Leichtigkeit, Freizügigkeit

Fast den ganzen Nachmittag über habe ich hier auf dem wetterverwaschenen Klappstuhl gesessen und habe nach einem Waldspaziergang geruht, der nicht anstrengend war. Föhnzirren verzerrten sich im hellblauen Himmel, der in regelmässigen Abständen vom beruhigend tiefen, typisch sonntäglichen Brummen der sinkfliegenden Propellermaschinen durchdrungen wurde. Jetzt im Herbst wärmte die Sonne milde und aus halber Höhe. Es ist dies vielleicht der letzte Tag gewesen, an dem ich noch ohne Mühe schwitzen konnte.

Man sitzt hier an dunkelblauen Tischen am Waldrand, und weiter unten liegt gleich der Fluss, der vor kurzem noch bis hierher gereicht und in allem trüben Tosen seinen Schlamm auf dem Waldboden niedergelegt hat. Der Schlamm ist längst zu Sand getrocknet, den der Wind Stoss für Stoss wegträgt. Nun schiebt sich das Wasser wieder ganz geräuschlos durch die Kurven des Bettes.

Es war still hier, sehr still, trotz der kleinen Dessertgabeln, die Schokokuchenstücke zerteilten und danach wieder in den Teller gelegt wurden; trotz aller Kaffeelöffel, die beim Verrühren von Zucker und Milch gegen die Tassenwand schlugen; trotz all der Kinder, die sich spielend im Wald vergnügten und ab und an schrieen, weil sie über Wurzeln gestolpert waren. Es war trotz alledem ganz ruhig hier; die Weite des Himmels, der Wald und der Fluss verschluckten den Lärm, bevor er sich verbreitete. Die Welt spuckte dafür ein Rauschen aus, das die Geräusche von weit her, verschoben und verwässert in meine Ohren trug. Wie die Geräusche der Welt, die wir im Halbschlaf nur als fernes Hallen wahrnehmen und in unsere wirren Traumbilder einbauen. Scharf klang nicht das Gelächter der Gruppe am Nebentisch, laut waren auch die lebhaften Gespräche dort drüben nicht; allein die Schritte im Kies, das hier den Boden bedeckt, erzeugten Töne, denen noch Unmittelbarkeit anhaftete.

Schräg links, da weiter hinten, da sass ein Paar, das seinen Kaffee nicht anrührte; zu ernst schien ihr Thema. Rechts davon die zwei modernen Kinderwagen mit geländegängigen Noppenreifen und die beiden frischen Familien; ihr Gespräch beschäftigte sich mit der Organisation eines Sonntagabends, der gemeinsames Einkaufen und Nachtessen und den Genuss einer beliebten Telenovela mit den Notwendigkeiten der Kindererziehung versöhnen musste. Ein kleiner Junge stolzierte ernsthaft durch Tische und Stühle und blickte nur auf seine gerollte Waffel, in der drei Riesenkugeln Stracciatella-Eis lagen; eine Kugel ist zu Boden geflogen, als er kurz wegblickte, und sogleich ist seine ganze Glückseligkeit in einem schmerzvollen Wutschrei zerfallen.

Dass ich die Füsse auf einen der Stühle meines Tisches gelegt hatte, schien das alte Paar nicht zu stören; sie sind langsam hergekommen, haben freundlich gefragt und sich mir gegenüber hingesetzt. Seine Brillengläser waren von der Sonneneinstrahlung verdunkelt, sein weiches Hemd, dessen Knöpfe von einem Stoffband überdeckt wurden, war frisch gebügelt, und seine Gürtelschnalle glänzte. Seine rote Stirn übersäte sich mehr und mehr mit feinsten Schweisströpfchen, die er ab und zu ins Haar strich. All seine Bewegungen waren langsam und bedächtig; seine Worte waren nur ganz wenige. Sie trug ein blumiges Sommerkleid in braungelblichen Tönen, das in der Taille durch ein Gürtelchen gleichen Stoffs geschnürt wurde. Häufig, auch im Gespräch, lächelte sie mit geschlossenen Augen die Sonne an. Ihren Gehstock hatte sie vor ihre Trinkschokolade auf den Tisch gelegt; der Knauf war silbern und mit kunstvollen Gravuren verziert. Um ihren Hals herum eine Kette aus messinggefassten Bernsteinen, die auf dem braungebrannten und tief zerfurchten, wunderschönen Dekolletee lag und funkelte. Jeden zweiten Satz sprach sie französisch.

