Naechtlichtaeglich

Donnerstag, 12. Januar 2006

stimme am morgen.

Das erste, was heute Morgen zu meinem Bewusstsein durchdrang, war eine weibliche Stimme. Ich wurde mit dieser Stimme wach, weil sie plötzlich in meiner noch halb geträumten Wahrnehmung auftauchte, und weil sie mich bei der langsamen Erlangung meiner Sinne begleitete. Ich bemerkte nach und nach, dass die Töne eine Stimme waren und die Stimme sinnhafte Worte ausstiess. Und ich bemerkte schliesslich, dass ich über all die Zeit gewusst hatte, dass ich die Stimme kannte. Es war, als läge die Frau neben mir im Bett. Sie sprach ruhig und ernsthaft.

Es ist sehr lange her, dass ich das letzte Mal von dieser Stimme geweckt wurde, weil ihre Besitzerin neben mir geschlafen hatte und vor mir aufgewacht war. Das war nie ein häufiges Erlebnis, denn damals waren wir noch zu jung, um mehr als bloss zu ein paar besonderen Gelegenheiten beieinander zu übernachten.

Seither ist die Stimme hörbar tiefer und wärmer geworden; sie erinnerte mich an einen alten, samtenen Bordeauxwein. Seither habe ich die Stimme nur noch sehr selten gehört, und nie mehr im Bett, am frühen Morgen. Ich war alleine letzte Nacht, aber sie, sie präsentiert neustens Regionalreportagen im Radio, daher konnte sie aus meinem Wecker heraustönen. Ich habe ihre Stimme mit heimlicher Freude genossen und mich stolz als ganz besonderer Zuhörer gefühlt.

Montag, 9. Januar 2006

drang.

Wo, wo nur mag dieser Drang herkommen, der mich so häufig erfasst – dieser besitzergreifende Gedanke daran, genau das zu tun, was mir Anstand und Sitte gleichmässig absolut verbieten? Was bloss amüsant sein könnte, wird mir zur Qual; aus lauter Angst, es könnte der unsichtbare Gedanke in meinen Augen aufscheinen, oder er könnte sich gar in einer Tat materialisieren.

Die älteste Erinnerung, die ich daran habe, geht auf meinen gefühlskalten Trompetenlehrer zurück, den ich auch wegen seines Rauchermundgeruchs hasste und dessen grösstes Lob sich auf ein aus dem Hals gedrücktes ‚brauchbar’ beschränkte (natürlich spielte ich nie besser, das sehe ich heute ein, doch so viel Wahrheit schuldete er mir nicht; er wurde privat bezahlt). Er hatte nie Hoffnungen, die sich mit mir verbanden, er verwaltete mich bloss.

Und ich, der ansonst brave Zwölfjährige mit Motivationsschwierigkeiten, was die Regelmässigkeit des Übens und das Üben überhaupt betraf, stellte mir oft vor, was wohl wäre, wenn ich diesem Musikpädagogen in seiner immergleich militärisch-trockenen Laune plötzlich aus dem Nichts heraus – gerade, als wir unsere Hände zum Abschied schütteln und ich meinen Blick vor dem Gehen senken müsste – meine Meinung erklärte: Du verdammtes Arschloch, du. Halt endlich deinen hässlichen Mund, ich finde dich äusserst erbärmlich, du stinkender Affe. Was passieren könnte, wenn ich unvermittelt das langjährig eingeübte Spiel aus resignierter Kritik und resigniertem Schweigen in den Zäunen bürgerlicher Höflichkeit unterbräche und das täte, womit er nicht rechnen musste.

Und über all die damals ewigen Jahre, in denen ich noch den schweren Instrumentenkoffer zur Musikstunde trug, bis ich endlich sechzehn war, konnte ich mir nie auch nur ein einziges Mal vorstellen, wie die derart eskalierte Situation sich weiterentwickeln könnte. Ich hatte schlichtweg keine Ahnung, ob er verdattert dasitzen, mir eine scheuern, das Ganze ignorieren oder in aller zusammenklaubbarer Vernunft ‚so nicht!’ murmeln würde. Das einzige, worüber ich sicher war – und genau deswegen faszinierte mich auch das Gedankenspiel; mir lag im Übrigen nichts daran, dass er meine Meinung so direkt erführe –, war die Erkenntnis, dass es für solche Situationen kein Protokoll, keine Regeln mehr gäbe. Man befände sich im Raum des freien Falls, oder der freien Improvisation (wie er sie mir in der Jazzmusik nie beibringen konnte).

