Mittwoch, 10. August 2005

Herr Tobler fasst Selbstvertrauen

Herr Tobler ist nicht so gross. Er ist blond und eher schmächtig, trägt meist alte Jeans und ein flauschiges Holzfällerhemd in hellen Farben, welches er über den Hosenbund fallen lässt. Er ist siebenunddreissig Jahre alt, und er hat ein liebes Gesicht, das oft schelmisch vor sich hinlächelt.

Herr Tobler hatte sicher Frauengeschichten, das schon, aber das ist lange her, und wenn er sich daran erinnern möchte, dann spürt er das alles hinter sich gelassen wie die Stadt, aus der man gerade kommt, wenn man in der nächsten aus dem Zug steigt.

Später war das nicht mehr möglich, er wurde zu alt, zu eigenartig und zu ängstlich. Und seine sehnsüchtigen Blicke nach ihm sympathischen Frauen in Cafés und auf der Strasse begannen mehr und mehr ihn zu beherrschen und ihn auszuzehren. Er fühlte sich versklavt.

Als er aber einmal dienstags im Zug sass und das Kreuzworträtsel in der Zeitung löste, änderte sich alles. Er hatte schon beim Einsteigen die anziehende junge Frau gesehen, und beim Lesen sah er nun - nicht scharf, aber im Augenwinkel - wie sie aus ihrem Abteil lange zu ihm herübersah. Herr Tobler wurde augenblicklich derart glücklich, dass er keinen einzigen Buchstaben mehr erkennen konnte und die ganze Zeit nur dem Tanzen der Textkästchen vor seinen Augen zusah. Er unterliess es in seinem Taumel auch gänzlich, zu der Frau hinüberzublicken, um vielleicht einen kurzen Augenkontakt geniessen zu können.

Als ihm dies auffiel, war die Frau schon im Begriff, ihre Zeitschrift und das Handy in ihre Tasche zu packen und beim nächsten Halt auszusteigen. Er blickte weiter auf sein Papier, bis sie weit weg war. Er ärgerte sich nicht, er hatte in seiner Euphorie einen kleinen Hauch lang die starke Bewunderung einer fremden Frau gespürt. Und nun war er gerade froh, dass er letztlich gar nicht wusste, ob sie überhaupt ihn oder doch nur die vorbeiziehende Landschaft hinter ihm betrachtet habe. Sonst wäre seine Einbildung womöglich zerrüttet worden.

An jenem warmen Abend ging er noch während Stunden durch die Stadt und lächelte mild. Er strengte sich an, sich als männliche Prinzessin zu sehen, blickte nun keiner Frau mehr nach oder überhaupt länger ins Gesicht, und er lächelte unentwegt milde und zufrieden. Bei Frauen, die ihn schon im Augenwinkel so neugierig machten, dass er sich kaum halten konnte, dachte er trotzig: "Ja, du möchtest wahnsinnig gerne, dass ich dich anschaue. Aber weisst du, ich habe meine eigenen Dinge zu erledigen, und ich kann mich ja nun wirklich nicht jeder Frau widmen, nur weil sie halt eben gerade schön - und schön geformt ist. Sorry." Und er sagte leise zu sich: "Das habe ich doch nicht nötig, dein Dekolletee zu beglotzen, auch wenn du alles darauf anlegst, dass ich es tue. Ich habe einfach keine Zeit für solchen Kinkerlitz."

Er wusste, dass er sich mit alledem - wie damals im Zug - an einen Luftballon hängte, doch das störte ihn nicht sehr. Er war zufrieden, wenn er sich für einen Moment nicht mehr versklavt vorkam, dass er ein Instrument gefunden hatte, das ihn an manchen Tagen vor der Qual der Sehnsucht beschützte.

Es fehlte ihm nichts, an jenem Abend. Und seitdem gelingt es Herrn Tobler recht häufig, sich mit schelmischem Blick Märchen auszudenken.

