Personen

Dienstag, 10. Januar 2006

einordnen.

John ist Rechtsanwalt; darum muss er immer zunächst noch ein unumgängliches Telefonat erledigen, wenn man ihn in seinem Büro besucht, um ihn zu einer Verabredung abzuholen. Man fragt sich bei ihm manchmal, ob er eine bestimmte Handlung aus Freundschaft oder doch zur Karriereförderung vornimmt. Ich glaube nicht, dass er, wenn er sich selber betrachtet, die beiden Zwecke zu trennen vermöchte, dass diese Trennung in ihm überhaupt existiert. Und daher glaube ich, dass es auch müssig wäre, eine solche Unterscheidung von aussen her auf ihn anzuwenden. Ich habe mich also sehr gefreut, als er mich an meinem Geburtstag anrief.

Montag, 9. Januar 2006

duftluft.

Herr Tobler würde sich eine solche Sprachschöpfung wohl verbitten; doch man könnte durchaus sagen, dass er manchmal einer Art Geruchsvoyeurtum nachgeht. Es geht ihm dabei nicht darum, im Gedränge einer samstagnachmittäglichen Fussgängerzone das Parfüm einer Dame zu riechen, die ihm in der Not direkt vor die Füsse gestanden ist. Unter diesen Umständen kann er sich nicht auf solche Dinge konzentrieren; die Vielfalt der Gesichter, Gerüche und Geräusche in Menschenmengen bettet ihn zumeist in Duseligkeit. Herr Tobler achtet aber oft darauf, in der Eisenbahn einen Korridorsitz zu nehmen. Sobald der Zug fährt, die Reisenden ihr Gepäck verstaut und sich gesetzt haben, beginnt die Luft im Wagen sich zu beruhigen, und bald steht sie fast still, als ob das leise Surren der Lüftungsanlage sie schläfrig werden liesse.

Die Anlage saugt so fein, dass sie die Gerüche erst nach einer kurzen Weile schwächt, bevor sie sie zum Verschwinden bringt. Daher muss Herr Tobler jeweils warten, bis im Wagen die letzten warmen Speisen mit Lammfleisch aufgezehrt und einigermassen verdaut worden sind. Danach wird die Luft still und homogen, ausser, wenn Menschen durch die Wagenmitte schreiten. Immer dann, wenn diese schon drei Schritte an Herrn Tobler vorübergegangen sind, wird sein Gesicht vom Luftwirbel erfasst, der dem menschlichen Gang hintennach eilt. Auf diesen Moment hat er sich vorbereitet, indem er ausatmete. Sobald der feine Luftzug ihn erreicht, atmet er ganz vorsichtig und sanft ein, studiert den Geruch in der Nasenspitze wie einen alten Bordeaux auf dem Gaumen.

Natürlich mag er Frauengerüche besonders gerne, denn Kinder riechen häufig nach weichem Zwieback, und von Männern breitet sich zumeist dasselbe Rasierwasser aus, oder es sind bei ihnen nur die Faulsäuren schlecht getrockneter Jacken wahrnehmbar. Ihn interessiert eigentlich nur der Körpergeruch, nicht ein aufgetragener Duftstoff, doch bei Gesichtscremes gegen trockene Haut kann er sich nur sehr selten ganz verweigern. Das ist vielleicht so, weil er sich Frauen seit jeher nur in engstem Zusammenhang mit Cremes aller Art vorstellen kann. Er befürchtet manchmal sogar, dass das, was er zweifelsfrei als genuinen und zudem betörenden Frauengeruch festgestellt hat, vielleicht doch bloss das Ergebnis einer Kombination von Düften ihm noch unbekannter Pflegemittel und Kosmetika sei.

Manchmal sitzt Herr Tobler den ganzen Nachmittag über im freskenüberhangenen Lesesaal der Stadtbibliothek und liest, unter all den lernenden Studenten, einen geschichtlichen Roman über Intrigen in verblichenen Kaiserdynastien, oder eine Geschichte mit Protagonisten, die über ihr Leben sinnieren. Er las einmal bei einem Autor von der abstrakten, freien Zukunft, die der Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenensein gegen die konkrete, bestimmte, unveränderbare Zukunft eintauschen muss. Und weil er über seine eigene abstrakte Zukunft nicht hatte verhandeln wollen, weil sie ihm dann einfach abhanden kam, fühlt er sich bei Studenten wohl, bei diesen Inbegriffen des hinausgezögerten Könnte-Seins.

