Und sie sassen da; der Junge neben dem Älteren. Sie blickten in die Nacht und warteten darauf, dass die Wolken ein Loch in sich reissen würden, um die Sterne freizugeben. Dicke Tropfen fielen aus der undichten Dachrinne auf den Tisch, und von da aus flogen sie in die Gesichter weiter. Die beiden Männer rauchten, und der Junge schlang die Arme um die hochgezogenen Beine, weil er zitterte. Er fühlte sich schuldig. Wie grelles Neonlicht, das die schwere Erhabenheit der Nacht zerreisst, schien ihm auf, dass er falsch gelegen hatte. Der Ältere würde bald sterben und litt schwer daran. Doch zur Abwehr lebte er noch fester und bat manchmal darum, dass es nun endlich geschehe. Oder er versuchte, sonst darüber zu lachen, wie über eine Zahnlücke, die man nun einmal hat. Der Jüngere aber warf sich vor, seinen Tod immer gewünscht zu haben, sein halbes Leben lang. Ihm wurde bewusst, dass er seine Meinung zu spät geändert hatte und nichts mehr abzuwenden vermochte. Zu spät war es dazu gekommen, dass sie hier sassen, redeten, von der nahen Zukunft wussten, kein Wort darüber verloren und sich mochten.
moccalover - 15. Sep, 21:34
Drunten brummen die Busse beim Anfahren. Die warme Abendluft über der Strasse zittert, wenn die Motoren sich vorwärtsfressen, und mit ihr zittert die ganze kleine Welt in meinem Blickfeld. Wenn jede Welt ihre Unterwelt hat, dann hat diese Stadt hier ihre Unterstadt. Das ist kein Platz, an dem man bleiben möchte. Hier kommt man weder her noch hin, hier geht man durch, hier fährt man durch, hier wird man durchgeschleust oder rundherumgeführt. Hier ist ausschliesslich, wer muss. Wer auf Reisebusse wartet oder diesen Strassenelefanten gerade entsteigt; wer auf den Fahrlehrer wartet, dessen Geschäft in der Baracke unter der Eisenbahnbrücke steht; wer sich für Demonstrationen versammelt oder von solchen hierhergetrieben wurde; wer auf Kundschaft wartet, die im Dunkeln sucht; wer woanders keinen Platz hat, wer nicht sein darf und wer für sich nirgends Freiraum sieht. Alles hier steht im Dienste der schönen Stadt, ist Reserveraum, Abschieberaum, Stauraum, Lagerstätte, Pufferzone, Durchgangsbereich. Strassen, Schienen und Parkplätze; Farben scheinen einzig in Graffitis auf. Nichts ist für hier gedacht, nichts wurde für hier gemacht. Alles hier ist bloss eine Folge; von anderen Menschen, anderen Dingen, an anderen Orten. Dieser Platz lebt gewiss, doch es ist nur der nackteste Zufall, der dies Leben auf der Resthalde der Welt noch gebiert. Neben dem Verkehr, der zu den Örtlichkeiten, die er durchquert, ein autistisches Verhältnis pflegt und alles Ruhende als tot behandelt, wird der wenige Platz von den Pannen und Pathologien, von den Skurrilitäten und Einöden des Alltags beherrscht. Reisende und Berauschte stranden hier, Radfahrerinnen stehen im Regen vor der Ampel, und gewesene Konzertbesucher setzen sich hin, trinken Bier und zerschlagen mit Strassenschwemmsteinen moderne Leuchtplakatplexiglasscheiben.
Weit über alldem sitze ich, und blicke über den Fluss auf einen Ahornbaum, der seinen hellen Stamm in der Abendsonne bräunt. Doch der Platz erfüllt und fesselt wieder meinen Blick, ich kann ihn nicht abwenden. Meine Augen melden Flimmern und schwarze Punkte, die umherhüpfen, weil ich nicht mehr blinzle. Wo ist dieser Baum, wo bin ich? Wo soll es hin? Septemberzweitausendfünf – gerade an dieses Datum hätte ich nie gedacht, als sich meine Welt einrichtete, als das Jahr 2000 noch Metapher war. Wo bin ich, warum spüre ich das Morgen tausendfach stärker als das Heute? Wo ist dies flatterige Vielleicht und Als-ob meiner Kindheit, das unbeschwerte Besehen, Lavieren und Richten meiner Jugend? Damals konnte das Leben alles sein. Wo ist sie, die Geborgenheit in der Zeit, deren Ablauf ich herbeiwünschte, weil er die Freiheit versprach? Die klare Dauer, die es durchzustehen galt, und während der alles nur auf Probe war? Heute, in der Freiheit, wird die Zeit zum Drucke. Heute gibt es kein Möglicherweise mehr, keine Ruhe mehr im Provisorium; es gilt ernst. Doch in greifbarer Nähe lösen Traumbilder sich umgehend auf.