Vor dem Fernseher

Der Schiedsrichter der Partie Malmö-Thun pfeift einen Freistoss für die Thuner, nachdem deren Torwart - den Ball schon mit der Fanghand berührend - von einem gegnerischen Stürmer aus der Luft angerempelt wurde. Uns fussballerisch nicht so gebildeten Zuschauern erklärt der Kommentator, das sei nun ungeachtet der schwedischen Buhrufe ein klarer Fall für Freistoss - wenn der Torwart den Ball im Fünfmeterraum nur schon berühre, dann sei er physich tabu für den Gegner. - Wir diskutieren den Fall eingehend, weil die Partie ohnehin sehr öde verläuft, und ich komme irgendwann zum Schluss, dass den Stürmer keine Schuld treffe, weil er in die Luft gesprungen sei, bevor der Torwart den Ball berührte, und weil er danach seinen Flug und den daraus resultierenden Rempler nicht mehr aufhalten konnte. -- "Der Mensch hat eh keinen freien Willen", sagt Pi nach einer kurzen Pause.

Singin in the Sun

Unter unserem Bürofenster befindet sich ein wunderbar englisch gemähter und überhaupt gepflegter Rasen, der von einigen Bäumen darauf angenehm beschattet wird. Alles in allem ein willkommenes kleines Stück Raum und Luft in dieser Provinzstadt. Dem Gehsteig entlang, der sich zwischen dem Rasen und der Strasse befindet, stehen drei Bänke, auf denen bei schönem Wetter Opas ausruhen, Teenager ihre Sandwiches und Salate verschlingen und am Nachmittag Mamas tratschen, deren Kinder in den Wägen dämmern oder auf dem Gras herumrennen.

Heute sitzt, auf der Bank ganz rechts, und nicht zum ersten Mal, der Mann im blauen T-Shirt da. Das letzte Mal war er ungefähr während drei Stunden dort. Er sitzt da in seinem blauen T-Shirt, hört über Kopfhörer Musik und singt diese laut und falsch mit. Seinen Kopf drückt er dabei hart und schräg in den Nacken, und ab und zu zuckt er im Takt. Sein Gesang tönt erbärmlich und oft nach Wehklage, aber dennoch wirkt der Mann höchst zufrieden. Die Menschen auf dem Gehsteig gehen vorbei, schmunzeln, ärgern sich, schütteln den Kopf oder schauen peinlich angestrengt gerade nicht hin. Es macht nicht den Eindruck, dass der Mann im blauen T-Shirt sie überhaupt wahrnimmt in seinem Notenrausch.

Ich mag Menschen, die einen Scheiss um Konventionen geben - zumindest, wenn sie sich in diesem Sinne um Normen foutieren.

Glauben, Nutzen, Denken

Am Glauben und der Religion ist nicht zentral, was sie beinhalten, sondern was sie den Menschen ermöglichen, die daran glauben.

Etwas davon ist die Freiheit von jeglichem Begründungszwang. Je stärker bzw. universeller man glaubt, desto schneller füllen sich die Lücken, die einem beim Denken auffallen, die einen stören, verunsichern und ängstigen. Die Lücken, die einen verzweifeln lassen. Die einen aber auch antreiben und motivieren, weiterzugehen und mehr wissen und erfahren, erleben und erfühlen zu wollen.

Etwas Weiteres ist die Ordnung von Gut und Böse. Diese Ordnung ist ja eine rein Menschliche, und ausserhalb von unserer Wahrnehmung nicht existent (natürlich haben Tiere und Pflanzen auch Codes mit Differenzen, aber "gut" und "böse" im menschlichen Sinne ist das nicht). So, wie sie der Mensch in die Welt hineinträgt, kann diese Ordnung der Welt - wie jede andere menschliche Idee - nur unzulänglich entsprechen und sie für uns hilfreich erklären. Sie tut einen gar nicht so schlechten Dienst, aber sie ist nicht genau und kann nicht alle Probleme sinnvoll lösen. Wo die Frage nach Gut und Böse zu schwierige Probleme aufwirft, hilft der Rückgriff auf den Glauben und auf schematische Erklärungen bzw. Lösungen.