Zwischen den Zweierlesepulten gibt es auch in der Bibliothek einen Mittelgang, in dem Durchschreitende die Luft aufwühlen und für kurze Zeit mit ihrem Geruch anreichern. Manche riechen nach gekochtem Öl und altem Zigarettenrauch; andere wiederum nach ihrem Kopfkissen oder ihrem Feinwaschmittel. Hat Herr Tobler Glück, so setzt sich eine fein duftende Studentin neben ihn (er kommt vorsichtshalber schon in der Mittagspause, wenn noch die meisten Pulte ganz unbesetzt sind; so muss nicht er um einen Platz bitten), wobei er hier (es geht ja um den ganzen Nachmittag) auch mit guten Parfüms Vorlieb nimmt. Er streicht ab und zu eine besonders gute Passage seines Buches mit grünem Leuchtstift an, um sie später wieder zu finden; obwohl er weiss, dass er sie nie mehr suchen wird, dass er das nur hier tut und nur, um sich dem wissenschaftlichen Tun um ihn herum anzugleichen.

Damit sich seine Nase nie zu sehr an den Duft seiner Nachbarin gewöhnen kann, wischt er sie regelmässig gründlich mit einem Tuch ab und schnuppert dann von neuem; unhörbar langsam durch die Nase, mit dem Gesicht tief in den Textzeilen. Er liest nie sehr viel, denn in der Ruhe, die ihm hier verordnet ist, bringt ihm der andauernde Duft der Nachbarin mit all seinen Facetten Gedanken und Erinnerungen, die ihn forttragen.

Dienstag, 20. Dezember 2005

prinzipien.

Konrad ist ein Mensch, der Angst hat. Angst vor der Welt. Er wird bald heiraten; heute war er zur Erledigung der Formalitäten auf dem Standesamt. Angst vor der Welt kommt in allen Schichten vor, wahrscheinlich gleichmässig verteilt. Auch vor seiner aus gleicher Schicht stammenden Zukünftigen hat er Angst; jedenfalls dann, wenn sie besorgt zu ihm in die Küche ruft, wo er gerade etwas zu sehr mit dem Geschirr klappert: „Ach, Konni, lass das doch, ich mach’s dann schon!“ Aber diese Angst ist ihm um vieles lieber als andere Ängste, die draussen, ausserhalb dieses lichterkettenbehangenen Villenquartiers, lauern und über ihn lachen.

Man merkt Konrad seine Angst nicht an; alles liesse darauf schliessen, dass er sich wohl fühlt und er in der beruflichen Position, die er seit Jahren nicht aus den Augen lässt, sich irgendwann einmal in Zufriedenheit würde baden können. Doch das ist nicht gesichert. Denn letztlich geht es ihm nicht um diese bestimmte Einordnung in seiner Berufskaste und der allgemeinen Gesellschaft, sondern nur darum, die Ansprüche, die er um sich herum und in sich drinnen spürt, aufzufangen und zum Schweigen zu bringen. Konrads Vater ist an einer Stelle angelangt, welche seine ausserordentliche Fähigkeiten und seine Hochintelligenz ex officio beglaubigt; Konrad selber hingegen ist nur ganz gewöhnlich intelligent. Er fragt nicht gerne nach, das kommt ihm nicht in den Sinn. Er weiss, dass er das, was er weiss, meist nur gehört oder gelesen hat, doch er mag nie nachfragen.

Wenn Konrad erzählt, lehnt er sich zurück in die Breite des Sofas und streckt beide Arme zur Seite hin von sich. Er klatscht mit den Handflächen auf die Lehne, legt seinen Kopf nach hinten und blinzelt über die unteren Lider hinweg. Er spricht über die Schlechtheit von Politikern und Staatsbediensteten; er legt dar, warum er mit dem und jenem in seinem Umfeld brechen musste. Er hat strenge Prinzipien, und das nicht ohne Gründe, wie er sagt. Viele Menschen haben bereits gegen diese Grundsätze verstossen, und darum musste er sich von ihnen abwenden. Manche haben sich vielleicht selber widersprochen und plötzlich mit der geschlafen, die sie vorher blöd fanden. Manche haben vielleicht ihm etwas versprochen und ihn dann trotzdem enttäuscht. Manche haben vielleicht einfach den Fehler gemacht, ganz anders zu sein als er, oder ihn nicht besonders zu mögen. Alle sind sie in seinen Berichten ein wenig wie dumme Meerschweinchen; sie können alle etwas nicht, das er hingegen kann.