Ich weiss wohl, dass es immer Schüler gab und geben wird, die keinerlei Skrupel verspüren, ihren Lehrern so zu begegnen – früher wurden sie in alle Farben geprügelt, und seit der Abschaffung solcher Massregeln muss sich eine neue pädagogische Reaktion erst noch allgemein durchsetzen. Für mich aber wäre solches undenkbar gewesen, ausser Frage, im eigentlichen Sinne unerhört: Ich galt nie als flegelhaft, sondern beugte mich in Schule und Gesellschaft ängstlich allen Förmlichkeiten, um wenigstens aus diesem Nichtauffallen, aus der sittlichen Unantastbarkeit, Freiheit zu schöpfen. Daher bezog mein Gedankenspiel mit ein, dass mein Trompetenlehrer nicht damit rechnen, darauf gefasst sein konnte, dass ich etwas derart Unanständiges, Verletzendes, äussern könnte, und dass er daher in seinem gesamten Kulturverständnis erschüttert werden würde. Und den schwerelosen Raum, in dem wir alsdann gestanden hätten, hätte ich zu gerne einmal erkundet; doch ich konnte mich stets beherrschen.

Wenn ich heute mit Herren, die deutlich älter sind als ich, und die Würde tragen oder getragen haben, am Apéro-Stehtisch plaudere, mit ihnen diniere oder bloss Kaffee trinke, kommt dieser schelmenhafte und ketzerische Gedanke häufig wieder. Ist die Vorstellung harmlos, so stelle ich mir mitunter zwanghaft vor, wie ich den, der mir gegenübersitzt, ohne Vorankündigung, innig und mit grosser Kraft auf den Mund und in den Mund küssen könnte. (Das geschieht meist dann, wenn ich den Mann für das, was er ist und sagt, schätze und ich ihn mag, weil er in mir die Gegenstücke zur väterlichen Liebe weckt.) Schon dies bereitet mir grosse Mühe dabei, zugleich mit meinen Gedanken auch in der Linie unseres Gesprächs zu bleiben. Ist der Gedanke böser (was bei ebenso lieben Menschen geschehen kann), so suggeriert er mir, ich solle eine Ausführung meines Gegenübers, die sich durch besonders bestechende Eloquenz kennzeichnet, mit der einen oder anderen Vulgärbezeichnung für Körperausscheidungen oder sekundäre Geschlechtsmerkmale quittieren. Oder er rät mir gar, mitten im Gourmetlokal auf einmal aufzustehen, meine eigenen Organe zu entblössen und die Gemütlichkeit des Gesprächs dergestalt zu vernichten.

Ich habe das alles noch nie getan, und ich halte es trotz aller Angst für unwahrscheinlich, die Kontrolle inskünftig zu verlieren. Aber dieser Gegendrang - dieser Wille zur Zerstörung mühselig errichteter sozialer Papierhäuser durch loderndes Feuer, der dann am liebsten kommt, wenn ich die Steifheit meines Rückens vergessen und mich wohlzufühlen begonnen habe, gerade wenn auf höchstem Niveau die rare Kunst der angeregten Konversation gelingt - der beschäftigt mich. Dieser Spiegel, dieser Schatten des Anstands, diese Rache meiner Psyche, werde ich wohl aus meinem Bewusstsein nicht mehr vertreiben können.

Mittwoch, 21. Dezember 2005

zugfenstergedanken.

