Dienstag, 20. September 2005

Herr Tobler erleichtert sich

Ehre sei diesem Ort, dachte Herr Tobler, währenddem das Blut als warme Gelassenheit die Adern seiner Beine hinabrieselte und sie löste, so dass er ob seiner Entspannung fast gegen die Mauer gefallen wäre. Herr Tobler muss samstags einkaufen, weil er sonst arbeitet und der Abendverkauf am Donnerstag ihn noch schlimmer dünkt. Vor allem jetzt im Winter, wenn die Strassen abends trotz aller technischen Bemühung dunkel bleiben, nie dieses Strahlen erzeugen, das ihre Steine in der kräftigen Sonne zeigen. Im Winter ist das Einkaufen nur sich selber, das Ladengeschäft die sinnstiftende Oase in der Eiswüste. Alles verspricht Wärme, alles verlockt. Herr Tobler hat sich heute im Antiquitätengeschäft einen alten Photoapparat gekauft, und auch den luxuriösen, teflonähnlich-kalkresistent beschichteten Duschvorhang und die sechs vanillecremegefüllten Berliner Pfannkuchen im Sonderangebot hat er sich ohne grosses Ringen angeeignet. Und weil der Weg durch die Wüste ihm mit dieser Last so lang erschien, trank er reichlich Tee mit Rum auf halbem Weg, in einer Gaststätte, die nach Schweiss roch. Nach drei Vierteln des Weges, das wusste Herr Tobler, würde der Turm kommen, der die alte Funktionalität der Stadt dem Heute aufzwang und mitten auf der Strasse stand. Und in dessen Schatten stand Herr Tobler, mitten auf der Strasse, an der Turmseitenwand, hinter einer bräunlich lackierten Doppelblechwand, die ihn gegen aussen zwischen den Kniekehlen und den Schulterblättern verdeckte. Die gemalte Inschrift auf der Wand verbleicht stetig, doch man kann gleichwohl gut erkennen, dass man höflichst gebeten werde, die Örtlichkeit in reinlicher Verfassung und mit geordneter Kleidung zu verlassen. Herr Tobler fasste sich, schloss seinen Gürtel und blickte über die Blechwand. Seine Erleichterung, die er hier immer empfindet, dieses Glück, es gerade noch hierher geschafft zu haben, wich sogleich stets der Beklemmtheit, dass er von hier offensichtlich mit ungewaschenen Händen auf die Strasse treten würde; dass er überhaupt gerade bei einer Obszönität beobachtet worden sein könnte. Sobald er draussen in Sicherheit war, blickte er zurück und fühlte sich dankbar für die Geschichte, die diesen Ort dem Menschlichen reservierte.

Keine Hochzeitskarte

Sie würde nicht mit ihrem Freund zusammenziehen, der natürlich auch da war, aber gerade nicht zugegen, als sie dies sagte; und sie sagte es auch nicht zu Max (wiewohl sie ihm direkt gegenüberstand), sondern zu einer der vielen anderen Frauen in der kleinen Wohnung. Es wäre einfach irgendwie noch vielleicht ein wenig zu früh. Max konnte es sehr gut hören, und sie musste wissen, dass er ihren Worten folgte, denn sie stand in all dem Lärm nahe genug, und er hatte in dieser Anfangsphase seiner Einbringung in die flüchtige Gruppe, die sich diesen Festabend teilen würde, ohnehin nichts anderes zu tun, als mit artigen kurzen Unterbrüchen immer wieder die ihre Freundin ansprudelnde Lucille zu betrachten, als wäre er auch Teilhaber dieses Informationsaustausches im Türrahmen.

Doch der Freund war da, und einmal mehr war Max erstaunt, wie dieses Bündel an Selbstverständlichkeit, das weder aus Schönheit noch aus Klugheit schöpfen konnte, in dieser ihrer Wohnung wohnte; herumhing und war, als ginge ihn nichts an - und als wäre er doch näher an allem als alle andern.

Sie musste den Freund sehr mögen; dieser Wahrnehmung konnte Max sich nicht erwehren. Wohl war sie in ihrer mächtigen physischen Präsenz so luftig, heilig und unergreiflich, wie Max sie immer empfunden hatte. Sicher, sie war fröhlich und einnehmend, direkt und unverfälscht - wie immer. Ihr Geheimnis muss es sein, nicht zu wissen, wie anders sie ist, dachte Max, als er auf der Toilette eine Pause vom Rummel genoss, rauchte, tief ausatmete und seinen sausenden Ohren lauschte. Sie ist geplagt wie wir alle, und doch sieht sie nicht, dass die Plage sie nicht zu beschweren vermag und sie dabei all ihr Vertrauen behält. Wie er da sass und nicht mehr aufstehen mochte, wie er die Türe nicht mehr öffnen und sich wieder dem allseitigen Blick der anderen Besucher aussetzen mochte, lösten sich in seinen Überlegungen über ihre Selbstvergessenheit, in seiner Selbstaufgabe in diesem engschmalen Raum mit vanillegelben Kacheln, alle Fragen auf. Dass der Freund nicht zu ihr passte, entflog seinen Ideen, und dass die Dinge so sein durften, beherrschte ihn sekündlich stärker. Sie musste ihre Gründe haben - Gründe, die bei ihm vor all der Reflektion dieser Welten, vor all dem Ausloten und Taktieren in den Leben schon lange geflohen sein mussten.

Max fühlte an diesem Abend auch nach ein paar Gläsern Malaga nicht viel, und nicht einmal das anfangs träge Fortschreiten der Zeit konnte ihn auf Dauer beschäftigen. Er zerfloss derart in seiner Hingabe an Gegebenheiten, dass er nicht bemerkte, wie die Uhr beim Abschied mehr als vier Stunden nach der Zeit anzeigte, die er sich zumindest vorgenommen hatte. Auf dem Heimweg überquerte er erleichtert die Brücke, schlenderte mutwillig torkelnd auf dem breiten Trottoir und blickte mit einem Lächeln zu den gelben Lampen hinauf. Wenn nur mehr das Bett wartet, dachte er, und man durch die Nacht schreitet - wenn die Stadt dabei so ruhig ist, dass man sie nicht mehr kennt, und wenn die Lampen über der Strasse, in den Schriftzügen und an Automaten einem treu den Weg leuchten, dann wäre man glücklich, fühlte man nicht eine kleine Amputation.

[s. auch hier]

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