Sie hätten schon nach Mittag ferngesehen, hat sie mir später in dem Gespräch gesagt, das unserer räumlichen Nähe entsprungen war. Sie hat es gesagt, als sei das für sie ein peinliches Geständnis, es sei ja bloss der Volksabstimmung wegen gewesen, sonst hätte man das nicht getan. Ich habe mich langsam der Plakate in der ganzen Stadt erinnert, die mich bei jedem Besehen würgen und mir sagen: Ost-Zuwanderung - Nein. Als stände da: Realität und Zukunft - Nein. Ich habe wieder an den Brief mit der Stimmkarte gedacht, den ich vor Wochen schon dem Kasten übergeben habe. Heute war der Abstimmungstag, das war mir ganz entgangen. „Ig gloube, es chunnt föör“, hat sie das in einen einzigen Satz zusammengefasst, was sie aus den Mittagsnachrichten über die Abstimmung erfahren konnte; sie hat diese Dialektredewendung gebraucht, die gemeinhin in trockenem Sinne für Tiere, Pflanzen und schlimmstenfalls Menschen verwendet wird, die sich nach Unbill oder langer Krankheit wider Erwarten, aber erfreulicherweise, erholen. Ich weiss nicht, ob mich mehr erstaunt hat, dass die längst verloren geglaubte Vorlage doch noch durchkommen sollte, oder, dass den beiden Alten – genau wie mir - offenbar so viel an einem positiven Ausgang lag.

„Ja“, hat sie mit träumerischem Blick in die Ferne gesagt, „ich komme aus dem Welschland, doch jetzt möchte ich nicht mehr von hier weg. Im Fernsehen haben sie gesagt, dass die Polen gar nicht alle kommen wollen, die haben auch ein paar Fabriken. Wir brauchen die Leute für unser Land. Wissen Sie, mein Grossvater kam damals aus Gallarate bei Mailand in den Kanton Jura, der damals dem Kanton Bern gehörte. Mit der Schule sind wir häufig wieder zu diesem Krieger gewandert, dem Denkmal vom ersten Weltkrieg, das war immer eine schöne Reise. Das Denkmal wurde wegen der Separatisten dann weggeräumt, die haben es ja immer wieder zerstört, und heute geht da die Autobahn durch. Nein, als wir jung waren, gab es diese Probleme noch nicht; sicher war aber nicht alles recht, was die Berner da taten. Mein Grossvater konnte sich noch gerade rechtzeitig einbürgern lassen, sonst hätte er in den zweiten Weltkrieg gemusst; und seine Brüder, die sich da oben versteckten, durften noch jahrelang nach Kriegsende nicht zurück nach Italien, weil sie als Deserteure galten.“

Wir haben weitergeplaudert, und ich habe vernommen, dass der letzte Laden in ihrem abseitigen Stadtquartier geschlossen worden sei, und dass sie seit ihrer Hüftoperation nur noch mit Schmerzen zur Busstation gehen könne; nach acht Uhr abends fahren überhaupt keine Busse mehr, hat sie dann noch angefügt. Die Poststelle aber, ja, die sei noch offen, das immerhin; sie hätten sich übrigens bei der Arbeit auf der Hauptpost der Stadt kennengelernt, damals. Und von ihrem Balkon aus könnten sie in der Nacht sehen, wie die Flugzeuge auf dem Weg zur Landung die Waldhügel mit ihren Scheinwerfern ableuchten.

Irgendwann haben sie mich dann verlassen, und sie wollten auch nicht, dass ich ihnen nochmals ein Getränk oder ein Stück Kuchen herbringen würde. Sie haben sich für das Gespräch bedankt; mit der Entschuldigung, mich vom Lesen des Buches auf meiner Tasche abgehalten zu haben, und in der Hoffnung, mich im nächsten Frühling vielleicht wieder hier anzutreffen. Wie lange ich seitdem noch dagesessen habe, weiss ich nicht mehr. Die unerhoffte Nachricht über die Freizügigkeit hat mich an diesem Ort derart erleichtert, dass ich all meine Unrast verlor.

Aus den Zirren sind irgendeinmal Schäfchen geworden, und diese haben sich schliesslich zu Wolken verdichtet, die den Himmel verdunkeln. Die Sonne ist hinter den Bäumen verschwunden, und ich hole mir den letzten Espresso; an der Theke bei der Frau im grünen T-Shirt, deren Gesicht im Spiegel des meinen immer ein Lächeln entfaltet, das noch viel schöner und leichter ist als die ganze Leichtigkeit und Geborgenheit dieses Sonntagnachmittags es war. Fast hätte ich geglaubt, es sei gar wegen mir so froh. Doch bald schon wird das Bild von ihren leuchtenden, gewissenhaften und von einer feinen Hautfalte sorgsam umrundeten Augen in mir verblichen sein; vergeblich wird jede Suche danach dann sein. Nie, nie mehr nach Hause will ich gehen.
miss_kinky - 26. Sep, 21:15

Träumen, marsch, marsch!
(Immerhin die Chance zur Flucht.)

moccalover - 26. Sep, 21:35

*keuch*
miss_kinky - 26. Sep, 23:34

;o)

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