Freitag, 4. November 2005

feierabendverkehr

Er dreht sich eine Zigarette, öffnet das Fenster und stützt seine Unterarme auf den Sims. Die metallene Verschlusskante des Fensterrahmens drückt in seinen Bauch. Er blickt auf die volle Strasse hinunter; es ist schon fast dunkel und es regnet stark. Der schwarze Teerbelag spiegelt jedes Licht, das ihn erreicht. Die orangenen Strassenlampen, die an Stahlseilen angemacht im Wind zwischen den Häusern baumeln; die roten, gelben und grünen Ampeln, die an den Wegweisertafeln über der Kreuzung konzertiert ihr Leuchten ändern; die Xenonscheinwerfer der Autos, welche die Spritzbögen ihrer Vorderfahrzeuge bläulich weiss erglühen lassen; die gelblich erhellten Zugfenster, die vorbeihuschen und die Reisenden im Daumenkino vorführen - all ihr Licht trifft sich im Schwarz des nassen Asphaltes.

Er bestaunt diese bunte Farbenwelt im Dunkel, die ihm wegen der im Kreise kurvenden Autokolonnen wie ein Jahrmarktkarussell vorkommt. Über die Brücke hört man Sirenen herannahen; hinter den Hochhäusern werden die Regenwolken von grünlichen Stadionflutlichtern beschienen. Der schönste aller Scheine aber kommt von den gelben Ahornblättern, die zu Tausenden im Regenwasser auf der Strasse, dem Spiegel dieser Verkehrsleuchtwelt, liegen. Noch, so denkt er, noch gebt ihr euer Letztes, um mich zu freuen; und ob all eurer Anstrengung selbst in eurem Sterben kann ich es euch nicht verdenken, dass ihr mich den ganzen Winter über alleine lasst, erst im Mai eure Nachkommen schickt.

Beim Fenster nebenan kommt kein Licht heraus. Der ist nun ausgezogen. Der andere feiert mit seiner Familie. Sie haben nun beide das Examen geschafft, das zum Leitmotiv seines nächsten Jahres werden wird. Er hat sich ein bisschen mit ihnen gefreut, aber vor allem sich zurückgelassen gefühlt. Welcher Egoismus sich offenbaren kann, wenn die Welt einem die Schultern ein wenig niederdrückt. Das kalte Discounterdosenbier, das er in seine Kehle schüttet, lässt ihn kurz schaudern und seinen Brustkorb verkrampfen. Und aus dem Bauch steigt langsam eine Wärme zurück zum Kopf; der Feierabend kommt an. Schöner, guter Feierabend, so sollst du sein, murmelt er, und zugleich denkt er daran, dass das nicht immer so sein kann, dass er doch alles einmal ändern wollte.

macker und tussen

SCHMEISST DIE MACKER IN DIE AARE! Das steht in riesigen weissen Lettern auf einem geteerten Weg dem Fluss Aare entlang. Da, wo man von der breiten Eisenbahnbrücke bis hinunter auf den Fluss, den Weg und das Freibad sieht. Da, wo an Sommersonntagen Hunderte barfuss über den heissen Belag flussaufwärts watscheln, um dann wieder hinunter zu schwimmen. Und gleich im Anschluss an die im gemütlichen Gehschritt zwanzig Sekunden lange Botschaft ist noch breiter, aber in dezidiert anderer Schrift gepinselt worden: UND DIE TUSSEN HINTERHER! Das alles stand jedenfalls lange Zeit selbst aus der Ferne gut lesbar da.

Herr Tobler weiss, dass es sich hier um eine Ausdrucksweise feministischer Denkart handeln muss. Macker – das sind schlimmstenfalls alle, und besserenfalls bloss die machohaften Männer. Aber letztlich können ja eigentlich doch alle Männer zu den machohaften gezählt werden. Solche Gedanken faszinieren Herrn Tobler. Und die Versenkung des Bösen im Fluss; diese ehrliche und blinde Radikalität, die aus alten Zeiten stammt, in denen es noch Eindeutigkeit zu geben schien, sie erwärmt seinen Bauch immer wieder.

