Donnerstag, 8. Dezember 2005

pfefferminztee.

Von allen Seiten her muss Herr Tobler Blicke in Kauf nehmen; sein quadratischer Tisch steht mitten im Raum. Normalerweise sitzt er am grossen Fenster. Nun war nur dieser Tisch noch ganz frei. Denn – jemanden an den grossen Tischen mit den vielen freien Plätzen anzusprechen, das hat Herr Tobler sich nicht gewagt. Er weiss, dass die Leute, die dort sitzen, sich nicht wirklich kennen, doch zugleich scheint ihm eindeutig, dass sie sich eben doch alle irgendwie bekannt sein müssen. Er hingegen hat keinerlei Anknüpfungspunkte zu bieten.

Er ist gerade mit dem Zug angekommen und hatte eigentlich keine Lust mehr darauf, Leute zu sehen, mochte aber auch nicht heimgehen. Ein altgedienter Erstklasswagen seines Zuges hatte Klebezettel an den Fenstern getragen: „Deklassiert“. Und Herr Tobler war in stiller Vorfreude auf den geschenkten Zusatzgenuss zur Eingangstüre marschiert, doch die Plätze waren alle besetzt gewesen von anderen Zweitklasspassagieren, die ihre Eroberung sichtlich genossen. Herr Tobler ist in einen fast leeren Zweitklasswagen ausgewichen und hat sich während der ganzen Fahrt in gekrümmter Haltung im Sitz versteift.

Er liest schon in der zweiten Zeitung, und ab und zu blickt er kurz zur Kellnerin, ohne den Kopf anzuheben. Sie sieht meist woanders hin, auf die Hebel und Gläser, auf ihr Portemonnaie oder in die Augen der Zahlenden. Doch ein paar Mal schon hat sie kurz zu ihm zurückgeschaut. Nicht freundlich, nicht unfreundlich, nicht einmal gleichgültig und vielleicht ein wenig fragend. Normalerweise hätte Herr Tobler es sich bequem gemacht, hätte sich zurückgelehnt und laut geraschelt beim Blättern der Zeitungsseiten. Er hätte sich heimisch gefühlt und stundenlang auf den Gehsteig hinausgestarrt. Normalerweise hätte er eintretenden Gästen freundlich in die Augen geschaut und ihnen vielleicht gar zugenickt. Nicht so heute, er fühlt sich klein und möchte gehen, doch er hat ja noch nicht einmal seinen Tee bestellen können.

Wenn er einfach aufstände und ginge, ohne konsumiert zu haben, sähe das allzu merkwürdig aus, findet er. So kann er erst recht nicht schon wieder weg; Herr Tobler ist sich sicher, dass längst alle im Raum dem fortdauernden Versäumnis der Kellnerin diskret und gespannt zusehen. Sich bemerkbar zu machen, das kommt ihm heute nicht einmal in den Sinn. Die Kellnerin ist von einer Schönheit, die ihn zuerst erschreckt und dann eingeschüchtert zurücklässt.

Und nun kommt sie auf ihn zu, lächelt verlegen und fragt: „Haben Sie noch gar nichts bestellen können?“ - „Nein, doch ich hätte ganz gerne eine Tasse marokkanischen Pfefferminztee, also ich meine, einen mit marokkanischer Minze, Pfefferminze, drin. Bitte.“ – „Ach, das tut mir leid, ich dachte die ganze Zeit, Sie hätten schon längst erhalten! Entschuldigen Sie vielmals, das ist mir sehr peinlich.“ Sie lächelt lieb und versöhnlich. Normalerweise hätte Herr Tobler das genossen. Doch weil er sie nur ausdruckslos ansieht, sagt sie: „Kommt sofort…“ und geht zur Theke zurück.

Was redest du da, sagt Herr Tobler in Gedanken zu ihr, mir ist es peinlich, mir alleine. Du lächelst dich ohnehin verlegen durch den Tag. Aber ich, ich habe mich gefangennehmen lassen, habe deine kleine Unachtsamkeit bar jeglicher Vernunft als Beweis meiner Nichtigkeit, meiner Ohnmacht und als tiefe Verletzung erlebt. Ich bin nicht böse auf dich, was kannst du schon dafür. Aber lass mich bitte in Ruhe, ich mag dir nicht verzeihen. Das schiene mir ganz und gar lächerlich, ist es doch nicht die mangelhafte Dienstleistung, die mich so schmerzt. Das wäre noch das Geringste. Normalerweise würde ich mit dir scherzen, würde vielleicht über uns lachen, doch nicht heute.

auf der strasse.

Das Geld liegt nicht auf der Strasse, sagt man, doch das Vertrauen der Menschen, das lag gestern da, auf dem staubigen Asphalt. Es war von den grossen Plakatwänden, die all unsere Strassen säumen und auf die es sich vor kurzem noch geflüchtet hatte, heruntergefallen. Wir mussten bloss zugreifen, alles Vertrauen lag vor unseren Füssen. Wir bückten uns, nahmen es auf und drückten es an unsere warme Brust. Es war heilfroh, sich an die Innenseite unserer Mäntel hängen zu können. Wir gingen in ein gemütliches Lokal, bestellten Bier und wollten reden. Es war schön, das Vertrauen bei sich zu spüren. Plötzlich hatten wir die Weltregierung inne, wir konnten über alles gebieten; es ging ganz einfach und rasch, ohne den kleinsten Widerstand – man war offenbar allseits erleichtert über unsere Machtergreifung. Wir gerieten bald in eifrige Hochstimmung, doch weil wir noch zwei, drei Biere tranken, und weil uns dann nicht so recht einfallen wollte, was wir nun tatsächlich tun sollten, haben wir es dann verschlafen. Im Schlaf nahm man uns das Zepter, das sich da noch kaum hatte wärmen können, wieder aus der Hand. Man merkte es am Morgen, überall in den Strassen standen nun Soldaten.

heute?

Wo war ich heute? Hat mich jemand umarmt, oder war das gar nicht heute? Habe ich heute überhaupt einmal an heute gedacht – oder nur an morgen? Bin ich heute meinem Ziel, bin ich irgendeinem Ziel näher gekommen? Habe ich ein Ziel, dem man näher kommen kann? War heute weniger alltäglich als der Alltag? Bin ich jemand anderer, wenn mich die Vertrautheit befremdet? Lerne ich manchmal aus meinen Fehlern? Welche Bilder haben Macht über mich? Wäre ich fähig, ein anderes Leben zu führen?

ohne bildung.

„Ohne Bildung werde ich Terrorist!“ war auf einem Demonstrationstransparent zu lesen. Offensichtlich ist die Bildung schon jetzt nicht mehr gewährleistet; zumal nicht jene über den Terrorismus.

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nuusche

 

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