ich selber.

Warum auch nur denkst du, dass das eine vergeudete Zeit gewesen wäre; dass die kurze Zeit, in der du zuhause herumsassest, besser war als jene, die du erlebt hättest, wenn du gemütlich die Strasse hochgegangen wärest, auf den Mauern neue Schriften gesucht hättest, gelassen anstatt gehetzt durch die Unterführungen gegangen wärest? Es hätte vielleicht sogar noch ein Kaffee dringelegen. Aber jetzt ist es gut, jetzt hast du die Beine ja schon gestreckt, die Füsse auf die Tasche gelegt, die auf dem Sitz gegenüber liegt. Die Tasche wird alt. Passt sie noch zu dir? Willst du noch diesen Kontrast? Ja, aber sicher doch!, das wirst du jetzt sagen, nicht wahr, ich kenne dich doch. Du willst alles zugleich haben, und alles zugleich sein. Nur keine Entscheidung treffen, die wirklich Folgen hätte. Und überhaupt, hast du dich vorhin im Spiegel unter den Kleiderhaken gesehen? Du bist ganz bleich und hast Augenringe. Das kümmert dich nicht, aber darum geht es mir ja auch nicht. Schlaf doch wieder einmal. Ja, natürlich solltest du schreiben, wer sollte das nicht. Du magst es ja, die Welt selber zu kontrollieren; herauszuputzen, was dir in Form, Farbe und Ton gerade passt, und vergessen, worüber du nicht denken magst; die Menschen wie fernbediente Roboter bewegen und mit deinen Ideen auffüllen. Sie einfach erleben lassen, was deiner Meinung nach sein könnte. Aber hast du dir schon einmal überlegt, wie abgeschrieben alles ist. ‚Abgeschrieben’, nicht im Sinne von kopiert, sondern wie abgegriffen; nicht physisch abgegriffen, sondern geistig. Was siehst du denn, die Bäume sind kahl und verweigern sich jeder Schönfärberei, die Menschen brauchen alle gleichzeitig jetzt ihre Ruhe; und du sitzt allein in diesem Sechserabteil, das auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke sanft vibriert und ein wenig ruckelt, wenn es ausnahmsweise über Weichen fährt. Sonst nichts. Du solltest dir die Nichtigkeit dieser halben Stunde, in der du hier sitzt und so schnell fährst, dass du eigentlich nirgendwo bist, zunutze machen – du solltest einfach mal nichts tun. Du solltest die Lücke, in der du nichts zu tun hast, ausser deinen müden Geist zu beschäftigen, gar nicht erst aufzufüllen versuchen. Nein, nicht einmal musikhören, nur dasein. Ach, wegen mir kannst du das nicht? Ich bin schon weg, ich lass’ dich sogleich in Ruhe. Wir haben uns so lange nicht gesprochen, dass ich das nun schon ein wenig auskosten möchte. Das Abteil hier riecht verreist; zufällig haben sich hier tausend Gerüche eingefunden, sind hängen oder kleben geblieben und dann gemeinsam alt geworden. Damit lässt sich doch etwas anfangen, nicht? Ich soll dir nicht so kommen? Na, wie denn sonst, ich bin ja nicht an deiner Stelle, ich kann die Dinge nicht berühren. Mach deine Nase auf, und schalte dein Programm aus. Ich weiss, ich sollte schon weg sein. Aber schau doch einmal zur Fensterscheibe. Siehst du dich? Du siehst doch bloss zwei Augen, die dich fixieren, und einen Kopf darum herum. Oh, das fühlt sich alles so fremd an? Du siehst nur die Augen oder den Kopf, aber nie alles zusammen? Du siehst nicht, wer sich hinter diesen Bildern versteckt? Nun, deswegen bin ich hier und helfe dir ein wenig. Aber du wolltest mich weghaben, ich verstehe dich, du bräuchtest ja wirklich bloss Ruhe. Und bitte, versuche doch, deine Aggressivität ein bisschen zu dämpfen, schliesslich sitzen wir doch im selben Boot. Ich gehe jetzt. Mach doch, was du willst, ich hab’s dir wenigstens gesagt. Das ist übrigens ein Ruheabteil, mein Lieber. Zu deinem Glück bist du alleine. Und, naja, wenigstens sprichst du jetzt wieder mit dir selber.
sravana - 17. Nov, 00:31

danke für die Beiträge! Sie werden meine Bettlektüre sein.
Evtl. kann ich dann etwas dazu schreiben.

