nebelschwer
Alles war flach und gleich an jenem Tag; nichts hatte Bedeutung, nichts stach hervor. Jede Ritze, jede Spitze der Welt wurde betäubend eingehüllt von Nebel; und der Nebel schluckte alle Farbe. Plakate leuchteten heute vergebens, der Glanz ihrer Welt wurde verschluckt. Und die Leuchtschriften über den Häusern waren blasse Wasserfarbtupfer in grauem Löschpapier.
Herr Tobler stand auf glatten Steinkacheln, deren gelbliches Weiss von fasrigen schwarzen Fleckchen durchsetzt war. Die Wände waren genau gleich bepflastert, allein dem Boden entlang zog sich eine Reihe schwarzer Kacheln, die vorstanden. In der feuchten, kalten Luft roch Herr Tobler aggressive, kaum parfümierte Reinigungsmittel im Zweikampf mit Urin auf Stein. Seine Hose war noch geöffnet, und nur durch seine nach vorn gebeugte Körperhaltung fiel sie ihm nicht in die Kniekehlen, als er am unzerstörbar verchromten Lavabo stand und seine Hände wusch. Er nahm keine Seife, obwohl ihm danach gewesen wäre, denn da war nur ein in die Wand eingeschraubter, abgekrümmter Metallstab, an dem Reste grünlicher Hartseife hafteten – und der Gedanke an die lange Dauer, während der die Seife jetzt schon da hing und abgegriffen wurde, schreckte ihn ab. Er schloss Knöpfe und Gürtel und trocknete die Hände im Futter seiner Hosentaschen ab.
Er trat wieder hinaus auf den Parkplatz. Und der schien ihm nun unendlich, weil die Dämmerung und der Nebel seine Grenzen verhüllten. Die grossen Lampen waren soeben eingeschaltet worden und liefen sich noch warm. Bald würde der Nebel mit dem einsamen Dunkelgelb der Fernstrassenlampen gezähmt. Unangenehmer Rauch biss sich in seine Nasenhöhlen.
„Auch eine?“ fragte ihn der ältere Herr, der beim Eingang des Toilettenhäuschens stand und zur Erklärung mit seiner gelblichen, filterlosen Marylandzigarette bedeutsam in der Luft herumstrich. „Oh, das ist nett – aber nein danke, ich habe heute schon zuviel geraucht“, log Herr Tobler verlegen. „Könnten Sie mich vielleicht ein Stück weit mitnehmen? Ich muss zu einer Brücke.“ – „Ich weiss nicht … also, ich könnte Sie schon mitnehmen, doch ich bin mir nun nicht sicher, ob der Weg, den ich noch vor mir habe, überhaupt noch über eine Brücke führen wird… Zu welcher Brücke müssten Sie denn hin? Ich könnte ja auch einen kleinen Umweg fahren, wenn Ihnen damit gedient wäre.“ Herr Tobler spürte, dass er sich schon nach dreissig Sekunden Konversation nicht mehr dafürhalten würde, sich wieder zurückzuziehen; und so hoffte er, die Angelegenheit in offensiver Weise rasch erledigen zu können. - „Kommen Sie, gehen wir ein paar Schritte! Wo steht denn ihr Wagen?“ fragte der Mann. Herr Tobler deutete zur Antwort auf eine Tanne, die über viele weisse Parkfeldlinien hinweg hinter schwadigem Nebel in der Ferne stand, und dazu hob er den Kopf flüchtig an und blickte in dieselbe Richtung. Er hatte nach der langen Fahrt ein wenig gehen wollen und den Wagen daher gleich bei der Einfahrt zum Rastplatz stehen gelassen.
„Wie sind Sie eigentlich hierhergekommen … hatten Sie eine Panne, einen Unfall? Und zu welcher Brücke möchten Sie denn nun?“ Der ältere Herr ging nicht sehr schnell; es würde dauern, und Herr Tobler wollte unbedingt verhindern, dass aus schweigendem Gleichschritt Intimität entstehe. Er fürchtete sich nicht - dafür war der Alte viel zu schmächtig, doch an diesem Tag, in dem er sich selber nicht zurecht fand, brauchte er Distanz, um sich nicht gänzlich zu verlieren in dieser Gleichgültigkeit des Grauschimmers auf der Welt. „Sehen Sie“, begann der andere langsam und bedeutungsschwer. Doch dem folgte nichts mehr nach, bis sie im Wagen sassen und Herr Tobler sich festschnallte.
