Sonntag, 20. November 2005

lichter.meer.

Es ist Kirmes vor dem Fenster, die letzten Ahornblätter liegen zahlreich auf den Lebkuchenbuden, und die farbigen Drehlichter von umhersausenden Gondeln zeichnen flüchtige Bilder auf meine Zimmerwände. Ich folge den Lichtspuren und bin stets einen Hauch zu spät; sie lassen sich selbst mit den Augen nicht greifen.

Ich spürte gerne Sandkörner auf der Kopfhaut, wenn ich mit aufgefächerten Fingern mein Haar durchkämme; ich leckte gerne windgekühlten Schweiss von den Lippen, röche gerne Schlick und Algen, sähe gerne meine Hände salzgegerbt. Ich möchte so viel kalte Luft um mich herum, wie ich in meinem ganzen Leben nie atmen könnte. Ich kneife die Augen zusammen und wünsche mir, dass die Lichter auf meiner Wand sich beruhigen und zu einem gelben, einförmig wandernden Leuchtturmstrahl vereinigen.

Enten sehen.

Darf ich mich zu Ihnen setzen? – Aber ich bitte Sie, junger Mann, Sie sehen doch, es ist auf dieser Bank hinreichend Platz für uns vorhanden. Kommen Sie, die Sonne wird bald hinter den Bäumen verschwinden, geniessen wir noch diesen kargen Rest! Schieben Sie den Stock ruhig zur Seite, oder geben Sie ihn mir einfach. – Danke. Es ist wirklich besonders schön, die letzten Sonnenstrahlen eines Winternachmittags auf dem Gesicht zu spüren. Und diese Ruhe! Im Sommer machen die Enten hinten am See immer ein Riesengeschnatter! – Ja, das Geschnatter, ich höre es jetzt noch fast, so kurz ist das für mein Gehör erst her…Und doch knirscht das Gras am Morgen jetzt schon, und der Erdboden, ja sogar die Hügelchen aus Regenwurmkacke, sie sind hart und vereist. – Ich sehe den Enten hier immer gerne zu; besonders, wenn sie wassern. Der letzte Moment, diese Spannung, bevor sie aufsetzen und zischend ihre weisse Schaumspur über die schwarze Wasseroberfläche zeichnen … ich werde wohl nie auf das Geheimnis kommen; dieser Anblick beraubt mich für eine Sekunde meines Bewusstseins. Ich verharre in meinem Starren. … Wissen Sie, ich bin Schauspieler, und ich bin sehr unglücklich darüber, denn dieser Beruf hat mich meiner Persönlichkeit beraubt. Mit jeder Rolle, die ich einübte, mit jedem Theaterstück, das ich mir ansah, mit jedem Film, den ich studierte, gruben sich all die Charaktere tiefer in mich ein. Ich kann mich selber zwar noch ausmachen, doch diese anderen Menschen sind mir überlegen, ich bin grau und öd neben ihnen. Und so falle ich aus purer Ratlosigkeit immer tiefer in die eine oder andere der in mir verinnerlichten Rollen. So finde ich in jeder Situation einen Ausweg. Nur wenn die Ente ihre Füsse ausstreckt und gleich zu Wasser gehen wird, wenn mich nur noch diese Anspannung beherrscht, dann kann ich nicht mehr an Schauspiel denken.

Ich weiss, was Sie meinen, mit dem Wassern der Enten. Ein faszinierender Augenblick von wunderbarer Schönheit! – Darf ich Sie fragen … Waren Sie … waren Sie immer schon blind? – Ja, und nein. Ich wurde blind geboren, und vor zwei Jahren wurde mir ein Gerät implantiert, mit dem man mich zum Sehen brachte. Ein Chip, neueste Hochtechnologie, ein Versuch. Ich habe die Enten fliegen sehen, und ich habe die Kinder auf dem grossen Brunnen spielen sehen. Zuerst hatte ich Freude an der Bereicherung meiner inneren Bilder, ich war verhext von all den Farben und Details. Doch zumeist fühlte ich mich überfordert, überfüttert. Ich musste lange lernen, welche Dinge wie aussehen, und eigentlich fand ich mich nie zurecht. Ich schloss immer mehr wieder meine Augen und lebte wie bisher. Irgendwann habe ich mir den Chip dann ausschalten lassen. Ich bin ein alter Mann, und mir hat nicht besonders gefallen, was ich sah. Es hat mich verwirrt, es hat mich beunruhigt und nervös gemacht. Und es half mir auch kaum je weiter. Nur die Enten hier im Park, und die Kinder, an die erinnere ich mich gerne. … Und Ihr verhaltenes, staunendes Lächeln wäre mit Bestimmtheit auch ganz niedlich anzusehen.

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nuusche

 

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