Die Zuordnung des hinzugefügten Männerspruches jedoch fiel ihm immer schwer; nie hat er dieses Problem lösen können. Fast alles ist möglich – vom dialektisch denkenden und auch agierenden, ebenfalls feministischen Aktivisten, der die Selbstaufgabe der Frauen in körperästhetischen Oberflächlichkeitsfragen anprangert, bis zum enervierten Gelegenheitshiphopper, der sich in seiner zugelegten Ehre verletzt fühlte. Jedenfalls wirkt der Zusatz ungemein entlastend, ironisch und ausgleichend. Und die Diskussion kommt durch ihn, wie auch immer er ursprünglich gemeint war, erst recht in Fahrt, meint Herr Tobler.

Wenn eine Stadt noch so dörflich ist, dass es etwas gibt, das schlechthin alle tun müssen, dann, so dachte Herr Tobler nach seinem Zuzug, müsse er es auch tun, besonders wenn es eben doch freiwillig sei und man dadurch seine ganz besonders starke Zugehörigkeit beweisen könne. Sofort hatte er damals Gefallen an sommerlichen Bädern im kühlen Fluss gefunden, und jedes Mal, wenn seine Füsse die glitschigen Buchstabenstriche auf dem Weg überschritten, freute er sich über diese Denkanregung inmitten des vergessenden Vergnügens. Auch wenn er mit dem Zug gen Osten die Stadt verliess, empfand er ob dieser Erdreistung, ausserhalb der grossen Werbeplakate eine so grosse Fläche öffentlichen Raums derart geschickt für eine Mitteilung zu instrumentalisieren, leise Genugtuung und Anerkennung.

Wenn er inmitten der Leute, die vor, neben und hinter ihm schritten, den Weg hinaufging und verstohlen mal da, mal dort die Beine, den Rücken, den Gang einer Frau beobachtete, fühlte er sich als armer Macker, der nichts Besseres als das Ertrinken verdient hat. Und er wünschte den Frauen auch zuweilen, dass nichts anderes sie erwarte. Und so kam er manchmal mit sich ins stille Streitgespräch und heizte sich auf, weil die weiss gemalten Sprüche auf diesem Weg doch nicht zu vergessen waren. Erst im Wasser konnte er sich dann wieder beruhigen und seine Gedanken weglenken. Er war dankbar für die Sprüche, sie weckten ihn immer wieder.

Seit ein paar Monaten allerdings würde Herr Tobler, spräche ihn jemand darauf an, bei der Thematik der Wegbemalung sehr verärgert reagieren. Ohne dass er jemals bemerkt hätte, dass jemand anderes sich auch darüber ergeistert oder es zumindest wahrnimmt, hat die Bauverwaltung seiner Stadt dieses Kunstwerk nicht als solches erkannt. Sie hat es im Zuge der mit graugrüner Farbe durchgeführten Wiederherstellungsaktion für Betonflussmauern mitsamt allen sonstigen, ordinären Graffiti dem Teerboden gleichgemacht. Herr Tobler sieht wohl dem Grundsatz nach ein, dass der öffentliche Raum nicht unbegrenzt mit Mitteilungen verseucht werden darf; besonders nicht mit solchen, die niemand kommerziellen Vorteil bieten. Doch hier glaubt er an einen Kardinalfehler.

Herr Tobler fühlte sich traurig heute, als er im Zugbistro wieder über die Brücke fuhr, hinter einem schwitzenden Mann auf seine Teebestellung bei der deutschen Kellnerin und auf den Kassenbon wartete und nur noch mit Unterstützung seiner Erinnerung die Sprüche in den eintönig grauen Flecken auf dem Weg unten erkennen konnte. Er überlegte sich, ob er brieflich bei der Stadt intervenieren sollte. Der Stadtpräsident immerhin wäre der Letzte, der sich Kulturnähe absprechen lassen möchte. Und überdies war der auch schon einmal der Chef der Bau- und Antisprayabteilung. Zugleich aber dachte Herr Tobler, dass vielleicht die ignorante Beendigung des Kunstwerkes dessen einzigartigen Charakter erst recht veredelte und besiegelte.