Wer glaubt, sieht einen Sinn, und glaubt nicht mehr, dass dieses Stadium zu erreichen dem Menschen unmöglich sei, dass dies schon allein durch den Begriff des Sinnes ausgeschlossen werde. Er kann sich endlich von der quälenden Vermutung lösen, dass die Sinnsuche vielleicht einfach eine paradoxale Schaltung im Gehirn ist, die dem Bewusstsein innewohnt und die den Menschen seit jeher zum Menschen machte - die man aber vielleicht nicht ändern kann.

Das alles kann sehr gute und sehr schlechte Folgen haben; Ignoranz und Intoleranz, Barmherzigkeit, gelebte Nächstenliebe und soziales Engagement.

Ob wir aber einer Religion im engeren Sinne und mit all ihren Engstirnigkeiten bedürfen, oder ob zum Beispiel für mich eine sachliche Ethik ausreicht, damit ich mich selber so gut verankern kann, um Gut und Böse einzuordnen und Maximen willkürlich zu setzen, so dass ich den Nutzen des Glaubens für das Gute auslösen kann, das frage ich mich.



P.S. Inspirieren kann ich mich immer hier. Die Leute vom Intelligent Design werfen der Wissenschaft vor, was gerade deren Kern ausmacht: Dass sie davon ausgeht, dass wir eigentlich nichts wissen und grundsätzlich alles möglich wäre. Ihre Erklärungen sind immer nur Zwischenergebnisse auf der Suche nach der genaueren Differenzierung und – gegebenenfalls – nach der Widerlegung alter Erklärungen. Genau dies, dass die (seriöse) Wissenschaft natürlich nie die Weltformel für alle Fragen finden wird, werfen die Evolutionsskeptiker aus dem evangelikalen Lager der Wissenschaft im Kern vor. Denn diese grundsätzliche Ratlosigkeit der Wissenschaft vor der Welt und die durch sie kontinuierlich erhöhte Komplexität der Welt, so die Vertreter des Intelligent Design, beweise ja gerade, dass eben doch ein intelligentes Wesen (das ist ja eigentlich schon fast Blasphemie!) die ganze Sache organisiere. Weil der Zufall als Regent von Erdentstehung und Evolution ein sehr bibelgetreues und in einem gewissen Sinne paternalistisches Glaubensverständnis – wie jenes der Evangelikalen – natürlich stört, muss die Evolutionstheorie weg. Intelligent Design aber führt letztlich zur Aufgabe jeglicher wissenschaftlicher Tätigkeit. Ein Wissenschaftler folgt wohl Schulen, Dogmen und Paradigmen, aber er strengt sich im besten Fall immer dazu an, auch die geliebtesten Hypothesen wieder zu verwerfen, wenn es denn sein muss. Ein Anhänger des Intelligent Design hingegen setzt sich verschiedene – und, je nach seiner Bibeltreue verschiedenartig konkrete – Axiome in die Welt, die er um keinen Preis loslassen will, und deren Widerlegung er in jeder Versuchsanordnung a priori verhindern wird. Es ist unfair und unfruchtbar, der Wissenschaft ihr eigenes Wesen vorzuwerfen, um so die Suprematie der Religion beweisen zu wollen.


P.S.P.S. Da können Sie sich noch so aalen, Herr West , ID ist keine Wissenschaft, weil diese Idee die Diskussion um die Frage nach Letztbegründungen abrupt abschneidet, anstatt sie prinzipiell offenzulassen. ID erklärt natürlich nicht, wo die Intelligenz herkommt, die das alles erschaffen haben soll. Und weil diese Frage von ID gar nicht geklärt oder wiederum in Frage gestellt werden soll, ist ID keine Wissenschaft, sondern Religion in der Wissenschaft Gewand.

Edit: Weiterführendes gibt's hier.

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