Konrad fürchtet sich auch vor Menschen, die von weit herkommen oder deren Ahnen von weit herkamen. Auch wenn sie ihm in seinem Büro nur spätabends, als Putzkräfte entgegentreten. Er fürchtet sich auch vor denen, die nichts haben und herumlungern. Er weiss das zwar nicht, denn immer schon stand er breitbeinig, hier an diesem Platz. Aber er traut niemandem und fürchtet um seinen Platz, weil er weiss, dass er diesen vererbt bekommen hat, und weil er in sich spürt, dass er nichts dafür konnte. Konrad liebt sein kleines Wohnzimmer mit den roten Ledermöbeln, mit der baldigen Ehegattin und mit dem Diplom im Glasrahmen, in dem seine Prinzipien und Regeln ihn vor der Verletzung seiner Gefühle bewahren.

Montag, 12. Dezember 2005

dekret.

Erlauben Sie, mein König, dass ich Ihnen das Dekret nochmals verlese, bevor Sie es signieren. – Nein, nein, ich kenne es wohl, Herr Justizminister, ich kenne es sehr gut. Es verbietet allen Männern auf meinem Hoheitsgebiete, zu Tag und zur Nacht, jegliches Trinken geistiger Getränke, unter der Androhung schwerer Strafen, die bis zur Verbannung reichen können. – Oh ja, mein König, Sie haben das genau erfasst. Darf ich Ihnen noch einen Whisky reichen, bevor Sie unterzeichnen? – Ja, bitte, sehr gerne, lassen Sie nur nachschenken! Sagen Sie, Herr Minister, genau genommen (und ich habe mir das wirklich lange überlegt!), müsste man nicht fast behaupten, dass mit diesem Dekret auch mir das Trinken verboten werden könnte? Schliesslich befinde ich mich ja auch zumeist auf meinem Territorium, wenn ich nicht gerade auf Seereise bin. – Mein König, Sie zeigen Hang zu groteskestem Scherz; natürlich kann dieses Gesetz nicht auf Sie angewandt werden. Sie sind doch damit überhaupt nicht gemeint! … Sie sind ja auch kein Trinker, Sie trinken kultiviert. – Nun, ich sehe, was Sie meinen, Herr Minister, Sie sind ein weiser Mann. Sie treffen haarfeine Unterscheidungen, die aber dann doch bloss ihr Juristen versteht. … Ich aber sage Ihnen: Wir leben hier in einem Rechtsstaat, und ich dulde nicht, dass der König irgendwelche Privilegien geniesst. Und darum fordere ich Sie auf: Ändern Sie diesen Rechtssatz, ich möchte nicht anders behandelt werden als mein Volk. – Natürlich, mein König, wir werden eine neue Vorlage ausarbeiten, welche bloss das verwahrloste Trinken unter Strafe stellt. – Ich wusste es, ich wusste es, dass Sie es besser können, Herr Justizminister! Gehen Sie, und empfangen Sie Ihre gerechte Belohnung.

Donnerstag, 8. Dezember 2005

pfefferminztee.

Von allen Seiten her muss Herr Tobler Blicke in Kauf nehmen; sein quadratischer Tisch steht mitten im Raum. Normalerweise sitzt er am grossen Fenster. Nun war nur dieser Tisch noch ganz frei. Denn – jemanden an den grossen Tischen mit den vielen freien Plätzen anzusprechen, das hat Herr Tobler sich nicht gewagt. Er weiss, dass die Leute, die dort sitzen, sich nicht wirklich kennen, doch zugleich scheint ihm eindeutig, dass sie sich eben doch alle irgendwie bekannt sein müssen. Er hingegen hat keinerlei Anknüpfungspunkte zu bieten.

Er ist gerade mit dem Zug angekommen und hatte eigentlich keine Lust mehr darauf, Leute zu sehen, mochte aber auch nicht heimgehen. Ein altgedienter Erstklasswagen seines Zuges hatte Klebezettel an den Fenstern getragen: „Deklassiert“. Und Herr Tobler war in stiller Vorfreude auf den geschenkten Zusatzgenuss zur Eingangstüre marschiert, doch die Plätze waren alle besetzt gewesen von anderen Zweitklasspassagieren, die ihre Eroberung sichtlich genossen. Herr Tobler ist in einen fast leeren Zweitklasswagen ausgewichen und hat sich während der ganzen Fahrt in gekrümmter Haltung im Sitz versteift.