Er fuhr vorsichtig und so langsam, wie es auf der Autobahn noch erlaubt war. Immer wieder flackerten Lichter überholender Wagen durch die Fenster und schlugen ästelnde Schatten ins Wageninnere, die im immergleichen Bogen von vorne nach hinten jagten und bald vom roten Schein der entschwindenden Rücklichter abgelöst wurden. Herr Tobler griff zwei oder dreimal in halber Länge mit der Hand zum Radio, währenddem sie beide noch immer schwiegen, doch stets liess er davon ab. Er hörte und roch den Atem des Alten, und er spürte eine Schwere in der Luft, die neben sich nichts zuliess. „Ich werde ein wenig Musik hereinlassen, wenn es Sie nicht stört“, brummte auf einmal der Alte, ohne sein Starren auf die Fahrbahntrennstriche zu unterbrechen. „So geht es besser.“ Herr Tobler war erstarrt und konzentrierte sich auf die Lenkung. Auch er blickte nicht zur Seite; er spürte, dass er damit alles zum Einsturz brächte. Auch wenn er nicht mehr wollte, dass sie überhaupt sprachen, war er bereit, alles zuzulassen. Der Moment hatte ihn.
„Sehen Sie – ich brauche eigentlich gar keine Brücke. Ich habe vor Jahren einen Menschen getötet.“ – „Ich bin verwirrt… meinen Sie das im Ernst? Und wieso eine Brücke und nun doch keine? Wollten Sie sich da etwa hinabstürzen?“ Herr Tobler blickte stur nach vorn, verlangsamte die Fahrt, blinkte beidseits und fuhr auf den Pannenstreifen. Er liess den Wagen ausrollen und beliess seine Hände auf dem Steuerrad, nachdem der Wagen angehalten hatte. „Ich habe heute genau vor achtzehn Jahren einen Menschen erwürgt. Sie war unschuldig, ich wollte es nicht tun, doch sie liess mir keine Wahl. Und ich habe nie dafür gebüsst. Keiner kam auf die Idee, dass ich es war.“
„Ich schwieg, denn ich hatte es ja nicht gewollt. Es gab damals einen Serienmörder, und dem hat man es dann angehängt; Fall Nummer acht. Das spielte keine Rolle, er hat sieben zugegeben, und länger als lebenslänglich geht nicht. Ich habe nie gebüsst, ich habe weitergearbeitet in der Sattlerei, dann wurde ich pensioniert, und immer habe ich gewartet. Ich freute mich über das Glück, das ich hatte und das mir die Freiheit liess. Doch nun habe ich zuviel Zeit, und heute wollte ich büssen. Doch dann traf ich auf Sie, und nun bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Lassen Sie mich hier bitte aussteigen!“ Herr Tobler regte sich nicht, sagte kein Wort und wartete, bis die Türe wieder geschlossen wurde. Langsam drückte er aufs Gaspedal. War der Mann irre? Oder wurde er, der Herr Tobler, jetzt nur wahnsinnig, weil das alles stimmte? War es ihm wirklich gleichgültig? War ihm gleichgültig, was der Alte nun tun möge? Der Nebel schluckte ihn; der Nebel schluckte alles.
Herr Tobler stand auf glatten Steinkacheln, deren gelbliches Weiss von fasrigen schwarzen Fleckchen durchsetzt war. Die Wände waren genau gleich bepflastert, allein dem Boden entlang zog sich eine Reihe schwarzer Kacheln, die vorstanden. In der feuchten, kalten Luft roch Herr Tobler aggressive, kaum parfümierte Reinigungsmittel im Zweikampf mit Urin auf Stein. Seine Hose war noch geöffnet, und nur durch seine nach vorn gebeugte Körperhaltung fiel sie ihm nicht in die Kniekehlen, als er am unzerstörbar verchromten Lavabo stand und seine Hände wusch. Er nahm keine Seife, obwohl ihm danach gewesen wäre, denn da war nur ein in die Wand eingeschraubter, abgekrümmter Metallstab, an dem Reste grünlicher Hartseife hafteten – und der Gedanke an die lange Dauer, während der die Seife jetzt schon da hing und abgegriffen wurde, schreckte ihn ab. Er schloss Knöpfe und Gürtel und trocknete die Hände im Futter seiner Hosentaschen ab.
Er trat wieder hinaus auf den Parkplatz. Und der schien ihm nun unendlich, weil die Dämmerung und der Nebel seine Grenzen verhüllten. Die grossen Lampen waren soeben eingeschaltet worden und liefen sich noch warm. Bald würde der Nebel mit dem einsamen Dunkelgelb der Fernstrassenlampen gezähmt. Unangenehmer Rauch biss sich in seine Nasenhöhlen.
