Donnerstag, 6. August 2009

Zugfahrten, ohne Herz.

Wenn mein Herz nicht mitzueilen vermag, sobald ich mich schneller als zu Fuss bewege, wo ist es dann jetzt, wo ich seit Jahren täglich mit dem Zug zwischen den Städten wechsle? Hat es sich bei meiner Verfolgung irgendwo auf dieser Strecke verloren, sieht mich zweimal am Tag vorbeirasen und versucht vielleicht ganz erschöpft für kurze Zeit, dem Zug hinterherzujagen? Bleibt es hier? Oder ist es des Nacheilens leid, und hat schon längst ein anderes Leben gefunden und besucht mich nur noch ab und an?

Sommerabend in eigener Sache.

Dass immer noch Sommerferien sind, habe ich an der Familie gemerkt. Unter meinem Fenster hat sie mit allen Utensilien unter den Armen, die es für eine Flussfahrt im Gummiboot braucht, die Strasse überquert. Das kommt an einem Mittwochabend nur während der Sommerferien vor.

Seit genau sieben Jahren schaue ich durch das Fenster, durch das ich mich jetzt hinauslehne. Ich habe den Bauch auf dem Fensterbrett aufgestützt, und eine Metallleiste presst sich in meine unteren Rippenenden. Ich schaue am Morgen vom Bett aus, wie das Wetter werden wird, und am Abend hoffe ich auf wohlgeformte, farbige Wolken. Ich bewundere Stürme, die ungeahnte Mengen von Regen fallenlassen, und ich schaue dem Wasser zu, wie es neben dem Fenster vom Dach herunterstürzt, und wie es von den Autos unten auf der Strasse durchpflügt wird und als Gischt auf kleinen Wellenkämmen davonspritzt, bis es schliesslich einen Platz in einem Abfluss gefunden hat und unterirdisch Richtung Fluss verschwindet. Und wenn es in einer Nacht so fest schneit, dass sogar diese breite, kaum je zur Ruhe kommende Strasse sich weiss überdeckt, schluckt der Schnee auf allen Dingen das Strassenlampenlicht und gibt es als warmes Leuchten wieder ab. Dieses Leuchten hat keine Herkunft und keine Richtung, sondern steht im Raum und erhellt alles in ihm, selbst die Luft, und es greift bis zu den tiefhängenden Wolken hinauf. Manchmal grabe ich meine Fenstersimspflanzen in diesem Licht vom Schnee frei, und manchmal rinnt mir dann beim Einschlafen geschmolzener Schnee vom Kopf auf mein Kissen.

Ich schaue durch das Fenster auf die Karawane der Feuerwehr, wenn sie brüllend stadteinwärts jagt, und höre es den Sirenen an, ob sie von der Feuerwehr, von der Polizei oder von der Sanität künden. Wenn der Nebel auf den Köpfen der Stadt klebt oder durch die Strassen weht und ich zum Himmel blicke, kann ich ab und zu den Bugscheinwerfer eines Flugzeugs sehen, der sich dank elektronischer Instrumente selbstgewiss in Richtung Landebahn bohrt. Und ich schaue den Menschen zu, die da unten auf die Reisebusse warten, weil sie nicht mehr hierbleiben wollen oder können. Sie haben Fussballspiele oder Verwandte oder einfach die Sehenswürdigkeiten besucht; vielleicht haben sie eingekauft, sind beschenkt oder bestohlen worden, vielleicht haben sie gebettelt. Oder sie sind von hier und wollen weg – in die Berge, ans Meer oder an Fussballspiele. Sie warten alle am gleichen Ort, benützen alle die gleiche Telefonzelle und die gleichen Toilettenkabinen; teilen sich alle die einzigen beiden Sitzbänke. Und wenn sie warten, sind sie nervös, oder sie diskutieren, lesen oder spielen, beobachten sich und ihr Gepäck, doch nur selten beobachten sie jene auf dem Platz, die nicht mit Bussen verreisen, sondern hierbleiben wollen und die besonders spät am Abend häufig verdrehte Sinne und Manieren haben.

Sind die Worte mir denn ausgegangen? Nein, gewiss nicht. Die Luft ist warm geblieben, auch wenn der Himmel schon schwarz ist und nur ganz unten am Horizont noch fahlgelblich ausglimmt. Es wird schwierig werden, einzuschlafen.

