winterschnelldurchlauf.

Nun zier dich nicht, damit gewinnst du nichts, nicht einmal dich selbst. Komm her, zeig deinen Kopf. Man müsste Bilanz ziehen, man müsste sich eingehend befragen, man müsste endlich wieder den Platz finden, von dem aus man beobachten kann und was zu sagen hat, man müsste immer besser werden; sagst du. Dein Kopf ist ja ganz wirr, deine Stirn glüht beinahe; beruhige dich doch endlich, jetzt, wo du Zeit dafür hast. Du musst nicht den ganzen Berg auf einmal verschieben wollen, sonst stehst du ewig an der Wand. Na, komm, steh auf und gehe ein paar Schritte. Ein bisschen selber musst du schon stehen, im Liegen bist du zwar unschuldig, aber auch unbemerkbar, irgendwie unbedeutend.

Vorhin, eine Weile nach dem frühen Sonnenuntergang, ist vom Fluss her Nebel aufgezogen; er ist durch die Strassen gezogen und an den Häuserwänden emporgestiegen, bis er über den Dächern gefror und in staubfeinen Körnern zu Boden fiel und nicht schmolz. Innerhalb einer Viertelstunde war alles, der gefrorene Strassenboden mit den Salzspuren, die kahlen Bäume, die farbigen Autos und die überfüllten Metallabfallkübel, mit weissem Puderzucker überdeckt. Der Teerbelag wurde glitschig, und alle mussten ihren Schritt verlangsamen. Es gibt immer weniger Wasser in den Flüssen, Himmel und Boden sind erstarrt, und der Winter soll noch lange dauern. Manche sagen, sie mögen den Schnee nicht in der Stadt, nur auf den Pisten; und jetzt mag selbst ich ihn nicht mehr, denn er ist von fast überallher vertrieben worden und liegt nur noch als steifgefrorene und von Staub und Splitt schwarz überdeckte Moräne an der Bordsteinkante. Sektkorken und pinkfarbene Handzettel liegen da und dort darauf. Der gefallene Nebel wird das Grau für ein paar Stunden vertreiben, ehe er wieder verschwunden ist.

Die Zeit war nicht geil; ich selber aber ab und zu gleichwohl. Vielleicht kein Wunder, dass mir, wenn mir alles vergeblich wird, wenn mich von überallher die Nutzlosigkeit angähnt, nur Geilheit und Bequemlichkeit übrig bleiben. Und danach kommt nur mehr ein ratloser Blick auf die Bauchdecke, wenn ich merke, dass der Hunger durch Essen nicht mehr zu besiegen ist. Der Bauch hebt und senkt sich mit den Atemzügen, und die Brust erzittert unter den Herzschlägen; doch das ist alles, was mich bewegte.

Ich glaube, irgendeinmal wurde es dann auch Weihnachten. Selten habe ich sie so wenig kommen sehen; selten habe ich so erfolgreich verdrängt. Vielleicht aber auch lagen einfach schon viel zu lange die Nüsse und Mandarinen in der Fruchtschale, blinkten schon viel zu lange die Rentierfiguren aus den Fenstern, als dass ich, endlich im Dezember angekommen, darin noch etwas Besonderes hätte entdecken können. Es gab am Heiligabend natürlich dieselben Schnittwurstsorten wie immer, nur der Preis der Lyoner war wieder gestiegen. Eine kalte, bescheidene Platte, in der unsere Verhältnisse vor dreissig Jahren eingefroren worden sind. Heute könnte man sich natürlich jedes beliebige Fleisch in grossen Mengen leisten.

Die meisten Leute, die mit uns in der Kirche sassen und bekannte Lieder sangen, wuchsen in genau solchen Zeiten auf, als noch nicht alles möglich, bestellbar, erhältlich, erreichbar war. Sie hatten damals Wünsche an Weihnachten; wir kennen vorab Ansprüche und Wahrscheinlichkeiten. Sie freuten sich über Fleisch, sie liebten des Bratens Fettschichten, sie sorgten sich nicht. Zusammen lauschten wir zwischen den Gesängen den Erzählungen von den guten Dingen im Kleinen und im Grossen, die die schlechten besiegen würden; wir hörten, dass wir ausserordentlich grosses Glück gehabt hätten, und das seit nunmehr über zweitausend Jahren. Und ich dachte mir, vielleicht müsse das einfach so sein, dass man sich zwar das ganze Jahr nichts einbildete und die Gifte der Welt spie und schluckte, dass man sich aber wenigstens daran trösten konnte, an Weihnachten wenigstens ernsthaft versichert zu bekommen, dass man eigentlich Glück hatte.

