen oder vielleicht Tee. Dass das nicht ging, war mir klar, seitdem zuhause die Kaffeekanne geraucht hatte. Ich trank Bier, fühlte mich rebellisch und erbärmlich, und doch geschützt vor den Blicken, durch die abweisende Kühle von Neonlicht, Chrom und Aluminium. Allein die schöne Frau mit dem roten Jupe und der rotweiss gestreiften Bluse bewegte sich frei in diesem Licht aus Stahl, und sie durchdrang den Wall. Sie mochte Studentin sein, und sie war offensichtlich nicht fröhlich darüber, am frühen Morgen zu arbeiten. Nicht, dass sie nicht anständig gewesen wäre, doch sie war voller Steifheit, um nicht auszurasten und dann einzuschlafen.

Ob ich wirklich gross gesagt hätte, fragte sie, mit Bezug auf das nächste Bier, in grösster Routine, recht höflich und sehr ernst. Es kam plötzlich, nach dem vierten Bier, und es war knapp halbelf. Ich hätte mich stark konzentrieren müssen, um die Konsonanten in meinem Mund nicht zur Unkenntlichkeit zu vermischen. Aber jasagen, das ging noch, und ich lächelte schwer. Gerade ihre perfekt gelungene Bemühung, keine Regung hierauf zu zeigen, machte klar, wie sehr sie mich verächtlich bedauerte.

Später ging ich nach Hause, weil ich müde wurde. Als ich auf dem Weg dahin, gegen Mittag, in der Fussgängerzone die Familien sah, die ihre Ferienzeit mit Einkaufen auffüllten, spürte ich die Frage; ich spürte dauernd, wie sie hinter mir herging und sich sogleich versteckte, wenn ich mich umsah. Ich beschleunigte, aber sie kam nach, und ich verstand, dass ich nicht wusste, wo ich in diesem Tag war. Ich begriff, was diese Familien taten, und dass sie auf der Suche nach ihrer Lieblingspizzeria waren, wo der Vater seine Gorgonzolagnocchi essen würde; aber ich, ich war für mich in diesem Stadtstillleben wie ein schummriger Fleck, der auf dem Bild umherhüpft, ohne dass man ihn mit den Augen wirklich festsetzen könnte. Mein Leben hatte sich verschoben, lag in fünf Dimensionen quer zu dem, was ich sah und wo ich war. Ich war in diesen Strassen ein Hologramm, das nur sich selber sieht.

Ich spürte grosse Kraft in den Beinen, doch meine Augen fielen mir fast zu, als ich die Treppe wieder hinaufging. Vom zweiten Stockwerk an gab ich nach, griff zum Geländer und stieg blind empor. Das letzte, was ich auf dem Fussboden vor dem Kochherd fühlte, war die grosse Ehrfurcht vor der Zeit, die ich nie erlebte, als man noch derart altmodische Plattencover gestaltete. Hein würde nie mehr Heintje sein.
sravana - 21. Aug, 14:13

Der Lauf

der Zeit, führt zur Vergangenheit und zur Vergessenheit aber manchmal
auch zur Wehmuth.

moccalover - 21. Aug, 17:27

Allerdings! Und wehmütig macht mich vor allem der Gedanke daran, dass ich Momente achtlos verstreichen liess, die mit all ihrer Gewöhnlichkeit heute doch so wertvoll erscheinen. Aber das gehört wohl zum Älterwerden. Reue ist da fehl am Platz, nur manchmal, da überkommt es einen eben...

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