Er liest schon in der zweiten Zeitung, und ab und zu blickt er kurz zur Kellnerin, ohne den Kopf anzuheben. Sie sieht meist woanders hin, auf die Hebel und Gläser, auf ihr Portemonnaie oder in die Augen der Zahlenden. Doch ein paar Mal schon hat sie kurz zu ihm zurückgeschaut. Nicht freundlich, nicht unfreundlich, nicht einmal gleichgültig und vielleicht ein wenig fragend. Normalerweise hätte Herr Tobler es sich bequem gemacht, hätte sich zurückgelehnt und laut geraschelt beim Blättern der Zeitungsseiten. Er hätte sich heimisch gefühlt und stundenlang auf den Gehsteig hinausgestarrt. Normalerweise hätte er eintretenden Gästen freundlich in die Augen geschaut und ihnen vielleicht gar zugenickt. Nicht so heute, er fühlt sich klein und möchte gehen, doch er hat ja noch nicht einmal seinen Tee bestellen können.

Wenn er einfach aufstände und ginge, ohne konsumiert zu haben, sähe das allzu merkwürdig aus, findet er. So kann er erst recht nicht schon wieder weg; Herr Tobler ist sich sicher, dass längst alle im Raum dem fortdauernden Versäumnis der Kellnerin diskret und gespannt zusehen. Sich bemerkbar zu machen, das kommt ihm heute nicht einmal in den Sinn. Die Kellnerin ist von einer Schönheit, die ihn zuerst erschreckt und dann eingeschüchtert zurücklässt.

Und nun kommt sie auf ihn zu, lächelt verlegen und fragt: „Haben Sie noch gar nichts bestellen können?“ - „Nein, doch ich hätte ganz gerne eine Tasse marokkanischen Pfefferminztee, also ich meine, einen mit marokkanischer Minze, Pfefferminze, drin. Bitte.“ – „Ach, das tut mir leid, ich dachte die ganze Zeit, Sie hätten schon längst erhalten! Entschuldigen Sie vielmals, das ist mir sehr peinlich.“ Sie lächelt lieb und versöhnlich. Normalerweise hätte Herr Tobler das genossen. Doch weil er sie nur ausdruckslos ansieht, sagt sie: „Kommt sofort…“ und geht zur Theke zurück.

Was redest du da, sagt Herr Tobler in Gedanken zu ihr, mir ist es peinlich, mir alleine. Du lächelst dich ohnehin verlegen durch den Tag. Aber ich, ich habe mich gefangennehmen lassen, habe deine kleine Unachtsamkeit bar jeglicher Vernunft als Beweis meiner Nichtigkeit, meiner Ohnmacht und als tiefe Verletzung erlebt. Ich bin nicht böse auf dich, was kannst du schon dafür. Aber lass mich bitte in Ruhe, ich mag dir nicht verzeihen. Das schiene mir ganz und gar lächerlich, ist es doch nicht die mangelhafte Dienstleistung, die mich so schmerzt. Das wäre noch das Geringste. Normalerweise würde ich mit dir scherzen, würde vielleicht über uns lachen, doch nicht heute.

Mittwoch, 30. November 2005

disput.