Man wird sagen können, und dafür stilles Zunicken ernten, dass die Leute sich rasch daran gewöhnten; damals, als das absolute Verbot des Rauchens auf sämtliche Eisenbahnwagen ausgedehnt wurde. Genauso, wie man im Lift schon lange nicht mehr daran dachte, eine Zigarette anzustecken, und man es auch bei einem Bewerbungsgespräch wie selbstverständlich unterliess, genauso dachte man im Zug schon bald nicht mehr ans Rauchen, das nur noch unter freiem Himmel zu sehen war. Immer mehr spürte man, so wird man sagen können, dass Züge kein Ort sind, an dem man rauchen kann, denn man roch nichts mehr, und man sah niemanden rauchen. Und an solchen Orten war man ohnehin im Allgemeinen sehr vorsichtig geworden; man war damals sehr empfindlich für die Blicke anderer. Man wird sagen können, dass man vielleicht seine Gewohnheiten ein wenig verlagerte und bald ganz einfach nicht mehr daran dachte. Schriftsteller und Kolumnisten hätten während einiger Zeit noch nostalgisch den Verlust beklagt, dass man nun nicht mehr den feinen Rauchfäden zusehen könne, die vor dem grossen Fenster emporstiegen, wie sie bei all der vorbeischiessenden Landschaft ihre eigenartige Ruhe bewahrten. Andere wiederum hätten noch eine Zeit lang entnervt davon geschrieben, wie sich nunmehr die klassische Kundschaft der Raucherabteile mit all ihren Besonderheiten über den ganzen Zug gleichmässig verteilte. Doch bald darauf, wird man sagen können, sei es ruhig geworden.

In Österreich stifteten letzthin Raucherabteile in schweizerischen Eurocitywagen Verwirrung, da die Aschenbecher noch nicht verklebt waren, die Piktogrammzigarette an der Wand über der Tür indes schon rot durchgestrichen war. Einer nahm sich sein Recht in seinem Land, rauchte viel und liess die Kopfhörer scheppern; er erzürnte sogleich andere, die im Vertrauen aufs Verbot schräg vor ihm Platz genommen hatten. Dass in einem Provinzbahnhof zwei Polizisten einstiegen, ein paar Pässe kontrollierten und den stetig Rauchenden durchsuchten, im Computer nachschlugen und schliesslich mitnahmen, hatte jedoch sicherlich andere Gründe.

Ich habe heute im Zug während vierzig Minuten ein berühmtes Energiegetränk gerochen, das sich mein Wagennachbar einflösste. Und in Spitälern sind die meisten Mitarbeitenden weiss angezogen; nur beim Putz- und Küchenpersonal gibt es grössere und kleinere farbliche Abweichungen. Selbst der Lift wird im Spital desinfiziert, es riecht da wie an den Händen eines Zahnarztes bei der Arbeit. Im Krankenhaus sind alle auf einer Plastikplakette angeschrieben, welche das moderne Logo des Spitals trägt. Man erfährt ihren Namen und ihre Funktion. Sie lächeln häufig, wenn man durch die Gänge geht; sie erledigen eine Vielzahl anspruchsvoller Berufe und sind sehr freundlich, wenn sie im Zimmer vorbeischauen. Sie haben alle ihre Geräte und Techniken, und sie sagen immer, was sie mit einem machen werden; immer fragen sie, ob sie das dürften. Sie stehen Schlange, treten einer nach dem anderen ins Zimmer und verrichten ihren Dienst am Körper, und manchmal auch an der Seele. Sie erdenken sich sogar, mehr Butter an die Nudeln zu geben für einen Körper, der verhungern will.

Dienstag, 20. Dezember 2005

ohrensessel.

Ich bin in einer Stadt gewesen, die mich am frühen Morgen mit Leuchtreklamen begrüsste, als ich aus dem Bahnhof trat. Die Farblichtbuchstaben waren weit weg. Sie hingen an den Mauern, standen auf den Dächern hinter dem riesigen Platz, den die wuchernden Verkehrswege in Beschlag genommen haben. Die Buchstaben waren riesig und gut lesbar. Sie sagten: ‚Ich bin hier, und ich beleuchte die Wolken am Himmel, denn ich will, dass du mich siehst!’ Haushohe Plakate, die für Ausstellungen altehrwürdiger Bilder warben, wurden vom Boden aus von Scheinwerfern beleuchtet. Und in deren Lichtkegeln tanzten kleine Schneeflocken der Kunst zu Ehren Ballett.

