wissen müssen II.
Windböen peitschten Schneevorhänge durchs gelbe Licht der Strassenlampen. Touristen scheuen schlechtes Wetter nie, hauchte Nina in ihren Schal, der ihren Mund und die Nase verhüllte. Wo sind sie nun alle? Sonst lächeln sie doch immer, wenn sie den Bussen entsteigen, obwohl ihnen niemand gesagt hat, dass man von November bis Mai ganz sicher nicht hierher kommen soll. Umso besser, dachte Nina, so ist wenigstens die Glühweinbude geschlossen, und ich bin mit der Bärin alleine. Sie zog die Schultern hoch und drückte sie gegen ihren eingepackten Hals. So überquerte sie die Brücke, wo der Wind stärker blies als in den Gassen, und kam beim Bärengraben an. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf die Sandsteinmauer und blickte in das runde, dunkle Loch hinunter. Die Bärin hatte sich schon hingelegt, doch sie hob, als Nina sich über die Mauer beugte, rasch ihren Kopf und schnupperte blinzelnd durch die kalte Luft. Nina schluckte trocken und dachte an den Portwein vom Vorabend.
Ich habe die Eierschwämme weggeworfen. Und nicht nur die, sondern auch all meine Parfums. – Das hast du nicht! Die Bärin war erschrocken aufgesprungen. – Doch, ich brauche die nicht mehr. – Aber die waren doch teuer, und fein? – Ja, sagte Nina kraftlos, aber das ist alles so vergeblich, ich habe sie zusammen mit dem Nagellack auf seinen Hemden, die er noch bei mir hat, ausgeleert. Dann habe ich alles angezündet und am Schluss die Asche weggeworfen. – Kind, du bist wohl übergeschnappt! Eine solche Aufregung, nur wegen einem Mann. – Bitte, Bärin, du kannst doch nicht so herzlos zu mir sein. Du weisst, dass das nicht irgendein Mann ist. Ich habe dir erzählt, wie alles kam und ging. Sag nicht, du könnest nicht sehen, wie nahe mir das geht. – Oh ja, das sehe ich, doch meine ich ja gerade, du verhaltest dich unverhältnismässig. Wie ich weiss, welche Schmerzen du hast, so wusstest du immer, dass das so kommen würde. Du hast Recht, ich kenne tatsächlich die ganze Geschichte.
Nina schwieg lange; ihre Augen waren nach oben gedreht und fixierten die Schneeflocken, die durch die Lichtkegel tanzten. Sie verlor für einen Moment das Gefühl für den Boden und glaubte, die Flocken seien Sterne, an denen sie vorüberflog. Ihre Hände mussten die Mauerkante fest umklammern, damit sie in der Vereinnahmung durch den beobachteten Tanz nicht Gleichgewicht und Halt verlor. Der Wind liess den Blechverschlag der Glühweinbude rhythmisch klappern, der Verkehrslärm ertrank im Schnee. Bist du vielleicht ein bisschen stinkig, weil es schon lange so kalt und nass ist? Nina blickte wieder nach unten und suchte nach den Umrissen der Bärin.
Ich bin nicht stinkig. Du bist vergesslich. Ich will frei sein, ich will leben, ich will geniessen, das sagtest du doch damals. Ich will alles, was mir gefällt, darauf hast du damals geschworen. Und du hast dir alles genommen. Du wolltest nicht auf mich hören, damals mit zwanzig, zweiundzwanzig. Nun kommt eben Teil zwei des Teufelspakts, auf den ich dich so oft ungehört hinwies, in die Vollstreckung. – Sei doch nicht so dunkel, Bärin. Nina schluckte wieder, diesmal einen dicken Speichelklumpen, der entfernt noch nach Portwein schmeckte. – Ich will ja auch gar nicht siegestrunken herumklugscheissern. Ich muss einfach betonen, dass wir das alles wirklich schon so oft durchgekaut haben. Die Männchen, die spielen ihr eigenes Spiel. Und glaube mir, dass mir nichts lieber wäre, als an deinem Platz zu stehen und dann allein nachhause zu gehen; raus aus dem Käfig, weg von hier und diesen Aufschneidern und Pennern. Und deine Menschenmännchen, die sind nicht anders. Du wolltest dich auf ihr Spiel einlassen? Bitte sehr! Jetzt bist du älter und müder und möchtest vielleicht am Ende gar selber kleine Bärchen hegen. Das musst du alleine durchstehen, jedenfalls musst du damit rechnen. Mach dich nicht krank, sie sind ja vielleicht gute Wesen, aber du kannst von ihnen nicht mehr verlangen, als sie zu leisten vermögen. Du hast ihnen allen die ganze Zeit über die Sicherheit gegeben, dass nichts wirklich verbindlich ist, dass nichts wirklich ein Problem sein könnte, dass du immer alles selber für dich regeln könntest. Ich habe dir gesagt, dass das nicht stimmt. Nicht für dich, und nicht einmal für die Männlein. – Das mag sein, und trotzdem bin ich wütend. Nur weil man weiss, dass ein Unglück kommt, muss man nicht schweigen, wenn es eintrifft. Sei nicht so selbstgerecht! – Das Unglück ist nicht gross, Alleinsein muss doch herrlich sein. Ich stelle mir das jedenfalls so vor. Es bringt nichts, nur bei jemand zu sein, um nicht alleine zu sein; das ist doch beleidigend. Für dich und für die Männlein.