Du verdammtes, egoistisches Wohlstandsgör, du pumpst dich allabendlich mit Rauschmitteln aus der Welt hinaus. Du willst mir etwas erklären? Schweig bitte, schweig schnell; ich hab Leute wie dich echt dick, du bist für mich so durch wie nur etwas. Mach nur, spiel dich auf, du Philosoph der grossen Zusammenhänge. Solang’ die Bank noch Kohle schiebt, so lange wirst du weiter machen. Relativiere nur, deklariere deine Ohnmacht, deine Unkenntnis. – Nun beruhige dich, du schweisstriefender Gutmensch, sonst bist du dieses Label bald mal los. Mach dich doch zum Rädchen in der Maschine, das du so verachtest. Ja, nichts anderes tust du, als uns allen die Gewissheit zu geben, dass da schon jemand dazu schaut, zu den hässlichen Dingen; jemand der verrückt genug ist, der ohnehin nichts Gescheites tun könnte. Schön für uns alle, denn so können wir das abhaken und dir zu Weihnacht eine Spende zukommen lassen. Und mehr und mehr sind wir überzeugt, dass alles gut ist so; denn was wir nicht so gut machen, das machst du wieder gut. Immer wieder sind wir so überzeugt, dass alles gut ist, dass wir dich nur noch belächeln können, weil du das nicht sehen willst. – Diese deine Überheblichkeit ist es, die mir mehr Galle in den Mund spült, als fünfzehn Ochsen in ihrem ärmlichen Dasein je hergeben könnten. Ganz anders sprächest du, sässest du tagsüber nicht auf einem Lederstuhl. – Ich könnte mir dessen nicht bewusster sein, sei dir da versichert. – Und doch tust du nichts, ausser zu denken; und dabei kommst du immer zum gleichen Schluss, dass nämlich nichts getan werden könne. Und dann tust du nichts. Ich finde, ich tue etwas Sinnvolles, nicht so wie die meisten anderen, und das gibt mir Befriedigung. Eine Genugtuung, die du und die anderen nicht erreichen werdet. – Nun reicht’s mir, ich müsste dir den Kopf abreissen, aber du bist zu tief in deinem Filz, um noch irgendetwas sehen zu können. Wie viele dummnormale Schafe braucht es denn, was meinst du, damit einer wie du sich besonders fühlen kann? Glaubst du etwa, mir bereitet das alles eitle Freude? Ich leide, genau wie du. Aber ich leide noch viel mehr, weil ich mir nichts vormache wie du. Ich gehe nicht auf darin, Sandkörner einzeln auf erodierende Berge zu tragen, ich kriege diese selbstgerechte Feierabendzufriedenheit nicht, nur weil ich zu den Besserdenkenden gehöre. – Arroganter Tor! – Verblendetes Eifererarschloch! – Ersaufe in deiner Ohnmacht! – Ersticke an deiner Allmacht!

Donnerstag, 24. November 2005

zeitensprung.

In der Stube, im Fernsehen warb eine ehedem preisgekrönte Stadtschönheit in enger Bekleidung und starker Befärbung für ein Ratespiel, das sich mit Fernsehwerbung auseinandersetzte und beworbene Produkte als Gewinne auslobte. Max räumte zum dritten Mal den Abwaschautomaten wieder aus, um durch klügeres Einordnen sämtliches Geschirr unterbringen zu können. Gerd klaubte Farbstifte und Papierschnipsel vom Boden. „Das war ein schöner Sonntag, Gerd! Ich finde mich plötzlich in einem neuen Zeitalter wieder.“ Gerd blickte auf, erhob sich und holte Schaufel und Besen. „Ja, es war sehr schön, aber was plapperst du von neuen Zeiten?“ Kauernd wischte er Krümel und Schnipsel auf die rote Plastikschaufel mit dem ergonomischen Griff. „Ist doch klar, wir waren vor recht kurzer Zeit noch Kinder, haben uns hier gerade erst als Erwachsene im eigenen Reich konstituiert, und plötzlich rennen diese kleinen Kinder uns um die Ohren, ziehen Klopapier quer durch die Wohnung und lassen ihre Tassen halbvoll stehen.“ Max fluchte theatralisch, weil er gerade eine Tasse beim Einräumen auf den Kopf gestellt hatte, ohne zu ahnen, dass die Milch auf den Maschinendeckel und von da aus auf seine Hosenbeine spritzen würde. „Verstehst du, wir haben die paar Jahre doch krampfhaft versucht, erwachsen zu sein, uns nach unseren Vorstellungen einzurichten und auch so zu leben, in unserem Reich. Aber wir wussten immer, dass das hauptsächlich Mache war. Und dann kommen die Kinder und machen einen gleichsam begriffsnotwendig zu Erwachsenen. Das ist der Zeitensprung.“ Max schob die Schubladen sorgfältig in die Maschine zurück und schloss den Deckel triumphierend. Er setzte sich an den kleinen Holztisch und legte seine Füsse auf einen zweiten Stuhl. Gerd leerte seine Schaufel in den Abfalleimer, versorgte das Putzzeug und setzte sich ebenfalls. „Ja, nun, ja, die sind süss, die Kleinen, nicht?“ „Keine Frage, Gerd! Süsse Mutter, süsse Kinder, alles wunderbar! Und sie mögen dich sehr, vertrauen dir, beziehen dich mit ein; das sieht man. Sie sind eigentlich eher scheu, aber sie wollen andauernd auf deinem Schoss oder auf deinen Schultern sitzen. Mir gefällt, dass Eva jetzt auch ab und zu hier erscheint, dass ich sie auch kennenlernen durfte, und dass sie die Kinder mitnimmt.“ „Das ist es ja, Max. … Nimmst du einen Kaffee, vielleicht?“ „Gerne; aber, was meinst du genau?“ Gerd stand auf, drehte sich um und wandte sich der Kaffeemaschine zu; er mahlte das Pulver, füllte das Sieb und brühte den Kaffee mit bedächtig und bedeutsam ausgeführten Handgriffen. Max verstand, dass er zu verstehen hatte, wie Gerds gesamte Aufmerksamkeit gerade von der Kunst der Kaffeezubereitung in Anspruch genommen war. Endlich drehte Gerd sich um, stellte die beiden Tässchen auf den Tisch und bot Max die Zuckerdose an. „Es ist schwierig, weisst du, mit den Kindern. Ich werde selber zum Kind, ich werde sie bald lieben, ich werde sie bald vermissen, wenn ich sie nicht sehe. Und für sie bin ich schon jetzt ein gewichtiges Ereignis in ihrem kurzen Leben. Das ist es.“ „Natürlich, mein Lieber…“ Max streckte seinen Rücken und lehnte sich weit vor, stützte sich auf seine Unterarme, die er auf dem Tisch vor sich verschränkt hatte. „Ich weiss doch. Die Kinder sind nicht freiwillig dabei, in diesem Experiment. Aber das ist genau das Gute an dieser Geschichte, Gerd, genau das Gute!“ „Warum?“ Gerd duckte sich in seinem Stuhl; ihm war unwohl, wenn Max ihm die Welt erklärte, und doch konnte er nie weghören. „Ganz einfach. Für einmal musst du dich entscheiden. Und zwar früh. Gleich. Nicht wie im Fernsehen. Sondern jetzt. … Naja, spätestens in ein paar Wochen, jedenfalls. Für einmal kannst du nicht Tee trinken und die Dinge ihrem Lauf überlassen. Das kannst du ohnehin nicht, dieses scheinbare Geschehenlassen ist bloss unsere miese kleine Ausrede; doch das ist eine andere Diskussion. Du könntest wohl sie verlassen, wenn ihr euch fad werdet. Aber du spürst es ja, du könntest die Kinder niemals versetzen. Und bald schon werden sie auf dich zählen.“ Gerd rührte im Zuckerrückstand seiner weissen Espressotasse herum, und Max drehte sich zum Fenster, um zu rauchen. „Es ist gut, du hast recht. Ich brauche diesen Tritt in den Arsch.“