Ich bin in einer Stadt gewesen, die sich immer selbst genügte; sie trug ihren Stolz manchmal zurecht, und manchmal zuunrecht, doch sie liess sich nie beirren. Das machte sie gemütlich, grau, unaufgeregt und selbstsicher. Zugleich sah und spürte ich allerorten in sich selbst versunkene Betriebsamkeit; einen seltsamen, höchst uneitlen Ehrgeiz, Neues zu erforschen und aus Steinbergen Häuser zu bauen. Auch heute soll die Stadt, will man ihr glauben, in den neuesten Feldern des Allerneusten hoffnungsbeladene Saaten platziert haben. Und wie immer schon sucht die Stadt das Schöne und Kunstvolle. Nirgendwo sonst in Europa kriegt man so viel Förderung, bekannte mir einst eine angehende Kunstmanagerin. Überall ist hier Kunst, ein jeder ist ein Künstler.

Und in all dieser Kunst schritt ich nach dem Kinobesuch, der zum erwarteten Magengrubenhieb geworden war, in dunkler Strasse verrussten und verklebten Kellerfenstern entlang; ab und zu konnte ich noch in Quartierkneipen blicken, deren Biermarkenschilder erloschen waren. Der Himmel, der das ewige Stadtlicht reflektierte, war heller als mein Gehsteig. Ich blickte unvermittelt zu meinen Füssen, welche gerade über einen nassen Hochglanzprospekt mit weisser Damenwäsche schritten. Von da an fühlte ich mich alleine.

Weiter vorne blieb ich vor einer mit Bauschranken abgesperrten Häuserlücke stehen. Eine Strassenlampe und der Mond beleuchteten das städtische Nichts, auf dem ein Haus gestanden hatte, und ein neues wieder stehen würde. Braune Erde, ein paar verdorrte Pflanzen und ein Haufen mit Bauschutt. In der Mitte des Hohlraumes stand ein alter Ohrensessel mit schwarzen Schimmelstreifen auf dem Stoffüberzug. Er war genau auf den Betrachter, der von der Strasse her hereinschaut, ausgerichtet. Man konnte erahnen, dass seine Positionierung Absichten verraten sollte. Und ich glaubte, dass er seine Ruhe selbst dann nicht verloren hätte, wenn sämtliche Häuser um uns herum eingestürzt wären.

Diese Stadt schmerzt mich bei Kurzbesuchen; ich habe hier gelebt, doch nun blickt sie mich bloss kühl an wie einen dümmlich herumstaunenden Touristen. Wenn du immer nur so hastig vorbeikommst, sagt sie mir, dann kannst du mich mal, hörst du? So gerne wohnte ich wieder hier, oder da - und könnte wieder in Ruhe den Details folgen, die sich von Besuch zu Besuch in Massen ändern. Der grauglänzende, farbabweisende Anstrich auf dem Brückenbeton, wo ich noch politische Graffiti gelesen hatte. Die neuen Hinweiskleber in der Strassenbahn in fremdartigen Sprachen. Die neuen Kellner in meinem Café, die die früheren nicht einmal mehr kennen. Die Baustelle auf dem grossen Platz, die sich weitergefressen hat und nun plötzlich altbekannte Wege auf Umleitungen drängt. Und so gerne würde ich das Licht der Wintersonne, das in den engen Gassen an allen unerwarteten Orten auftaucht, immer wieder sehen.

Donnerstag, 8. Dezember 2005

ohne bildung.

„Ohne Bildung werde ich Terrorist!“ war auf einem Demonstrationstransparent zu lesen. Offensichtlich ist die Bildung schon jetzt nicht mehr gewährleistet; zumal nicht jene über den Terrorismus.

Mittwoch, 30. November 2005

ausflug.