Nein, Worte sind da, und sie sprudeln mehr denn je. Aber sie sind andersartig und fliessen in andere Kanäle. Und so ordnen und reinigen sie auch andere meiner Gehirnareale, wenn ich sie ausspucken kann. Es sind andere Worte. Ich habe in den letzten Jahren viel geschrieben; allerdings wenig über mich oder sonst in einer Art, die mich selber in die Gedanken einbände. Ich habe Formulare ausgefüllt und Vortragsfolien beschrieben, ich habe meinem Computer, diesem Perpetuum mobile des ewigen leeren Blattes, Abertausende von Zeilen anvertraut, die manchmal keine zwei Minuten lang am Leben blieben, von denen aber einige wenige einen ganz eigentümlichen Weg durch die Welt gefunden haben. Ich habe vielleicht geschrieben: T. kommt nicht umhin, eine unverzügliche Überprüfung des Sachverhalts auch unter dem Grundsatz der Leistungsäquivalenz zu beantragen, und er wird im Falle der Verifizierung seines Standpunktes die erforderlichen weiteren Schritte einleiten. Ich hätte aber auch schreiben können: Terry konnte nun nicht mehr anders, als Estelle an ihren Handgelenken zu ergreifen, sie zunächst hinter die Türe und dann an seinen muskeldurchzogenen, jetzt ganz angespannten Körper zu ziehen um dann, als er die Wärme ihres Atems auf seinem Hals spürte, sein Gesicht gegen das ihre zu senken und sie sanft, aber eindringlich, zu küssen. Es kommt nur auf den Jargon an, man kann alles schreiben, wenn man muss und den Jargon beherrscht.

Wenn man aber immer nur muss, verdrängen diese Worte die anderen, viel scheueren, die nur ohne Gewaltanwendung aus dem Kopf herausquellen, wenn sie sich wagen. Sie fürchten sich vor den anderen Worten, die sich wichtigtuerisch damit brüsten, kommerziell verwertbar und überhaupt für die Welt bedeutsam zu sein. Sie kommen nur, wenn ich mich aus mir herauslöse, mich für einen Moment niederlege und meinen Gedanken ganz freies Spiel in ihrem Verhalten lasse, so dass sie jene Worte hervorbringen und vermählen, die sie wollen.

Letzthin habe ich mir vorgenommen, mich jeden Abend für zehn Minuten auf das Fensterbrett zu stützen und mich hinauszulehnen. Ich habe mich seither nicht strikte daran gehalten; mir scheint zuweilen, dass mit zunehmendem Alter es Anspruch und Wirklichkeit immer mehr gelingt, sich als ganz eigenständige Personen aufzuführen, die, wie manche alte Eheleute, nicht mehr viel miteinander zu tun haben, sich kaum noch kennen. Aber heute tue ich es wieder. Es ist ruhig, nur der Verkehr tönt, und auch die Schulklasse mit Fahrrädern, die eine Weile nach der Familie mit dem Schlauchboot über die Strasse zum Parkplatz gegangen war, ist längst verschwunden. Vielleicht wird jetzt im verdunkelten Zimmer eines Massenlagers getuschelt, vielleicht aber sind alle wieder zuhause und lassen die Tür einen Spalt breit offen, um besser einschlafen zu können.

Ich wollte am Anfang nicht fliehen, musste aber eine Pause machen. Und nun bin ich lange weggeblieben und weiss auch nicht, ob ich wieder hier bin, ob ich wieder hierher zurückkommen werde. Ich habe mich aus ganz vielen Gründen in den letzten Jahren kaum mehr aus mir herausgelöst, mich beiseite gelassen, um mich zu sehen. Ich habe mich nur noch benutzt und verwaltet und nicht mehr betrachtet. Das will ich wieder lernen, aber daran ist nichts, was sich vorhersehen und garantieren liesse.

Ich weiss nicht, wie das gekommen ist. Andere Dinge, die auch noch gedacht werden müssen, begleiten mich den ganzen Tag. Eine gewisse Enttäuschung über die Möglichkeiten eines konkreten und einzigen Lebens, gepaart mit einer seichten, bequemen Zufriedenheit über dieses konkrete einzige Leben, hat mich ergriffen und knebelt mich manchmal, so dass mich das schreckliche Gefühl beschleichen kann, nicht mehr nachdenken zu können. Ich will nicht Träume leben und möchte das auch nicht wollen. Aber immerhin mein Leben leben, das möchte ich manchmal, wenn ich den Kopf zum Fenster hinausstrecke, um dem Wetter, dem Verkehr und den Leuten zuzuschauen.

Einen Moment lang steht der laue Abendwind still, und ich glaube, die Wärme des Dachs und des Fensterbretts zu spüren, wie sie auf mich zuschwebt. Aus dem Fenster unterhalb steigt der Geruch der Wohnung meines Nachbarn empor. Ein bisschen süssliches Reinigungsmittel, ein bisschen abgestandener Tabakrauch.

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nuusche

 

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