duftluft.

Herr Tobler würde sich eine solche Sprachschöpfung wohl verbitten; doch man könnte durchaus sagen, dass er manchmal einer Art Geruchsvoyeurtum nachgeht. Es geht ihm dabei nicht darum, im Gedränge einer samstagnachmittäglichen Fussgängerzone das Parfüm einer Dame zu riechen, die ihm in der Not direkt vor die Füsse gestanden ist. Unter diesen Umständen kann er sich nicht auf solche Dinge konzentrieren; die Vielfalt der Gesichter, Gerüche und Geräusche in Menschenmengen bettet ihn zumeist in Duseligkeit. Herr Tobler achtet aber oft darauf, in der Eisenbahn einen Korridorsitz zu nehmen. Sobald der Zug fährt, die Reisenden ihr Gepäck verstaut und sich gesetzt haben, beginnt die Luft im Wagen sich zu beruhigen, und bald steht sie fast still, als ob das leise Surren der Lüftungsanlage sie schläfrig werden liesse.

Die Anlage saugt so fein, dass sie die Gerüche erst nach einer kurzen Weile schwächt, bevor sie sie zum Verschwinden bringt. Daher muss Herr Tobler jeweils warten, bis im Wagen die letzten warmen Speisen mit Lammfleisch aufgezehrt und einigermassen verdaut worden sind. Danach wird die Luft still und homogen, ausser, wenn Menschen durch die Wagenmitte schreiten. Immer dann, wenn diese schon drei Schritte an Herrn Tobler vorübergegangen sind, wird sein Gesicht vom Luftwirbel erfasst, der dem menschlichen Gang hintennach eilt. Auf diesen Moment hat er sich vorbereitet, indem er ausatmete. Sobald der feine Luftzug ihn erreicht, atmet er ganz vorsichtig und sanft ein, studiert den Geruch in der Nasenspitze wie einen alten Bordeaux auf dem Gaumen.

Natürlich mag er Frauengerüche besonders gerne, denn Kinder riechen häufig nach weichem Zwieback, und von Männern breitet sich zumeist dasselbe Rasierwasser aus, oder es sind bei ihnen nur die Faulsäuren schlecht getrockneter Jacken wahrnehmbar. Ihn interessiert eigentlich nur der Körpergeruch, nicht ein aufgetragener Duftstoff, doch bei Gesichtscremes gegen trockene Haut kann er sich nur sehr selten ganz verweigern. Das ist vielleicht so, weil er sich Frauen seit jeher nur in engstem Zusammenhang mit Cremes aller Art vorstellen kann. Er befürchtet manchmal sogar, dass das, was er zweifelsfrei als genuinen und zudem betörenden Frauengeruch festgestellt hat, vielleicht doch bloss das Ergebnis einer Kombination von Düften ihm noch unbekannter Pflegemittel und Kosmetika sei.

Manchmal sitzt Herr Tobler den ganzen Nachmittag über im freskenüberhangenen Lesesaal der Stadtbibliothek und liest, unter all den lernenden Studenten, einen geschichtlichen Roman über Intrigen in verblichenen Kaiserdynastien, oder eine Geschichte mit Protagonisten, die über ihr Leben sinnieren. Er las einmal bei einem Autor von der abstrakten, freien Zukunft, die der Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenensein gegen die konkrete, bestimmte, unveränderbare Zukunft eintauschen muss. Und weil er über seine eigene abstrakte Zukunft nicht hatte verhandeln wollen, weil sie ihm dann einfach abhanden kam, fühlt er sich bei Studenten wohl, bei diesen Inbegriffen des hinausgezögerten Könnte-Seins.

Zwischen den Zweierlesepulten gibt es auch in der Bibliothek einen Mittelgang, in dem Durchschreitende die Luft aufwühlen und für kurze Zeit mit ihrem Geruch anreichern. Manche riechen nach gekochtem Öl und altem Zigarettenrauch; andere wiederum nach ihrem Kopfkissen oder ihrem Feinwaschmittel. Hat Herr Tobler Glück, so setzt sich eine fein duftende Studentin neben ihn (er kommt vorsichtshalber schon in der Mittagspause, wenn noch die meisten Pulte ganz unbesetzt sind; so muss nicht er um einen Platz bitten), wobei er hier (es geht ja um den ganzen Nachmittag) auch mit guten Parfüms Vorlieb nimmt. Er streicht ab und zu eine besonders gute Passage seines Buches mit grünem Leuchtstift an, um sie später wieder zu finden; obwohl er weiss, dass er sie nie mehr suchen wird, dass er das nur hier tut und nur, um sich dem wissenschaftlichen Tun um ihn herum anzugleichen.