Krass die Provinz, schrieb einer auf das Häuschen an der Bushaltestelle. Der Schneefall wird immer mehr zum Nieselregen, und der nassschwarze Teer der Strasse schluckt viel von dem wenigen Licht, das die Sonne durch den Nebel drückt. Neben mir eine junge Frau, die ganz verlegen wurde, als ich Sie nach dem nächsten Bus fragte; und die, offensichtlich erfreut darüber, jemand Unbekannten zu sehen, immer wieder ans andere Ende der Wartebank zu mir herüberschielt. Für drei Minuten hat man die überzuckerten Berge hinter der Ebene im violetten Abendlicht sehen können; vorher war die Sonne hinter dem Hochnebel, und danach ist sie hinter den Bergen verschwunden. Ich war hier auf dem Konkursamt, das in einem dreistöckigen Betonwohnblock aus den Siebzigern untergebracht ist und in einer niedrigen Vierzimmerwohnung Platz hat. Ich habe im dunklen Spannteppichbüro Akten durchgesehen und doch nur an die leere Weite der Ebene gedacht, an den Schnee auf den Feldern, an die sorgsam verteilten Obstbäume und Heuscheunen, um die Nebelschwaden sich rankten. Der Konkursamtsleiter, das roch man schon im Korridor, rauchte unentwegt Zigarren; er trug zu alter Jeans einen Pullover mit brusttief geöffnetem Reissverschlusskragen, aus dem seine blanke, gebräunte Haut hervorschien. Er riet mir von allem ab, was zu tun möglich wäre. Er war abgeklärt, vielleicht abgelöscht. Der Bus fährt heran, währenddem die Wälder in der Ferne vom Grünblau ins Schwarz wechseln. Der Busfahrer ist sehr freundlich und mahnt aussteigende Schulkinder an möglicherweise Liegengebliebenes. Die Ränder der Ebene verschwinden in der Nacht, und mein Blick kann sich ob dem aufziehenden Dunkel nur mehr an den Bergkanten festhalten.

Montag, 21. November 2005

fehler.

Mag ich ihn, liebe ich ihn? Fordert er mich heraus, den fachlichen Tyrannenmord zu suchen? Er ist der Boss, und der Fehler liegt bei mir. Er kläfft, und ich sage danke; danke, dass du mir den Kopf nicht abgerissen hast, denn das war wirklich dumm von mir. Ich werde nachsitzen. Ich liebe wohl alle, die es mir schwer machen. Aber hier gibt's keine Reibung, gar nichts, er steht Meilen über mir und hat sein altes, schwaches Fernrohr verärgert zur Seite geworfen. Das ganze Gefälle wird sichtbar, das noch letzte Woche für einen kurzen Moment lang von nicht einmal so gequältem Lachen verhüllt worden war. Das Gefälle hindert mich, mehr als zu danken, es verunmöglicht es, Menschlichkeit trotz meines Fehlers zu fordern. Wir alle sind seine Organe; manche dürfen mitdenken, andere spielen die Hände, und manche putzen seinen Dreck. Er interessiert sich für nichts ausser der Sache, sein krummer Rücken ist übersät mit goldenen Nasen, und er hat in seinem Leben noch nie eine Minute gewartet.

Oh, Vater, warum hast du mich nicht gegen solche Männer rüsten können?

Sonntag, 20. November 2005

lichter.meer.

Es ist Kirmes vor dem Fenster, die letzten Ahornblätter liegen zahlreich auf den Lebkuchenbuden, und die farbigen Drehlichter von umhersausenden Gondeln zeichnen flüchtige Bilder auf meine Zimmerwände. Ich folge den Lichtspuren und bin stets einen Hauch zu spät; sie lassen sich selbst mit den Augen nicht greifen.

Ich spürte gerne Sandkörner auf der Kopfhaut, wenn ich mit aufgefächerten Fingern mein Haar durchkämme; ich leckte gerne windgekühlten Schweiss von den Lippen, röche gerne Schlick und Algen, sähe gerne meine Hände salzgegerbt. Ich möchte so viel kalte Luft um mich herum, wie ich in meinem ganzen Leben nie atmen könnte. Ich kneife die Augen zusammen und wünsche mir, dass die Lichter auf meiner Wand sich beruhigen und zu einem gelben, einförmig wandernden Leuchtturmstrahl vereinigen.

Freitag, 18. November 2005

mund.

Heute ist mein Mund ganz klein geworden. Ich habe beinahe den ganzen Tag mit Männern an einem Tisch gesessen. Ich habe dabei fast nichts gesagt. Immerzu habe ich konzentriert ausgesehen. Ich habe wenig gegessen. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich wurde gedemütigt. Und jetzt sehe ich ihn, den Mund, im Spiegel, nachdem ich die Zähne geputzt habe. Die Lippen sind zusammengerückt und lassen nicht voneinander. Die Mundecken sind taub.

