wissen müssen

Diese Strasse wurde geopfert und vergessen. Sie liegt gleich hinter der scheinalten Altstadt; sie schluckt tags und nachts den Verkehr, den man aus der Kopfsteinpflasterzone vertrieben hat. Jeder kommt hier einmal durch, der sich auf dem Parcours der Einbahnstrassen dieser Stadt fortbewegt, doch keiner, der diese Strasse je verlassen hat, kann sich im darauffolgenden Augenblick noch an sie erinnern. Es ist allen, als wäre zwischen den letzten beiden Ampeln nichts passiert, als hätten sie kurz gedöst und nichts mitbekommen, und nicht einmal das bemerkt jemand.

Diese Strasse hat breite Trottoirs, aber gar keine Läden, nur schwerfällige, hochgeschossige, hundertjährige Verwaltungsburgen, die heute menschenleere Server- und Datenräume beherbergen. Die Mauern sind dunkelgrau und alle auf einer Linie, und die untersten Fenster sind weiter oben als jeder Kopf, ihre weit herausragenden Simse verstellen sämtliche Sicht ins innere. Auf sichtbarer Höhe sind bloss die kleinen Kellerfenster mit Schmiedeisengittern, die hinter einem dicken Rahmen vom Inneren der Wand her das Schwarze hervorgucken lassen.

Ein Blechkasten mit zwei verspiegelten Augen wacht über die Fahrzeuge, die durch diesen Korridor rasen und breite Linien, gesprenkelt von weissem Schaum, durch das Regenwasser ziehen. Ab und zu schickt er orange Blitze zu Boden, die zu den Häuserwänden zurückfallen, erlischt sogleich wieder und bewegt sich nie. Nina geht schnell, aber nicht auf gerader Linie, sie trägt zwei schwere Papiertaschen, deren Schwung sie mal auf die eine, mal auf die andere Seite ausschweifen lässt. Die Butter ist wohl weich geworden, und die Eierschwämme pampig. Sie war nach dem Einkaufen noch im Kino, und dann in der Kinobar beim Portwein, weil der Humor des Films es nicht vermocht hatte, auf sie überzugreifen. Sie war fünf Gläser lang geblieben und hatte mit dem dünnen Mädchen an der Theke, das sich wie jeden Dienstagabend langweilte, ein nettes Gespräch über Studiengebühren und Assistenzärzte geführt. Jetzt war sie alleine und musste hier durchgehen, wo kein Schaufenster mehr ihr Abwechslung bot, keine Bar mehr sie mit Versuchung ablenken konnte. Nur Mauern, Boden, Stein, Teer; und Autolichter.

Sie hätte es wissen müssen. Damals, Nina, da hast du noch Katharina und den anderen erzählt, wie süss er sich herausgeredet und behauptet hätte, Anna sei seine Cousine. Natürlich hast du die Lüge rasch erkannt, aber da trennte er sich schon von Anna, und nicht viel später fing alles so schön an. Du dachtest oft an die Lüge, doch du fandest sie süss und vollkommen ohne Schuld. Du fandest sie nur süss, weil sie für dich geschah. Dachtest du – für dich. Es war für ihn, alles nur für ihn, für seinen Egoismus. Du hättest es wissen müssen. Ich werde die Eierschwämme wegwerfen, und ich werde eine neue Wohnung gefunden haben, ehe er zurück ist. Ob er ihr gesagt hat, dass ich seine Tante sei?

Nina fasste die feucht gewordenen Papiertaschengriffe mit den Händen nach und drückte die Finger fester zusammen. Sie zog ihren Kopf nach oben und atmete tief ein. Nur noch fünfzig, hundert Meter, dann die Gasse hinab und zur Türe hinein. An der Ampel vorne sass ein Mann im Fenstersims eines Kellerfensters; er musste sich ducken und den Kopf ein wenig hervorstrecken, weil der Leerraum nur bis zu seinem Nacken reichte. Zwei Krücken lehnten an der Wand, und eine Bierdose stand neben dem sitzenden Mann. Er blickte ängstlich zu ihr hoch, wie sie an ihm vorüberschritt. Sein Fussverband war von der nassen Strasse geschwärzt worden. Gestern noch hatte sie am Bahnhof oben zwei Franken für ihn aus der Hosentasche geklaubt. Sie wich seinem Blick nach kurzem Verhaktsein darin wieder aus. Und du wolltest traurig sein, Nina. Da, das ist traurig, mein Mädchen. Schäme dich.
sravana - 14. Nov, 08:00

oft nützt auch Einsicht nicht, zum Vertreiben eigener Traurigkeit.

moccalover - 14. Nov, 23:32

wie recht du hast - die Einsicht, diese ewig falsche Freundin im Kampf gegen böse Gefühle! Ich möchte sie natürlich nicht missen, denn ihr verabscheuenswertes Klugscheissertum gerade in harten Momenten ist oft der Stachel, den man nicht mehr spüren möchte und an den man dann denkt, später, bei Entscheidungen.
_sophie_ - 14. Nov, 08:55

Wenn ich mir bei Ihnen was wünschen dürfte, würde ich mir wünschen, dass sie diese Erzählung fortführen.

moccalover - 14. Nov, 23:35

da bin ich erstaunt und erfreut! Und mir bleibt nur mein Wunsch, dass der Ihrige sich erfüllen möge. Die Überlieferung stoppt hier eigentlich, doch vielleicht gelingt es mir doch, Neues zutage zu fördern, oder Neues ganz einfach zu extrapolieren, sprich zu erfinden.
_sophie_ - 15. Nov, 15:42

Es ist eine einzigartige, schwere und doch irgendwie süsse Stimmung in dieser Erzählung, die mein Herz pochen liess und nach mehr verlangt hat, mehr von der Bitterkeit und der Süsse in Ihren Worten.

Ich würde mich freuen, würden Sie noch ein Stückchen weiter gehen und mich den Spuren folgen lassen.
moccalover - 15. Nov, 23:12

ich spüre Lust dazu, weiterzufahren. Ein neues Experiment. Schön, dass Sie mich dazu bewegen, das gibt mir einen Anstoss!
typekey:belinea - 15. Nov, 00:44

hast du kein plazt für mehr

moccalover - 15. Nov, 00:56

oh doch, aber ich kann nichts versprechen, das noch nicht geschrieben ist.
Au-lait - 15. Nov, 10:28

bonjour, tristesse...

großartiger Text, mein Gutester! :)

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