Mach's gut, Bärin, ich muss jetzt gehen, mir ist kalt. Wenn du schon für das Alleinsein bist, so werde ich trotzdem bald wiederkommen. Ich denke an dich. Nina formte ihre Lippen schnell zu einem Kuss und drehte sich vom Graben weg, setzte Fuss für Fuss in die knirschende Schneedecke und machte sich auf den Weg zu ihrem Bett. Sie lächelte noch ein paar Mal, weil sie an die Besorgnis der Bärin denken musste und sich darin geborgen fühlte.
Ich habe die Eierschwämme weggeworfen. Und nicht nur die, sondern auch all meine Parfums. – Das hast du nicht! Die Bärin war erschrocken aufgesprungen. – Doch, ich brauche die nicht mehr. – Aber die waren doch teuer, und fein? – Ja, sagte Nina kraftlos, aber das ist alles so vergeblich, ich habe sie zusammen mit dem Nagellack auf seinen Hemden, die er noch bei mir hat, ausgeleert. Dann habe ich alles angezündet und am Schluss die Asche weggeworfen. – Kind, du bist wohl übergeschnappt! Eine solche Aufregung, nur wegen einem Mann. – Bitte, Bärin, du kannst doch nicht so herzlos zu mir sein. Du weisst, dass das nicht irgendein Mann ist. Ich habe dir erzählt, wie alles kam und ging. Sag nicht, du könnest nicht sehen, wie nahe mir das geht. – Oh ja, das sehe ich, doch meine ich ja gerade, du verhaltest dich unverhältnismässig. Wie ich weiss, welche Schmerzen du hast, so wusstest du immer, dass das so kommen würde. Du hast Recht, ich kenne tatsächlich die ganze Geschichte.
Nina schwieg lange; ihre Augen waren nach oben gedreht und fixierten die Schneeflocken, die durch die Lichtkegel tanzten. Sie verlor für einen Moment das Gefühl für den Boden und glaubte, die Flocken seien Sterne, an denen sie vorüberflog. Ihre Hände mussten die Mauerkante fest umklammern, damit sie in der Vereinnahmung durch den beobachteten Tanz nicht Gleichgewicht und Halt verlor. Der Wind liess den Blechverschlag der Glühweinbude rhythmisch klappern, der Verkehrslärm ertrank im Schnee. Bist du vielleicht ein bisschen stinkig, weil es schon lange so kalt und nass ist? Nina blickte wieder nach unten und suchte nach den Umrissen der Bärin.
Ich bin nicht stinkig. Du bist vergesslich. Ich will frei sein, ich will leben, ich will geniessen, das sagtest du doch damals. Ich will alles, was mir gefällt, darauf hast du damals geschworen. Und du hast dir alles genommen. Du wolltest nicht auf mich hören, damals mit zwanzig, zweiundzwanzig. Nun kommt eben Teil zwei des Teufelspakts, auf den ich dich so oft ungehört hinwies, in die Vollstreckung. – Sei doch nicht so dunkel, Bärin. Nina schluckte wieder, diesmal einen dicken Speichelklumpen, der entfernt noch nach Portwein schmeckte. – Ich will ja auch gar nicht siegestrunken herumklugscheissern. Ich muss einfach betonen, dass wir das alles wirklich schon so oft durchgekaut haben. Die Männchen, die spielen ihr eigenes Spiel. Und glaube mir, dass mir nichts lieber wäre, als an deinem Platz zu stehen und dann allein nachhause zu gehen; raus aus dem Käfig, weg von hier und diesen Aufschneidern und Pennern. Und deine Menschenmännchen, die sind nicht anders. Du wolltest dich auf ihr Spiel einlassen? Bitte sehr! Jetzt bist du älter und müder und möchtest vielleicht am Ende gar selber kleine Bärchen hegen. Das musst du alleine durchstehen, jedenfalls musst du damit rechnen. Mach dich nicht krank, sie sind ja vielleicht gute Wesen, aber du kannst von ihnen nicht mehr verlangen, als sie zu leisten vermögen. Du hast ihnen allen die ganze Zeit über die Sicherheit gegeben, dass nichts wirklich verbindlich ist, dass nichts wirklich ein Problem sein könnte, dass du immer alles selber für dich regeln könntest. Ich habe dir gesagt, dass das nicht stimmt. Nicht für dich, und nicht einmal für die Männlein. – Das mag sein, und trotzdem bin ich wütend. Nur weil man weiss, dass ein Unglück kommt, muss man nicht schweigen, wenn es eintrifft. Sei nicht so selbstgerecht! – Das Unglück ist nicht gross, Alleinsein muss doch herrlich sein. Ich stelle mir das jedenfalls so vor. Es bringt nichts, nur bei jemand zu sein, um nicht alleine zu sein; das ist doch beleidigend. Für dich und für die Männlein.
Mach's gut, Bärin, ich muss jetzt gehen, mir ist kalt. Wenn du schon für das Alleinsein bist, so werde ich trotzdem bald wiederkommen. Ich denke an dich. Nina formte ihre Lippen schnell zu einem Kuss und drehte sich vom Graben weg, setzte Fuss für Fuss in die knirschende Schneedecke und machte sich auf den Weg zu ihrem Bett. Sie lächelte noch ein paar Mal, weil sie an die Besorgnis der Bärin denken musste und sich darin geborgen fühlte.
moccalover - 2. Mär, 23:07