Damit sich seine Nase nie zu sehr an den Duft seiner Nachbarin gewöhnen kann, wischt er sie regelmässig gründlich mit einem Tuch ab und schnuppert dann von neuem; unhörbar langsam durch die Nase, mit dem Gesicht tief in den Textzeilen. Er liest nie sehr viel, denn in der Ruhe, die ihm hier verordnet ist, bringt ihm der andauernde Duft der Nachbarin mit all seinen Facetten Gedanken und Erinnerungen, die ihn forttragen.
TheSource - 10. Jan, 00:35

Auch in der Menge. Manchmal.

Stehenbleiben und jemandem ganz nahe kommen, die Nase fast schon im Mantelkragen. Getarnt vom Gedränge. Gelernt, das sinnliche Gesicht, ganz unlüstern, aber das wissen die ja nicht, zu verbergen. Die Augen schliessen. Und es atmen.

Ach ja: Herr Tobler täuscht sich in Bezug auf Männer (oder sitzt in falschen Zügen). Es gibt Männer, deren Geruch ist wie Eden. Unaufdringliche Paradiese ziehen vorbei. Olfaktorische Vollendung: Der Geruch genau über dem Busen dieser Männer, unmittelbar über dem Herzen: Kosmos. Vital und warm.

moccalover - 10. Jan, 00:51

ja, die Menge ist tatsächlich intim, und das in all der scheinbaren Anonymität.

Ich bewundere Ihre Beschreibung der Männerdüfte. Und weil nichts so direkt mit unseren Gefühlen verknüpft ist, wie der Geruchssinn, so meint Herr Tobler, ist die Schärfe unseres Geruchssinns auch unseren Vorlieben nachgebildet.
TheSource - 10. Jan, 14:43

Herr Tobler irrt nicht,

unsere Vorlieben agieren im sog. "Reptilgehirn" vollkommen dominant, das erklärt auch, warum uns Menschen bspw. auf Anhieb sympathisch oder unsympathisch sind - ganz unbewußt läuft dies über den Geruchssinn ab. Auch irrt Herr Tobler nicht bezüglich meiner Beschreibung: Sie spiegelt meine Vorlieben wieder :-)
moccalover - 10. Jan, 21:42

Ist dieser Gehirnsteil das, was im Wesentlichen uns die Reptilien gebracht haben. Doch stopp, wir stammen ja nicht direkt von den Reptilien ab, sondern höchstens von gemeinsamen Vorfahren. Ich kenne mich auf dem Terrain nicht aus, wie man sieht. Jedenfalls: Wir können die Welt und die Menschen im Besonderen nicht ohne Farbe sehen; nicht ohne Farben, die wir selber mischen. Und immerhin ist es beruhigend, dass wir es doch schaffen, uns weiterzuentwickeln und Vorurteile, die im ersten Moment durchaus von grösster Hilfe sind, auch mal über den Haufen zu werfen.
Bettgeflüster - 10. Jan, 17:23

von der nase bis zum limbischen system sind es nur ein paar synapsen. herr tobler hat schon recht, wenn ihm die düfte zu kopfe steigen, manche erinnerungen oder emotionen wecken, die sich dort zu einzelnen bildern immer schneller aneinander fügen, bis daraus ein kleiner kurzer film destilliert ist, den er - ist ihm der aromatische ursprung sympathisch -. noch ein wenig weiter atmen kann - auch lange noch nachdem sich das Odeur bereits verdünnisiert hat.

moccalover - 10. Jan, 21:39

Oh ja. Aber so sicher, wie bestimmte Gerüche ganz bestimmte Vergangenheitsstücke ins Gehirnzentrum drücken können, so sicher scheint mir, dass die Erinnerung an einen Geruch selber, ja die Vorstellung eines Geruches schlechthin, der nicht gerade verfügbar ist, dass das etwas vom Unmöglichsten ist. Keine Empfindung lebt so sehr von der Unmittelbarkeit, so geht es jedenfalls mir; bildliche Vorstellungen erscheinen dagegen kinderleicht.
Bettgeflüster - 10. Jan, 21:53

es ist schwerer - aber nicht unmöglich. so wie sich mit viel konzentration und emotion geschmäcker von würzigem backwerk oder süßen früchten auf die zunge legt, so kriechen sie von dort auch in die nase. schwächer freilich. zärtlicher. aber nicht unmerklich.

aber es stimmt schon. bilder mit worten zu formen ist leichter.
Ole (Gast) - 12. Jan, 11:04

Mir ist es schon häufiger gelungen. Wenn ich an Weißrussland denke, an den Braunkohlegeruche auf dem Bahnhof in Minsk, den ich dort gerochen habe, klettert auch ein Hauch des damaligen Geruchs aus den Gedächtnistiefen der Erinnerung wieder ins Bewusstsein.
moccalover - 12. Jan, 22:23

Ich kenne den Braunkohlegeruch nicht von Nahem, versuche aber, mir mit der Vorstellung des Geruches von Holzkohle zu behelfen. Im Übrigen: verspürst Du bei dieser Erinnerung ein Schaudern, oder lese ich falsch zwischen Deinen Zeilen?

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