so gut.

haben wir’s so schlecht, weil wir uns fast nie sehen – oder haben wir’s so gut, weil wir so weit voneinander sind?

rückblick

Hatte moccalover vergessen, oder hatte er noch gar nie bemerkt, wie laut ein verdorrtes Blatt klingen kann, das in der Stille dem Stamm entlang zu Boden fällt und gegen Äste prallt? Hatte er wirklich gemeint, keinen Stich im Magen mehr zu spüren, wenn er im klaren Himmel eine Sternschnuppe bis zum Horizont hinunterziehen sieht? Hatte er gedacht, dass der grosse Berg ihm zuzwinkern würde, nur weil er zu seinem vereisten Fusse gekrochen war? War er sich nicht mehr bewusst gewesen, wie warm trockene Lärchennadeln riechen, die aus dem Haar aufs Kopfkissen gefallen sind?

Welche war die wahre Welt – die im glasklaren oder die im dunstigen Licht? Die beiden Welten waren sich beide in den Formen sehr ähnlich, doch überhaupt nicht so in den Gefühlen, die sie in ihm erweckten. Er war sich sicher, dass nur eine die richtige, und die andere bloss eine verfälschte Abbildung sein konnte, doch er vermochte nicht zu entscheiden.

Das Holz roch nach süssem Harz mit Himbeere und manchmal Ananas, wenn er es gerade gespalten hatte und an den freigelegten Fasern roch. Seine Hände schonte er nicht; er ergriff die Scheiter und warf sie sich durch die Luft zu, als trüge er Handschuhe, und bald trugen die Hände viele Holzsplitter und kleine Schrammen in sich. Erst nach und nach drang wieder in sein Bewusstsein, wie wichtig seine Hände ihm, wie verletzlich sie waren. Am Abend im Bett, nachdem er mit ihnen auch im heissen Ofen herumgestochert hatte, bis alle schwarzen Härchen verbrannt waren, glühten die Hände. Und sie flüsterten in sein Einschlafen. Wir wussten gar nicht mehr, wie das ist, und nun schmerzt uns auch alles ein wenig; aber danke dafür, dass du uns gebraucht hast. Brauche uns wieder.

Und am nächsten Morgen hatte er alles wieder vergessen. Oder er erinnerte sich noch nicht daran, als er sein T-Shirt in gewohnter Hast über den Kopf zog und den linken Handrücken gegen den messerscharfen Glaslampenschirm schlug. Es klang bloss dumpf und schmerzte nicht besonders, und so war er beim Anblick seiner Hand umso erstaunter. Er musste genau das gefühlt haben, was er gefühlt hätte, wenn er gerade seine Lieblingstasse zerschlagen und dabei trocken gedacht hätte: kaputt. Er begriff noch nicht, doch beim Nähen wurde ihm dann doch recht übel. Weil seine Sinne nicht mehr übereinstimmten. Weil er dank der Wundanästhesie zwar nichts mehr spürte, der Arzt in seinem Blickfeld jedoch grausame Arbeit an seinem eigenen Körper verrichtete.

Und so schlug er sich in Kürze halb tippunfähig, und er dachte sich, dass das eine gute Ausrede dafür sei, dass er schon seit Wochen auf der Suche nach seinem Kopf war.

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nuusche

 

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wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
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moccalover - 19. Nov, 22:36
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moccalover - 19. Nov, 22:31
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wer das eigentlich sei
Reh Volution - 10. Nov, 07:32
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me. (Gast) - 7. Nov, 21:10
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danke!
moccalover - 6. Nov, 00:20
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moccalover - 6. Nov, 00:05
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Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
moccalover - 6. Nov, 00:05
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moccalover - 6. Nov, 00:04
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Reh Volution - 12. Okt, 08:12
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moccalover - 2. Sep, 22:53

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