moccalover - 17. Nov, 00:38

lies nicht zulange :-), und schlaf gut!
dnepr - 17. Nov, 00:55

ich habe länger gebraucht um zu verstehen mit wem du redest. vielleicht sollte ich auch mal anfangen selbstgespräche zu führen, anscheinend befreit es .

moccalover - 17. Nov, 01:00

und wie! Natürlich nicht immer und nicht allzu viel, sie können auch fesseln, wenn sie repetitiv werden. Aber die Kontroverse in einem selber kann Erstaunliches hervorholen.
_sophie_ - 17. Nov, 18:43

"Du siehst nur die Augen oder den Kopf, aber nie alles zusammen?"

Sie sind ein Wortzauberer, ja, das sind Sie!

moccalover - 17. Nov, 23:09

Und Sie sind einmal mehr sehr lieb zu mir, ja, das sind Sie! Danke.

Kennen Sie das Bild?
Bunbury (Gast) - 18. Nov, 16:23

Bei Ihrem Text und dem im Anschluss gelesenem Wort „Bild“, unten im Kommentar, da musste ich spontan an Edward Munch („Der Schrei“) denken. Allerdings wird diese Assoziation wohl mehr Aufschluss über den Leser als über den Verfasser verraten.
sravana - 18. Nov, 21:19

ja

ein Bild, das gut in die heutige Zeit passt!
moccalover - 18. Nov, 23:14

Wie recht Sie haben, Herr Bunbury! Aber das sage ich nur, weil das nicht nur bei Ihnen, sondern bei allen zutrifft. Es ist ja ein Gemeinplatz, dass Kritik mehr über den Kritiker sagt als über den Kritisierten. Nicht dass ich Ihren Kommentar als Kritik verstanden hätte, aber man sagt es halt so. Das führt mich dann zur Verallgemeinerung, dass jede Aussage mehr über ihren Urheber aussagt als über ihren Gegenstand. Jedenfalls eine sehr spannende Assoziation: Erstens kann ich jetzt darüber nachdenken, wie Sie wohl darauf kommen, warum Sie bei diesem Text an dies gestohlene Gemälde denken (natürlich kann ich keine Antwort finden, doch ist das nicht mein Ziel). Und zweitens kann ich mir diese Assoziation zunutze machen, da ich darauf nie gekommen wäre, aber gleichzeitig spüre, dass sehr viel dran ist. Es ist eben, und da weiche ich vom anfangs zitierten Spruch dann wieder ab, durchaus möglich, die Kritik oder die Aussage, die ja angeblich nur über ihre Autoren sprechen sollen, für sich zu nehmen und sich einfach einmal die Frage zu stellen, ob man es selber auch so sieht; ganz losgelöst von der (auch interessanten) Frage, was den Autoren dazu trieb, solches zu denken oder zu sagen. Der 'Schrei' ist für mich eins der kraftvollsten Gemälde, die ich kenne; und es zeigt nicht nur deswegen einen stummen Schrei, weil Gemälde nicht tönen. Es zeigt den stummen Schrei an und für sich. Und da sehe ich die Parallelen, die Sie (vielleicht, wahrscheinlich?) auch gesehen haben.

Ja, Sravana, die Menschen schreien heute stumm, weil schreien leider verpönt ist. Und auch, weil sie sich viel eher bewusst werden als früher, wenn sie schlecht behandelt werden.

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