In der Zufälligkeit und in der Unrast dieses Platzes verfliesse ich mich und werde hingespült. Hier werde ich heute bleiben. Die Unbestimmtheit darf noch andauern. Vielleicht wird Ruhe sich einstellen.
moccalover - 15. Sep, 21:29
Es war das Ende. Was seither geschah, war nicht mehr real, drang nicht mehr in meinen Kopf, war so austauschbar, dass ich es nicht wahrnehmen mochte. Nur einen Kaffee hatte ich trinken wollen, mit zwei oder drei Zigaretten die Zeit verdrücken und dann nachhause gehen. Kaffee hätte ich zuhause auch gehabt, doch ich wollte es noch etwas verzögern, da zu sein. Weil ich aber weder Zeitung noch Buch bei mir hatte, beobachtete ich die Menschen, die um mich herum gingen und an mir vorüber die Buchhandlung hinter meinem Strassencafé besuchten. Und es hätte nicht sein müssen, denn zugleich wäre auch eine äusserst anmutige Dame vor meinem Tisch durchgeschwebt, doch ich blickte ein wenig beschämt zur Seite und haftete mich an einen Jungen mitsamt Mutter, der mit beiden Armen stolz das neugekaufte Kind-ich-erklär-dir-jetzt-mal-die-Welt-Bilderbuch vor der Brust umschlang. Ich musste unwillkürlich an die Studierstube meiner Grosseltern denken, in der ich als Kleiner diese vielbebilderten Bände auf den Knien hielt, die die Welt und ihre Besonderheiten abbilden und beschreiben.
Schon nach wenigen Jahren dieser stetigen Sommerferienlektüre würgte mich die Idee, dass in meiner Zeit alles entdeckt sein würde, jeder Winkel der Erde ausgeforscht, alle natürlichen Elemente isoliert. Es gab nichts mehr zu entdecken, immer war schon einer da gewesen und hatte dies gefunden. Das wirklich Neue, so begriff ich, gab es nur in der Vergangenheit einmal, es gehörte allein ihr. Wir wussten alles, und die letzten paar Dinge, die in den betagten Büchern noch als rätselhaft und ungelöst beschrieben wurden, waren zwischenzeitlich längst entzaubert. Ich spürte die grosse Nutzlosigkeit meines Entdeckerdranges, der meiner Lebzeit stets wühlen würde, wo schon geackert war. Wenigstens eine kleine Insel, so wünschte ich mir, hätte doch auch vom Mond und den Satelliten aus noch unerkannt bleiben können, damit sie auf mich warte. Aber ich wusste, dass es vollkommen aussichtslos war; schon damals, obwohl es da noch nicht einmal GPS und Handys gab. Die Welt, so war ich mir sicher, würde in grösster Langeweile vor sich hin existieren und selber enttäuscht sein darüber, dass sie nicht mehr zu bieten hat.
Lange Zeit, nachdem die anmutige Frau und der Junge mit seiner Mutter an meinem Tisch vorbeigegangen waren, sass ich noch da, als blickte ich auf ein solches Erklärbuch auf meinen Knien. Erst indem ich endlich wieder aufsah, fiel mir auf, dass die Sonne von einer Wolke verhüllt war und die Tische um mich, ja die ganze Strasse, sich geleert hatten. Die Stadt setzte für einen Moment ihr Rauschen aus. Ich nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, um mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Um die Ecke beim geschlossenen Dönerschuppen klang ein Keuchen. Ein zarter, schwacher Gedanke mit dünner Haut schleppte sich hervor, stiess beinahe mit dem verplakatierten Stromkasten zusammen und hielt einen Augenblick lang inne. Er war klein, es musste sich noch um ein Kind handeln, doch das Kind war gezeichnet von seiner Flucht. Es wollte wieder ansetzen, um weiter zu ziehen, als eine kleine Fledermaus es von hinten anflog und in seinen Nacken biss. Sie hakte sich wild flatternd fest und begann laut zu piepsen. Sogleich waren tausend andere dieser Vampire in der Luft und stürzten sich auf den hilflosen, kleinen Frischgedanken, der in sich zusammensank.
Ein Räuchlein stieg noch auf, bevor die Sauger sich trollten. Ich sass stundenlang versteinert da und merkte es nicht. Ohne zu wissen, wie mir geschah, ging ich nachhause und weinte. Mein Kopf war nicht mehr da. Gerade war der allerletzte neue Gedanke gedacht worden.
moccalover - 15. Sep, 00:39