über den Dächern und ausserhalb der Zeiten

Drunten brummen die Busse beim Anfahren. Die warme Abendluft über der Strasse zittert, wenn die Motoren sich vorwärtsfressen, und mit ihr zittert die ganze kleine Welt in meinem Blickfeld. Wenn jede Welt ihre Unterwelt hat, dann hat diese Stadt hier ihre Unterstadt. Das ist kein Platz, an dem man bleiben möchte. Hier kommt man weder her noch hin, hier geht man durch, hier fährt man durch, hier wird man durchgeschleust oder rundherumgeführt. Hier ist ausschliesslich, wer muss. Wer auf Reisebusse wartet oder diesen Strassenelefanten gerade entsteigt; wer auf den Fahrlehrer wartet, dessen Geschäft in der Baracke unter der Eisenbahnbrücke steht; wer sich für Demonstrationen versammelt oder von solchen hierhergetrieben wurde; wer auf Kundschaft wartet, die im Dunkeln sucht; wer woanders keinen Platz hat, wer nicht sein darf und wer für sich nirgends Freiraum sieht. Alles hier steht im Dienste der schönen Stadt, ist Reserveraum, Abschieberaum, Stauraum, Lagerstätte, Pufferzone, Durchgangsbereich. Strassen, Schienen und Parkplätze; Farben scheinen einzig in Graffitis auf. Nichts ist für hier gedacht, nichts wurde für hier gemacht. Alles hier ist bloss eine Folge; von anderen Menschen, anderen Dingen, an anderen Orten. Dieser Platz lebt gewiss, doch es ist nur der nackteste Zufall, der dies Leben auf der Resthalde der Welt noch gebiert. Neben dem Verkehr, der zu den Örtlichkeiten, die er durchquert, ein autistisches Verhältnis pflegt und alles Ruhende als tot behandelt, wird der wenige Platz von den Pannen und Pathologien, von den Skurrilitäten und Einöden des Alltags beherrscht. Reisende und Berauschte stranden hier, Radfahrerinnen stehen im Regen vor der Ampel, und gewesene Konzertbesucher setzen sich hin, trinken Bier und zerschlagen mit Strassenschwemmsteinen moderne Leuchtplakatplexiglasscheiben.

Weit über alldem sitze ich, und blicke über den Fluss auf einen Ahornbaum, der seinen hellen Stamm in der Abendsonne bräunt. Doch der Platz erfüllt und fesselt wieder meinen Blick, ich kann ihn nicht abwenden. Meine Augen melden Flimmern und schwarze Punkte, die umherhüpfen, weil ich nicht mehr blinzle. Wo ist dieser Baum, wo bin ich? Wo soll es hin? Septemberzweitausendfünf – gerade an dieses Datum hätte ich nie gedacht, als sich meine Welt einrichtete, als das Jahr 2000 noch Metapher war. Wo bin ich, warum spüre ich das Morgen tausendfach stärker als das Heute? Wo ist dies flatterige Vielleicht und Als-ob meiner Kindheit, das unbeschwerte Besehen, Lavieren und Richten meiner Jugend? Damals konnte das Leben alles sein. Wo ist sie, die Geborgenheit in der Zeit, deren Ablauf ich herbeiwünschte, weil er die Freiheit versprach? Die klare Dauer, die es durchzustehen galt, und während der alles nur auf Probe war? Heute, in der Freiheit, wird die Zeit zum Drucke. Heute gibt es kein Möglicherweise mehr, keine Ruhe mehr im Provisorium; es gilt ernst. Doch in greifbarer Nähe lösen Traumbilder sich umgehend auf.

In der Zufälligkeit und in der Unrast dieses Platzes verfliesse ich mich und werde hingespült. Hier werde ich heute bleiben. Die Unbestimmtheit darf noch andauern. Vielleicht wird Ruhe sich einstellen.
rebella jane doe - 15. Sep, 23:50

bitte bleiben sie auch zukünftig unbedingt ein wenig unbestimmt und lassen sich diesen offenen auges an weitere orte spülen.

weil: das liest sich einfach ganz wunderbar.

oO(wo mir doch heute eh' so herbstig ist. - herrlich.)

Au-lait - 15. Sep, 23:55

Klasse! Toll geschrieben... liest sich prächtig.
moccalover - 16. Sep, 14:37

Oh, vielen Dank, ihr beiden, ich werde noch ganz rot! Ich freue mich sehr, wenn ihr euch hier wohlfühlt! Mocca gefällig?
la-mamma - 17. Sep, 19:59

ich find das auch sehr gut geschrieben

besonders gefällt hat mir deine wortwahl "als sich meine welt einrichtete" - und das phänomen das du in diesem satz beschreibst ... ich hab auch lang nicht über 2000 hinausgedacht, das war für mich (vor allem als kind und jugendliche) wirklich eine magische grenze. außer wie alt ich dann sein werde, konnte ich da nie weiterdenken ...

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