Sonntag, 13. November 2005

wissen müssen

Diese Strasse wurde geopfert und vergessen. Sie liegt gleich hinter der scheinalten Altstadt; sie schluckt tags und nachts den Verkehr, den man aus der Kopfsteinpflasterzone vertrieben hat. Jeder kommt hier einmal durch, der sich auf dem Parcours der Einbahnstrassen dieser Stadt fortbewegt, doch keiner, der diese Strasse je verlassen hat, kann sich im darauffolgenden Augenblick noch an sie erinnern. Es ist allen, als wäre zwischen den letzten beiden Ampeln nichts passiert, als hätten sie kurz gedöst und nichts mitbekommen, und nicht einmal das bemerkt jemand.

Diese Strasse hat breite Trottoirs, aber gar keine Läden, nur schwerfällige, hochgeschossige, hundertjährige Verwaltungsburgen, die heute menschenleere Server- und Datenräume beherbergen. Die Mauern sind dunkelgrau und alle auf einer Linie, und die untersten Fenster sind weiter oben als jeder Kopf, ihre weit herausragenden Simse verstellen sämtliche Sicht ins innere. Auf sichtbarer Höhe sind bloss die kleinen Kellerfenster mit Schmiedeisengittern, die hinter einem dicken Rahmen vom Inneren der Wand her das Schwarze hervorgucken lassen.

Ein Blechkasten mit zwei verspiegelten Augen wacht über die Fahrzeuge, die durch diesen Korridor rasen und breite Linien, gesprenkelt von weissem Schaum, durch das Regenwasser ziehen. Ab und zu schickt er orange Blitze zu Boden, die zu den Häuserwänden zurückfallen, erlischt sogleich wieder und bewegt sich nie. Nina geht schnell, aber nicht auf gerader Linie, sie trägt zwei schwere Papiertaschen, deren Schwung sie mal auf die eine, mal auf die andere Seite ausschweifen lässt. Die Butter ist wohl weich geworden, und die Eierschwämme pampig. Sie war nach dem Einkaufen noch im Kino, und dann in der Kinobar beim Portwein, weil der Humor des Films es nicht vermocht hatte, auf sie überzugreifen. Sie war fünf Gläser lang geblieben und hatte mit dem dünnen Mädchen an der Theke, das sich wie jeden Dienstagabend langweilte, ein nettes Gespräch über Studiengebühren und Assistenzärzte geführt. Jetzt war sie alleine und musste hier durchgehen, wo kein Schaufenster mehr ihr Abwechslung bot, keine Bar mehr sie mit Versuchung ablenken konnte. Nur Mauern, Boden, Stein, Teer; und Autolichter.