Und ein paar Stubentage darauf feierte man das neue Jahr; ein Datum, dem längst insgeheim mehr ideelle und faktische Bedeutung zukommt als Weihnachten und Ostern zusammen. Ich habe muffig und gelangweilt gefeiert, weil ich müde war vor lauter Angst, durch Muffigkeit an langweiligem Silvester ein schlechtes Jahresomen zu setzen. Zumindest bringt das Neujahr eine Öffnung, währenddem die Zeit davor dem Abschluss gilt. Wie vieles schiebt man auf das kommende Jahr, wenn das gehende nicht mehr lange lebt, wie müssig erscheint jeglicher Anfang, wenn Sonne und Kalender sich dem Tief- oder Endpunkt nähern.

Früher, bevor diese kurzlebige Zeit anfing, hatten die Dinge noch Gewicht, noch einen Wert. Das hörte ich im Radio, als ich über die Neujahrstage nicht mehr machen mochte, als in der Küche zu sitzen und dem Programm zuzuhören. Vielleicht ist es auch einfach schwerer zu erkennen, was heute von Gewicht ist. Wer soll es heute wissen, wo man viel mehr erfahren kann, als je einer wissen könnte? Man weiss, dass man im Moment leben soll, doch hat es sich als sehr schwierig erwiesen herauszufinden, welche kurz- und langfristigen Strategien einem im Moment selber die grösste Befriedigung verschaffen. Überhaupt muss die Klage von der Kurzlebigkeit so alt sein wie die Veränderung überhaupt. Und doch spürt man es allenthalben – das wenigste von dem, was schnell kommt und wieder geht, kann Gewicht akkumulieren, Bedeutung erhalten. Und was von Maschinen oder Computern tausendfach hergestellt werden kann, atmet nur kalt; wir schätzen es nie wirklich und werfen es nötigenfalls ohne jegliche Traurigkeit weg. Gewicht hat vielleicht noch eine Begegnung mit Superstars, oder ein noch extremer ausgefallener Urlaub; aber auch das bald nicht mehr. Wir fliegen also durch den leeren Raum, und wir suchen nach Gewichten, die unser Herumflirren verlangsamen könnten. Als Trost bleibt nur die Hoffnung, dass die Gegenwart immer unsicher war, und die Gewichte immer erst später, für die Geschichtsschreibung, gegossen wurden.

Ich schritt und fuhr in letzter Zeit durch viele Bahnhöfe, durch die kalter Wind zog und in denen alle Leute mit Koffern und Einkaufstaschen beladen waren, Kopfhörer trugen und mit Telefonen hantierten. Ich nahm einmal mehr das kleine, weisse Frotteetuch aus dem Schlafwagen mit und fragte mich, ob man es nicht doch vielleicht auf dem Bett liegenlassen müsste. Ich fragte mich auch ständig, wie ich so viel hatte schreiben können. Ich fragte mich das genau so, wie ich immer überzeugt bin, etwas nicht mehr zu können, wenn ich es in dem Augenblick gerade nicht tue. Dabei wollte ich bloss die Frage vermeiden, warum plötzlich alles so vergeblich und lachhaft scheinen musste. Diese Vergeblichkeit hat immerhin den Vorteil eines süssen Fatalismus, auf dem ich reiten und viele Dinge tun kann; doch hat sie keinen Biss, sie hebt nichts hervor.

Ich habe so oft die Dinge betrachtet, und ich habe unter ihrem Schweigen gelitten. – Du hast nicht mehr zu ihnen gesprochen, das bestraften sie noch immer mit Stille. Lassen wir es, du wirst dich schon aufrichten, ich bin vielleicht auch manchmal ein bisschen streng zu dir. Es ist ein strenger Winter.

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