„Auch eine?“ fragte ihn der ältere Herr, der beim Eingang des Toilettenhäuschens stand und zur Erklärung mit seiner gelblichen, filterlosen Marylandzigarette bedeutsam in der Luft herumstrich. „Oh, das ist nett – aber nein danke, ich habe heute schon zuviel geraucht“, log Herr Tobler verlegen. „Könnten Sie mich vielleicht ein Stück weit mitnehmen? Ich muss zu einer Brücke.“ – „Ich weiss nicht … also, ich könnte Sie schon mitnehmen, doch ich bin mir nun nicht sicher, ob der Weg, den ich noch vor mir habe, überhaupt noch über eine Brücke führen wird… Zu welcher Brücke müssten Sie denn hin? Ich könnte ja auch einen kleinen Umweg fahren, wenn Ihnen damit gedient wäre.“ Herr Tobler spürte, dass er sich schon nach dreissig Sekunden Konversation nicht mehr dafürhalten würde, sich wieder zurückzuziehen; und so hoffte er, die Angelegenheit in offensiver Weise rasch erledigen zu können. - „Kommen Sie, gehen wir ein paar Schritte! Wo steht denn ihr Wagen?“ fragte der Mann. Herr Tobler deutete zur Antwort auf eine Tanne, die über viele weisse Parkfeldlinien hinweg hinter schwadigem Nebel in der Ferne stand, und dazu hob er den Kopf flüchtig an und blickte in dieselbe Richtung. Er hatte nach der langen Fahrt ein wenig gehen wollen und den Wagen daher gleich bei der Einfahrt zum Rastplatz stehen gelassen.
„Wie sind Sie eigentlich hierhergekommen … hatten Sie eine Panne, einen Unfall? Und zu welcher Brücke möchten Sie denn nun?“ Der ältere Herr ging nicht sehr schnell; es würde dauern, und Herr Tobler wollte unbedingt verhindern, dass aus schweigendem Gleichschritt Intimität entstehe. Er fürchtete sich nicht - dafür war der Alte viel zu schmächtig, doch an diesem Tag, in dem er sich selber nicht zurecht fand, brauchte er Distanz, um sich nicht gänzlich zu verlieren in dieser Gleichgültigkeit des Grauschimmers auf der Welt. „Sehen Sie“, begann der andere langsam und bedeutungsschwer. Doch dem folgte nichts mehr nach, bis sie im Wagen sassen und Herr Tobler sich festschnallte.
Er fuhr vorsichtig und so langsam, wie es auf der Autobahn noch erlaubt war. Immer wieder flackerten Lichter überholender Wagen durch die Fenster und schlugen ästelnde Schatten ins Wageninnere, die im immergleichen Bogen von vorne nach hinten jagten und bald vom roten Schein der entschwindenden Rücklichter abgelöst wurden. Herr Tobler griff zwei oder dreimal in halber Länge mit der Hand zum Radio, währenddem sie beide noch immer schwiegen, doch stets liess er davon ab. Er hörte und roch den Atem des Alten, und er spürte eine Schwere in der Luft, die neben sich nichts zuliess. „Ich werde ein wenig Musik hereinlassen, wenn es Sie nicht stört“, brummte auf einmal der Alte, ohne sein Starren auf die Fahrbahntrennstriche zu unterbrechen. „So geht es besser.“ Herr Tobler war erstarrt und konzentrierte sich auf die Lenkung. Auch er blickte nicht zur Seite; er spürte, dass er damit alles zum Einsturz brächte. Auch wenn er nicht mehr wollte, dass sie überhaupt sprachen, war er bereit, alles zuzulassen. Der Moment hatte ihn.
„Sehen Sie – ich brauche eigentlich gar keine Brücke. Ich habe vor Jahren einen Menschen getötet.“ – „Ich bin verwirrt… meinen Sie das im Ernst? Und wieso eine Brücke und nun doch keine? Wollten Sie sich da etwa hinabstürzen?“ Herr Tobler blickte stur nach vorn, verlangsamte die Fahrt, blinkte beidseits und fuhr auf den Pannenstreifen. Er liess den Wagen ausrollen und beliess seine Hände auf dem Steuerrad, nachdem der Wagen angehalten hatte. „Ich habe heute genau vor achtzehn Jahren einen Menschen erwürgt. Sie war unschuldig, ich wollte es nicht tun, doch sie liess mir keine Wahl. Und ich habe nie dafür gebüsst. Keiner kam auf die Idee, dass ich es war.“
„Ich schwieg, denn ich hatte es ja nicht gewollt. Es gab damals einen Serienmörder, und dem hat man es dann angehängt; Fall Nummer acht. Das spielte keine Rolle, er hat sieben zugegeben, und länger als lebenslänglich geht nicht. Ich habe nie gebüsst, ich habe weitergearbeitet in der Sattlerei, dann wurde ich pensioniert, und immer habe ich gewartet. Ich freute mich über das Glück, das ich hatte und das mir die Freiheit liess. Doch nun habe ich zuviel Zeit, und heute wollte ich büssen. Doch dann traf ich auf Sie, und nun bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Lassen Sie mich hier bitte aussteigen!“ Herr Tobler regte sich nicht, sagte kein Wort und wartete, bis die Türe wieder geschlossen wurde. Langsam drückte er aufs Gaspedal. War der Mann irre? Oder wurde er, der Herr Tobler, jetzt nur wahnsinnig, weil das alles stimmte? War es ihm wirklich gleichgültig? War ihm gleichgültig, was der Alte nun tun möge? Der Nebel schluckte ihn; der Nebel schluckte alles.
moccalover - 28. Sep, 23:35
so mancher