Sie hätte es wissen müssen. Damals, Nina, da hast du noch Katharina und den anderen erzählt, wie süss er sich herausgeredet und behauptet hätte, Anna sei seine Cousine. Natürlich hast du die Lüge rasch erkannt, aber da trennte er sich schon von Anna, und nicht viel später fing alles so schön an. Du dachtest oft an die Lüge, doch du fandest sie süss und vollkommen ohne Schuld. Du fandest sie nur süss, weil sie für dich geschah. Dachtest du – für dich. Es war für ihn, alles nur für ihn, für seinen Egoismus. Du hättest es wissen müssen. Ich werde die Eierschwämme wegwerfen, und ich werde eine neue Wohnung gefunden haben, ehe er zurück ist. Ob er ihr gesagt hat, dass ich seine Tante sei?

Nina fasste die feucht gewordenen Papiertaschengriffe mit den Händen nach und drückte die Finger fester zusammen. Sie zog ihren Kopf nach oben und atmete tief ein. Nur noch fünfzig, hundert Meter, dann die Gasse hinab und zur Türe hinein. An der Ampel vorne sass ein Mann im Fenstersims eines Kellerfensters; er musste sich ducken und den Kopf ein wenig hervorstrecken, weil der Leerraum nur bis zu seinem Nacken reichte. Zwei Krücken lehnten an der Wand, und eine Bierdose stand neben dem sitzenden Mann. Er blickte ängstlich zu ihr hoch, wie sie an ihm vorüberschritt. Sein Fussverband war von der nassen Strasse geschwärzt worden. Gestern noch hatte sie am Bahnhof oben zwei Franken für ihn aus der Hosentasche geklaubt. Sie wich seinem Blick nach kurzem Verhaktsein darin wieder aus. Und du wolltest traurig sein, Nina. Da, das ist traurig, mein Mädchen. Schäme dich.

Freitag, 11. November 2005

festlegen

Warum, warum nur, frage ich Sie, sollte ich mich denn bloss – „festlegen“? Das fragte die Künstlerin am Vernissagenapero ihre Schulfreundin vom Fernsehen, die sie gerade für die Abendregionalnachrichten befragte. Und in die Betonung des Wortes „festlegen“ legte sie ihr ganzes verfügbares Unverständnis. Sehen Sie, all die Stile, Theorien und Schulen, das ist meine Klaviatur, und ich kann Ihnen versichern, ich mag davon jede einzelne Taste. Ich muss bloss herausfinden, welcher Ton meinem Gefühl heute entspricht. Was wollen Sie heute denn anderes tun? Dem Klavier eine neue Taste verpassen? Neues kann nicht mehr kommen. Ich bitte Sie, Verehrteste, warum sollte ich, wie könnte ich, mich auf eine einzige Form beschränken, wo doch heute niemand weiss, wohin wir alle gehen?

Sonntag, 6. November 2005

verfälschen.

Herr Devilliers wird wohl schon bald ein wenig im Gefängnis sitzen. Er hat nämlich beschlossen, so sagte er mir stolz, Wahlfälschung (Art. 282 StGB-CH) zu begehen, ein „Vergehen gegen den Volkswillen“. Das gibt Gefängnis bis zu drei Jahren. Vielleicht auch bloss eine Busse – wenn man lieb aussieht und nicht in amtlicher Eigenschaft handelt. Er hatte die Kampagne satt, die gerade lief. Abstimmungskampagnen waren immer mehr oder weniger heuchlerisch, aber diesmal fühlte er sich so angegriffen, dass er illegales Tun für gerechtfertigt hielt.

Wie immer am Sonntagmorgen sass Herr Devilliers in einem dunklen Kunstledersofa am Fenster des Tea-Room Royal und las ausgiebig deutsche und französische Zeitungen der letzten Woche. Er liess sich Kännchen mit Schwarztee bringen und ass um halbzwölf ein dreifaches Rührei mit Milch. Anstatt einer Krawatte wölbte sich wie immer ein feinbedrucktes, blaurotes Seidentuch aus dem um zwei Knöpfe geöffneten Streifenhemd. Heute brach die Sonne um zehn durch den Nebel, setzte den Teeperlen am Tassenrand einen Funken auf und liess die tiefen Furchen auf der Stirn von Herrn Devilliers klarer hervortreten, als er sich aufregte.