Mittwoch, 16. November 2005

fahnen

Nun kommen mir die Fahnen hoch. Die Fahnen, die ich am letzten Samstag wehen sah. Wer hatte schon wieder gesagt, er wünsche sich einen schweizerischen Fussballsieg, weil dann kein Gehupe anschwelle, wie es von Anhängern der türkischen Mannschaft zu erwarten sei? Nun wird da unten aufs Horn gedrückt, was das Zeug hält, und diese Jubelgeste kann nur von Anhängern der sieghaften Schweizer Spieler herrühren. Wie alt die geäusserte Ansicht über den Charakter des Südländers an und für sich doch ist, man hat hier schon viele hergebrachte Brauchtümer übernommen. Sie fahren im Kreise, schreien zu den Fenstern und Dächern heraus und lassen die rotweissen Fahnen wedeln.

Ein Fahnenreigen war’s damals beim Hinspiel; die Gewerkschafter mit den rotweissschwarzen Fahnen, die ihnen am Morgen aus einer Kiste verteilt worden waren, zwängten sich in die Bahnhofshalle. Ihre Transparente forderten Lohnerhöhungen, und die Fahnenträger waren auf dem Weg nachhause nach einer Demonstration. In die Halle drangen von der anderen Seite, von den Geleisen her, gerade die Fussballfans mit roten Tüchern in allen Formen ein. Sie hatten keine Spruchbänder, nur Halstücher und Fahnen mit weissem Kreuz oder weissem Halbmond und Stern auf rotem Grund, die sie im Fanartikelvertrieb erworben hatten. Friedlich wie die sich am Werktagsmorgen zuwiderlaufenden Pendlerscharen vereinten sich die gewellten Felder der Fahnen und teilten sich bald darauf wieder. Die singenden, skandierenden Stimmen vermischten sich; die konkurrierenden Nationalgesänge wurden bloss ganz kurz von ‚Bella Ciao’ übertönt. Ich erschauerte angenehm ob dem Eindruck, den ein Stück Tuch, wenn es nur genügend multipliziert und hochgehalten wird, erzeugen kann; und als ich die Kreuze und Halbmonde sah, dachte ich daran, wie oft und gern sich dieses Erschauern mit dem Grauen vermählt.

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wer hat das angerichtet?
Die Ursache? Es ist nicht die Gier. Es ist der Glaube...
moccalover - 12. Mai, 22:39
dem gedanken folgen.
sobald ich versuche, alles in mehr oder minder stummes...
moccalover - 19. Nov, 22:36
unternehmensethik.
es ist doch nicht das unternehmen, das ethisch sein...
moccalover - 19. Nov, 22:34
und was das heisse, wenn...
und was das heisse, wenn jemand jemand sei.
moccalover - 19. Nov, 22:33
danke. wenn nur die umsetzung...
danke. wenn nur die umsetzung so einfach wie die erkenntnis...
moccalover - 19. Nov, 22:31
wer das eigentlich sei
wer das eigentlich sei
Reh Volution - 10. Nov, 07:32
da steckt viel wahrheit...
da steckt viel wahrheit drin.
me. (Gast) - 7. Nov, 21:10
danke!
danke!
moccalover - 6. Nov, 00:20
das verbrechen.
Das grösste, das ursprünglichste und verheerendste...
moccalover - 6. Nov, 00:05
nah und fern.
Leo drehte die Bierflasche langsam auf den Kopf, und...
moccalover - 6. Nov, 00:05
selbstbewusst.
selbstbewusstsein heisst nicht, sich überlegen zu fühlen nicht,...
moccalover - 6. Nov, 00:04
die vorstellung und das...
gibt es etwas Schöneres, als etwas unvermittelt zu...
moccalover - 6. Nov, 00:02
um zu
um zu
Reh Volution - 12. Okt, 08:12
um mich herum.
Das Leben. Ein Schlüssel, der mir Haus und Wohnung...
moccalover - 12. Okt, 00:43
Sandwichs.
Du hast jemand, der für dich Sandwichs streicht. Da...
moccalover - 2. Sep, 22:53

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