Es ist klar; es geht bei dieser Abstimmung nicht um den Sonntagsverkauf am Bahnhof, so, wie’s auf dem amtlichen Zettel steht, sondern um ein Signal, das die Bevölkerung den interessierten Deutern geben wird. Sie wird nämlich sagen: Ja, kein Problem, wir wollen einkaufen am Sonntag, und zwar alles und noch mehr; nicht bloss (weit ausgelegten) „Reisebedarf“. Sobald die Bahnhöfe alles verkaufen dürfen, werden sie zu Einkaufszentren mit Bahnanschluss, was wiederum enormen Druck auf die Städte und Megamalls auf der betonierten Wiese erzeugen wird. Sie werden Gleichbehandlung einfordern. Und je mehr Menschen am Sonntag arbeiten, desto weniger wird sich der Lohnzuschlag halten können. Darum geht es.

Hingegen lächelt von den Plakaten und aus den Inseraten, deren Textteil in fast bundesbahneigenem blauweiss gehalten ist, eine junge Dame mit Erfahrung als Bundesbahnangestellte, die Miss Schweiz wurde; in der Linken trägt sie das tägliche Fait-divers-Kompendium „20 Minuten“, diesen urbanen Inbegriff journalistischer Realitätsverachtung und leserischer Realitätsverweigerung. Keine Zeitung, und sei sie noch so gut geschrieben und bebildert, zählt so viele Leser hier wie dieses Schülerblatt, und weil sie gratis ist und auch sehr billig, verschmutzt sie zu Hunderten, in Dreck und Staub herumliegend, alle Züge und Bahnhöfe dieses Landes. Damit wurde sie in der Tat zum Symbol für den Bahnhof und die modernen, aufgeschlossenen, interessierten und modischen Menschen, die mit I-Pod und Gratisblatt über die Schienen sausen und einen Blick durchs Fenster nicht verständen. Und zu dieser Art von Modernität soll ich also ja sagen?

Nicht minder in Rage geriet Herr Devilliers ob der freisinnigen Partei, welche die freie Wahl, auf die bekanntermassen kaum jemand gerne verzichtet, einem knallharten „Einkaufsverbot“ gegenüberstellte. Es wäre eine jener Abstimmungen geworden, bei denen Herr Devilliers für die Schwachen gestimmt hätte, ohne sich mit der Vorlage näher zu beschäftigen, ohne gänzlich überzeugt zu sein, weil er seine Stimme aufgrund der einmal mehr zum Vornherein glasklaren Verhältnisse als kleines Protestsymbol verstanden hätte.

Doch durch diese beiden Kampagnen der Wirtschaft, die hier ein leichtes Spiel hatte und trotzdem keine einzige ihrer Karten auf den Tisch legte, fühlte sich Herr Devilliers in seiner Würde als betont intellektueller Mensch angegriffen. Eine Schönheitskönigin a.D., die mit dem Verdummungselaborat par excellence posiert und für Dinge wirbt, die nicht Gegenstand der Diskussion sind („Offene Bahnhöfe“). Und eine Partei, die offenbar den jederzeitigen Konsum einfordert und ihre Gegner, denen ein halbgrundsätzlich shoppingfreier Sonntag wünschenswert vorkommt, als Tyrannen, als Feinde von Freiheit und Vernunft, beschimpft („Freie Wahl statt Einkaufsverbot – Ja zu vernünftigen Ladenöffnungszeiten“).

Und in seiner Kränkung hat Herr Devilliers beschlossen, eigenhändig 17'000 Stimmen zu fälschen und in verschiedenen Zähllokalen in die Urnen zu schmuggeln. Selbst wenn ihm das gelänge, war ich versucht einwenden, würde diese Abstimmung für die Gegner mit noch viel mehr Stimmen Unterschied bachab gehen. Aber er will bloss seinen Ärger stillen, nicht ins Weltgeschehen eingreifen.

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Reh Volution - 10. Nov, 07:32
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moccalover - 6. Nov, 00:05
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moccalover - 6. Nov, 00:05
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moccalover - 6. Nov, 00:04
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Reh Volution - 12. Okt, 08:12
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moccalover - 12. Okt, 00:43
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moccalover - 2. Sep, 22:53

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